Die tägliche Angst vor der Haarbürste

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Die tägliche Angst vor der Haarbürste

Viele Patientinnen, die zu unserem Autor Prof. Reinhard Zick in die Haarsprechstunde kommen, beginnen das Gespräch so: „Ich traue mich schon nicht mehr, morgens die Haare zu bürsten, weil mir so viele Haare dabei ausfallen, dass ich befürchte, in absehbarer Zeit keine Haare mehr zu haben.“ Das zeigt deutlich, welche Bedeutung dieses tägliche Aus der Haare für die Frauen hat und welche Haar-Odyssee sie bereits durchlaufen haben. Prof. Zick zeigt Auswege.

In der Regel sind die Diabetikerinnen unter meinen Patienten verdutzt, wenn ich von meiner Seite aus zunächst frage, ob sie vor 2 bis 4 Monaten gehäuft schwere Unterzuckerungen hatten oder ob es bei ihnen in diesem Zeitraum zu einer ketoazidotischen Stoffwechselentgleisung gekommen war.

Ein plötzliches „Shedding“ oder ein akutes Ausfallen der Kopfhaare kann beobachtet werden, wenn die Wachstumsphase der Haare verkürzt ist. Durch die kürzere Wachstumsphase verlieren viele Kopfhaare ihre Wachstumsindividualität und marschieren buchstäblich im Gleichschritt bis hin zum Haarausfall. Und plötzlich steigert sich der tägliche normale Haarausfall von 100 auf 200 bis 400 Haare pro Tag.

Hypoglykämie, Ketoazidose und Fasten ­bedeuten Stress

Auslöser können starke psychische Belastungen oder ganz allgemein akute Stresssituationen sein. Und Hypoglykämien und ketoazidotische Stoffwechselentgleisungen werden von der Haarwurzel als Stress verarbeitet. In diesem Zusammenhang weise ich aber auch immer bei übergewichtigen Diabetikerinnen darauf hin, dass restriktive Diätregime wie Fasten oder zu einseitige Ernährungsgewohnheiten von den Haarwurzeln mit einem vermehrten akuten Haarausfall beantwortet werden können.

Gleiches gilt für zu heftiges Sonnenbaden des Kopfes, z. B. in der jetzt beginnenden Sommerzeit. Der vermehrte akute Haarausfall in der Weihnachtszeit hat in der Regel nichts mit dem Einkaufsstress für die Weihnachtsgeschenke zu tun, sondern wurde im Sommer durch falsches Kopf-Sonnenbaden auf Sylt, in Mallorca oder auch Griechenland ausgelöst.

Immer die gleiche Frage: Und jetzt?

Nach diesen Erläuterungen kommt immer die gleiche Frage: Was soll ich jetzt gegen diesen diffusen akuten Haarausfall tun? Alle bisher mir empfohlenen Präparate haben doch nicht geholfen! Meine Antwort ist immer die gleiche: Nichts! Ihre wunderbaren Haarwurzeln sind alle noch vorhanden und intakt und werden Sie wieder mit einer vollen Haarpracht schmücken, wenn Sie versuchen, die oben angegebenen Gründe in Zukunft in Zusammenarbeit mit Ihrem Hausarzt oder Diabetologen zu vermeiden.

Ist bei Diabetikerinnen die Stoffwechseleinstellung dauerhaft unbefriedigend, kann sich die Wachstumsphase der Kopfhaare anhaltend auf 2 bis 3 Jahre verkürzen und sich ein vermehrter chronischer Haarausfall entwickeln. Verstärkt wird diese chronische Form des Haar­ausfalls noch, wenn die Patientinnen zusätzlich rauchen.

Der chronische Haarverlust liegt in der Regel deutlich über 200 Haaren pro Tag und führt zu einer diffusen Ausdünnung des Haarkleides und kann in den Wechseljahren durch Ausfall der Östrogen­pro­duk­tion bei Weiterbestehen der Testosteronsynthese in den Eierstöcken erst richtig sichtbar oder auch dramatisch verstärkt werden.

