“Diabetes wäre der letzte Hinderungsgrund!”

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“Diabetes wäre der letzte Hinderungsgrund!”

Karla (17) ist vor einigen Monaten aufgebrochen zu einem Austauschjahr nach Brasilien. Um Weihnachten herum hat sie uns ihren sehr optimistischen Zwischenbericht übermittelt. Natürlich hatten ihre Eltern große Bedenken, doch Karla kommt sehr gut zurecht mit dem Diabetes, der sie seit ihrem 9. Lebensjahr begleitet.

HbA1c im grünen Bereich

Seit ich neun bin, habe ich Typ-1-Diabetes. Im Spätsommer 2012 habe ich mich in das Abenteuer meines Lebens gestürzt: ein Jahr Brasilien! Zwei Jahre trug ich mich mit dem Gedanken. Klar hatten meine Eltern große Zweifel, doch seit ich damals im Krankenhaus gezeigt bekam, wie man mit dem Diabetes lebt, bin ich recht selbständig; nach einem halben Jahr erhielt ich schon eine Insulinpumpe: von Medtronic Minimed. Mein HbA1c ist immer im grünen Bereich.

Zuerst fragte ich mich: Welches Land und welche Organisation? Etwas Außergewöhnliches sollte es sein – schließlich wurde es Brasilien: merkwürdig, vielschichtig, exotisch. Ein Land, wo es etwas zu entdecken und zu lernen gibt! Aber auch ein Land mit guter medizinischer Versorgung, falls ich Hilfe brauchen würde.

„Diabetes? Keinn Problem!“

Wer organisiert solche Austauschjahre? Fündig wurde ich schon im Internet – aber oft fand ich unter “Voraussetzungen für die Teilnahme”: keine chronische Krankheit! Ich war zwischendurch richtig resigniert.

Bis wir auf einer Infoveranstaltung der JUBI (Jugendbildungsmesse) auf eine Organisation trafen, die sagte: “Diabetes? Warum sollte das ein Problem sein? Vor einiger Zeit hatten wir sogar einen Jungen, der während seines Aufenthaltes in Neuseeland Diabetes bekommen und diesen nicht abgebrochen hat.” Das machte Mut.

Pumpe für Brasilien das Richtige?

Zweifel kamen dann: Ist die Insulinpumpe für Brasilien das Richtige? Ich würde am Strand sein, ich wollte Kleider tragen – und kann ich die erforderlichen Katheter etc. überhaupt mitnehmen? Aber: Warum sollte ich wiederum auf Pen umstellen?

Eltern und Arzt überließen mir die Entscheidung: Und so stellte ich 4 Wochen vor dem Abflug auf Pen um. Die Rezepte für die Jahresmengen, die ich schon vor einiger Zeit mit meinem Arzt berechnet hatte, waren schon ausgestellt, dann: Im letzten Moment besann ich mich … zurück zur Pumpentherapie. Zum Glück! Mit ihr fühle ich mich einfach sicherer, meine Werte sind besser und ich kann spontaner sein!

Pen für die Strandtage

Für Tage am Strand nahm ich trotzdem etwas Insulin für den Pen mit. Meine Mutter hatte mir eine Tasche für die Pumpe in eine Unterhose genäht, damit ich Kleider tragen kann (Pumpengürtel kann ich nicht ausstehen).

Nach der Vorbereitung: Los geht’s!

Schließlich, im Juli, ging es los. Ich hatte zwei riesige Koffer, wovon allein einer mit Kathetern, Reservoiren usw. ausgefüllt war. Die Medikamente hatte ich mit meiner Kleidung auf zwei Koffer verteilt – falls einer verlorengehen sollte. Mein Handgepäck war eine riesige Kühlbox mit Insulin sowie die Teststreifen und eine gerade noch rechtzeitig beantragte Ersatzpumpe.

Während des langen Fluges von Frankfurt nach Sao Paulo (12 Stunden) hatte ich aufgrund der Zeitumstellung die Basalrate einheitlich auf die niedrigste Dosis gestellt und regelmäßig Blutzucker gemessen und eventuell korrigiert. Somit konnte ich die Uhrzeit nach meiner Ankunft einfach umstellen, ohne dass sich die Basalrate überschnitt und ich eine Hypoglykämie bekam.

