Diabetes & Essverhalten

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Diabetes & Essverhalten

Haben Diabetiker ein anderes Verhältnis zu Essen als Nicht-Diabetiker? Im Alter von einem Jahr wurde bei mir Typ-1-Diabetes diagnostiziert. Damals galt es mehr als heute, strikte Essenszeiten und -mengen einzuhalten. Insulinpumpen waren Zukunftsfantasien. Dunkel erinnere ich mich, dass ich, wenn ich zwischen den Mahlzeiten Hunger hatte, Quark mit Süßstoff zu essen bekam. Seit jeher beschäftigt mich die Frage, ob Menschen mit Diabetes mellitus ein schwierigeres Verhältnis zu Essen haben als Nicht-Diabetiker, wenn nicht sogar gestörtes.

Karge Studienlandschaft zu Diabetes & Essverhalten

Bei der Recherche zu einer Antwort auf diese Frage stieß ich auf Hilde Bruch. Sie erwähnte 1973 erstmals das gemeinsame Auftreten von Diabetes mellitus und Magersucht. Eine 19-jährige Patientin aß absichtlich nur eine Mahlzeit am Tag und hielt die Insulinmenge gering, um „überschüssige“ Kalorien über die Niere wieder zu verlieren.* Zehn Jahre später berichtete Hillard über ketoacidotische Stoffwechselentgleisungen, die bei einer bulimischen Typ-1-Diabetikerin festgestellt wurden.**

Seit 1985 häufen sich die Studien über das gemeinsame Auftreten von Diabetes mellitus und Essstörungen (Magersucht, Bulimie, binge eating disorder). Herpertz spricht von einer überzufälligen Koinzidenz beim Auftreten von Anorexie und Bulimie bei Diabetes mellitus (mehr als 9%). Insulinpflichtige Frauen waren am meisten betroffen.*** Herpertz berichtet weiter, dass in den meisten Forschungsfällen der Feststellung einer Essstörung die Manifestation des Diabetes um einige Jahre vorausgeht. Die Risiken sind eine schlechte Blutzuckereinstellung und folglich die Entwicklung von irreversiblen diabetischen Spätschäden.

In einer 1995 veröffentlichten Studie versuchte Herpertz nachzuweisen, dass das „gezügelte Essverhalten“, welches Typ-1-Diabetes mit sich bringt und/oder ein „problematisches Bewältigungsverhalten“ der chronischen Krankheit der Grund sein kann für eine spätere bulimische Erkrankung. In einer 2006 veröffentlichten Studie zum Thema Diabetes und Essstörung wurde lediglich herausgefunden, dass die Kombination von Diabetes und Essstörungen die Rate an diabetologischen Folgeerkrankungen erhöht. Nicht erörtert wurde jedoch der Diabetes als Ursache einer Essstörung.****

Lebenslange Weight-Watchers-Mitgliedschaft und Punkte zählen: Ist das ein normales Essverhalten?

Was mich irritiert: In allen Studien wird stets von einer Minderheit der an einer Essstörung erkrankten Diabetespatienten gesprochen. Als Essstörung werden allerdings nur Magersucht, Bulimie und binge eating disorder (Fresssucht) deklariert.

Doch was ist mit Menschen, die ihr tägliches Ess- und Sport-Verhalten minutiös dokumentieren? Was ist mit denjenigen, die ihr Leben lang Punkte oder Kalorien zählen, um ja nicht an Gewicht zuzunehmen? Ist das normal? Ist das keine Essstörung?


* H. Bruch: Eating disorders: obesity, anorexia, and the person within. Basic Books, New York, 1973

** J. R. Hillard, M. C. Lobo, R. P. Keeling: Bulimia and diabetes: A potentially life-threatening combination. Psychosomatics 24 (3), 292-295 (1985)

*** S. Herpertz, B. von Blume, W. Senf: Eßstörungen und Diabetes mellitus. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse (1995)

**** U. Bahrke, U. Bandemer-Greulich, E. Fikentscher, D. Rübler, M. Nauck, Ch. Nagel-Reuper, T. Konzag: Eating Disturbances in Diabetics: Development of a Screening Questionnaire; Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 2006


Online Umfrage: Diabetes und Essverhalten

In einer anonymen Online Umfrage habe ich versucht, mehr zu dem Thema herauszufinden:

In 7 Tagen haben 98 Typ-1- und Typ-2-Diabetiker an der Umfrage teilgenommen. Ein unglaublich tolles Ergebnis – vielen Dank!