Ankunft Sicherheitskontrolle in Sao Paulo: Meine Bescheinigung für Diabetes-Utensilien vom Arzt reichte ich gleich dem Flughafenpersonal – in Englisch! Ich jedoch sprach damals noch kein Wort Portugiesisch – und die Beamten konnten kein wirkliches Englisch. Nach etwas Hin und Her und nach 15 Minuten war dann doch alles in Ordnung mit meinem Gepäck.

Erschöpft beim Gastgeber

Nach der langen Reise kam ich erschöpft bei meiner netten Gastfamilie an, die mich am Flughafen begrüßte und sofort mit einem portugiesischen Wortschwall überfiel. Die nächsten Tage bestanden aus Zeichensprache, ein paar Brocken Englisch meiner Gastschwester – und für wichtige Dinge wurde der Googleübersetzer benutzt!

Aber durch diesen Sturz ins kalte Wasser bekam ich schnell einen Grundwortschatz und spreche inzwischen so gut, dass ich mich problemlos unterhalten kann.

Sao Luis: Viel Strand und Wind

Wir wohnen in Sao Luis, einer Stadt mit ca. 1 Mio. Einwohnern im Nordosten Brasiliens. Sie setzt sich wie ganz Brasilien aus starken Gegensätzen zwischen Arm und Reich zusammen – aber inzwischen entsteht eine wachsende Mittelschicht, zu der auch meine Familie gehört. Es gibt ein schönes Stadtzentrum, und Sao Luis liegt auf einer Halbinsel: Das heißt, es gibt viel Strand und Wind.

Jedoch gehen die Brasilianer fast nie schwimmen, da das Wasser angeblich verschmutzt ist und sie viel arbeiten! Auch ich bin selten am Strand und wieder einmal froh, die Pumpe mitgenommen zu haben: Am Anfang war mein Blutzucker öfter durcheinander und meist eher zu hoch, da ich Angst hatte zu unterzuckern. Da waren die große Umstellung, die ständige Hitze – wobei ich bis heute nicht das Gefühl habe, dass sie meinen Blutzucker beeinflusst.

Nur: Mein Leben ist hier sehr aktiv geworden! Anfangs gab es Ausflüge, Portugiesisch-Unterricht … und alles war neu und spannend. Abends fiel ich meist todmüde ins Bett.

Ruhige Zeit: War’s das?

Dann kam eine ruhigere Zeit, die Schule fing an und ich war eine der wenigen Austauschschüler, die Nachmittagsunterricht hatten. Ich schlief lange, verließ gegen 12.30 Uhr das Haus, um zur Schule zu gehen, und war gegen 19 bis 20 Uhr wieder zu Hause, nachdem ich zuvor jeweils eine Stunde im überfüllten Bus im Feierabendverkehr gestanden hatte.

Mir wurde langweilig. Sollte das mein Jahr in Brasilien sein? Nach drei Wochen konnte ich in den Vormittagsunterricht wechseln – und mit einem Schlag wurde mein Austauschjahr zu dem, was ich mir erhofft hatte.

Freunde und Freude …

Ich fand sehr gute Freunde, mit denen ich jeden Tag mehr am Herumalbern war, weil mein Portugiesisch immer besser wurde, und mit denen ich mich auch außerhalb der Schule treffe. Dann begann ich mit Forro, einem brasilianischen Tanz! Tanzen war auch schon in Deutschland mein größtes Hobby. Außerdem begann ich, in der Schule Volleyball zu spielen, um immer auf Achse zu sein.

… und nichts verpassen!

Ich wollte und will immer noch nichts verpassen, auch wenn ich inzwischen froh bin, ab und zu einen ruhigen Tag zu verbringen – ohne irgendeine Aktivität. Am Anfang bekam ich, wenn ich länger nichts zu tun hatte, etwas Heimweh. Jetzt habe ich hier mein zweites Leben, neue Freunde, eine zweite Familie: ja, einen neuen Alltag gefunden! Der ist aber kein bisschen langweilig, denn ich habe hier immer noch sehr viel zu entdecken und zu lernen.

Trotz viel Aktivität fast keine Unterzuckerungen

Man könnte denken, bei diesem aktiven Leben wäre ich dauernd unterzuckert – aber eher das Gegenteil ist der Fall! Denn das Essen ist extrem anders: Es gibt zum einen kein Schwarzbrot, ich musste mich also auf Brötchen umstellen. Zum Mittag gibt es jeden Tag Reis, Fejão (eine Art Bohneneintopf) und Fleisch. Meist gibt es auch Nudeln, eine Art Auflauf oder etwas anderes dazu. Gerichte, die man noch nie probiert hat und unbedingt kennenlernen will!

Deswegen sagte ich auch nie nein – besonders bei exotischen Früchten wie Jaka oder Papaya und den vielen Süßigkeiten wie Brigadeiros oder Keksen habe ich dieses Problem: Ich habe es geschafft, in 5 Monaten über zwei Kilo zuzunehmen – und das, obwohl ich, die weltbekannte Naschkatze, vorher nie zugenommen hatte!

Brasilianischen Zuckerbomben falsch eingeschätzt

So kam es, dass mein Blutzucker ab und zu unkontrolliert in die Höhe schoss, weil ich diese brasilianischen Zuckerbomben einfach falsch einschätzte. Ich machte mir aber nicht zu große Sorgen, weil meine Blutzuckerwerte in Deutschland immer ganz gut waren – und ich mein Jahr hier genießen will.

Inzwischen sind die Werte auch schon wieder viel besser! Um einen Überblick für später zu haben, nutze ich das Blutzuckermessgerät Contour USB von Bayer, mit dem ich die Werte auf dem Computer abspeichern kann.

12 Tage on tour

Um Brasilien besser kennenzulernen, bietet meine Organisation verschiedene Reisen an. Im Dezember stand ein Trip mit einem Kleinbus durch den Nordosten des Landes an. Es ging 12 Tage lang durch drei verschiedene Bundesstaaten Brasiliens. Von Tutoia inklusive einer Bootstour mit zu bestaunenden Schiffswracks ging es über Parnaiba, Luis Correia, Jericoacoara – bis schließlich nach Fortaleza. Wir schauten uns die Städte an – und verbrachten viel Zeit am Strand!

Dem Paradies sehr nah

Wir kamen an Orte, die dem Paradies wirklich ziemlich nahe kommen. Eine der Stationen war wie gesagt Fortaleza, das brasilianische Shoppingparadies: alles supergünstig, hieß es! Und so war’s auch, wenn man wusste, wo!

Zum Abschluss besuchten wir Mercado Central: ein riesiges Gebäude mit vielen Stockwerken, wo ebenfalls alles verkauft wird, was das Herz begehrt. Ich kaufte mir wunderschöne Kleidungstücke und war bei den günstigen Preisen regelrecht im Kaufrausch.

Shoppen: Achtung, Hypo!

Da ich schon von mir weiß, dass ich beim Shoppen immer unterzuckere, habe ich die Basalrate gleich auf 80 Prozent gestellt. Trotzdem blieb eine Hypoglykämie natürlich nicht aus; doch wie auch in Deutschland habe ich auch hier immer irgendetwas Süßes in meinen Taschen.

Die Pumpe holte ich immer nur zwischendurch heraus, um ein wenig Insulin abzugeben. Das zeigte sich für mich, wenn wir extrem viel am Strand waren, für die gesamte Reise als beste Version. Einzige Schwierigkeit: Manchmal hatte ich Probleme, den Schlauch wieder am Katheter zu befestigen – denn überall war Sand! Diesen entfernen, etwas Wasser über den Katheter geschüttet – das war’s dann jeweils.

Die Insulinpumpe hatte ich immer einfach in meiner Tasche, wobei ich darauf achtete, dass diese immer im Schatten lag. Für das Insulin zum Auffüllen nutzte ich die Kühltasche von Frio. Ich dachte, ich müsste sie zwischendurch immer mal wieder anfeuchten, aber sie hielt die ganzen 12 Tage. Nachts packte ich das Insulin in den Kühlschrank vom Hotelzimmer. Dann ging es wieder zurück nach Sao Luis.

Freundlich zu Gringos

Aber egal, wo man ist: Die Brasilianer sind meist gastfreundlich und fröhlich und freuen sich, mit Gringos (Ausländern) zu reden – besonders wenn diese noch ein paar Brocken Portugiesisch sprechen. Deshalb wählte ich Brasilien, und ich bereue es kein bisschen! Ich möchte allen, die überlegen, ein Jahr ins Ausland zu gehen, Mut machen, diesen Schritt zu wagen.

Und ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass der Diabetes der letzte Hinderungsgrund wäre, sich auf so ein Abenteuer einzulassen!


von Karla

Kontakt:
karlasaoluis@gmail.com

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2013; 62 (3) Seite 50-53

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