Dies lässt auf ein großes Interesse am Thema Diabetes & Essverhalten schließen.

Auswertung

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Die Mehrzahl der Umfrageteilnehmer ist weiblich, an Typ-1-Diabetes erkrankt und über 36 Jahre alt. Bei den meisten der Teilnehmer wurde der Diabetes vor über 15 Jahren diagnostiziert.

Nun zu den wirklich interessanten Fragen: Der Großteil der Teilnehmer (54 Personen) hat ein normales Körpergewicht (BMI 18,5-25 kg/m²). 41 Personen liegen über dem Normbereich und sind übergewichtig.

Jedoch sind nur 17 Personen mit ihrem Körpergewicht zufrieden. 77 Personen würden gerne Gewicht verlieren.

Auf die Frage, ob, und wenn ja, wie viele Diäten/Ernährungsumstellungen die Befragten bereits ausprobiert hätten, gaben sie Folgendes an:

30 Personen haben noch nie eine Diät gemacht. Im Umkehrschluss heißt das, dass 70% der Befragten mindestens 1 Diät ausprobiert haben. 13 Personen haben sogar mehr als 5 Diäten hinter sich.

Nur bei 9 Personen war die Diät dauerhaft erfolgreich. 59 der Personen, die mind. eine Diät gemacht haben, sind wieder beim Ausgangsgewicht, müssen ihr Gewicht kontrollieren, um es halten zu können, oder haben sogar zugenommen.

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Bei 87% war(en) die Diät(en) also nicht erfolgreich. 29% haben nach der Diät sogar zugenommen.

Bei der Frage nach dem Essverhalten gaben 31 der befragten Diabetiker an, an einer Essstörung zu leiden. Eine, wie ich finde, beachtenswerte Zahl. Ein Teil gab sogar die Erkrankung an mehreren Essstörungen an.

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68% derjenigen, die an einer Essstörung erkrankt sind bzw. waren, gaben an, Hilfe in Anspruch genommen zu haben (z.B. Familie, Freunde, Partner, Selbsthilfegruppe, Psychologe/Coach). Auch hier gab es Mehrfachnennungen.

Auf die Frage, ob die Essstörung geheilt wurde, gaben lediglich 2 Personen an, dass diese vollständig geheilt sei. 6 Personen gaben an, dass die Essstörung teilweise geheilt sei. 23 Personen gaben an, dass sie noch immer an einer Essstörung leiden.

Das sind 74% der an einer Essstörung erkrankten befragten Diabetiker und 24% der Umfrageteilnehmer.

Fazit

Auch wenn die Umfrage keine medizinische Studie ist, ergeben die Ergebnisse ein bemerkenswertes Bild.

Zum einen kann man aus der Umfrage schließen, dass Diäten in den allermeisten Fällen nicht funktionieren. Dennoch gibt es immer wieder neue, vielversprechende Konzepte, um „Diätjünger“ zu ködern.

Der Zusammenhang von Essstörungen und Diabetes mellitus kann in der Umfrage (medizinisch) nicht bewiesen werden. Trotzdem kann aus den Zahlen geschlossen werden, dass das Ausmaß dieses Zusammenhangs im medizinischen und Forschungsbereich noch nicht vollständig erkannt wurde.

Ich persönlich hoffe, dass durch die steigende Zahl der Diabeteserkrankungen auch das Interesse am Zusammenhang zwischen Diabetes mellitus und Essverhalten/-störungen zunimmt. Dass es mehr Studien zu dieser Thematik gibt, Betroffene sich an die Öffentlichkeit wagen und Hilfe erwarten können.

Hinweis: Dies ist keine medizinische Studie, sondern ein Online Umfragebogen mit 10 Fragen (SurveyMonkey). Teilweise wurden von den Umfrageteilnehmern Mehrfachnennungen angegeben (s. Vermerke). An der Umfrage haben 98 Typ-1- und Typ-2-Diabetiker teilgenommen. Relevante Ergebnisse wurden grafisch exemplarisch dargestellt.

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