Ich empfehle den Frauen in einer solchen Situation, mit ihrem Diabetologen zusammen eine Verbesserung des Stoffwechsels herbeizuführen und ihre Kopfhaut mit 2 % Minoxidil einzureiben. Auf die Wirkung dieses Präparates werde ich im Folgeartikel noch näher eingehen. Allen Raucherinnen legen wir einen Nikotinverzicht ans Herz.

Medikamente checken

Prinzipiell kann auch jedes Medikament bei Dauereinnahme durch eine Verkürzung der Wachstums- oder Ruhephase zu einem vermehrten chronischen Haarausfall führen. Spitzenreiter ist in diesem Zusammenhang aber das Schilddrüsenhormon L-Thyroxin, das in Deutschland von allen verordneten Medikamenten an zweiter Stelle liegt und bei vielen Patientinnen über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte täglich eingenommen wird.

Dazu einige Erläuterungen: Die Produktion unserer Schilddrüsenhormone wird von unserer Hirnanhangdrüse durch die Abgabe des Hormons TSH in die Blutbahn gesteuert. Sinkt die Produktion von L-Thyroxin in der Schilddrüse, dann antwortet die Hirnanhangdrüse mit einer vermehrten Produktion von TSH und umgekehrt.

Man spricht deshalb auch von einem negativ gekoppelten Regelkreis: Hohe TSH-Werte im Blut deuten auf eine zu geringe und niedrige TSH-Blutwerte auf eine zu große Produktion der Schilddrü­senhormone hin. Deshalb orientiert man sich bei der täglichen L-Thyroxin-Dosis am TSH-Spiegel; dieser sollte weder zu hoch noch zu niedrig, sondern im Normalbereich liegen.

Chemotherapie: Von Unglück und Glück


Unglück
Einen Sonderfall stellen Diabetikerinnen dar, die mich gelegentlich wegen ihres akuten Haarausfalls nach einer Chemotherapie aufsuchen, am häufigsten im Zusammenhang mit einer Brustkrebserkrankung. Anhand obiger „haarigen Grundlagen“ kann ich ihnen dann erläutern, dass durch die Chemotherapie alle Haare in der Wachstumsphase so stark geschädigt werden, dass sie abbrechen und für den plötzlichen Haarausfall verantwortlich sind.

Und ich erkläre ihnen, dass etwa 4 Wochen nach Beginn der Chemotherapie nur noch Haare auf ihrem Kopf sind, die sich in der Ruhephase befinden – und diese leider auch nach 2 bis 4 Monaten ausfallen werden.

Glück
Nach einigen Wochen werden sich die Haarfollikel aber wieder erholen und buchstäblich die Kopfhaare in alter Pracht und Dichte wachsen lassen. In seltenen Fällen kann es aber zu Überraschungen kommen, so dass die Haare entweder ihre Farbe wechseln oder aus glatten wellige Haare oder auch umgekehrt werden. Was im Einzelfall nicht unbedingt nachteilig sein muss, oder?

Und was passiert, wenn diese Normalwerte sich im Alter ändern und ansteigen? Dann sind die vormals normalen TSH-Werte zu niedrig, und es besteht eine Situation wie bei einer Überfunktion der Schilddrüse – nur dass diese Überfunktion durch die Gabe von L-Thyroxin ausgelöst wurde. Und bei einer Überfunktion der Schilddrüse kommt es zu einer dauerhaften Verkürzung der Wachstums- und Ruhephase der Haare und in der Folge zu einem chronischen Verlust der Kopfhaare.

Jetzt verstehen Sie auch, warum viele Diabetikerinnen, die wegen einer entzündeten Schilddrüse („Hashimoto-Thyreoiditis“) langjährig mit L-Thyroxin behandelt werden, in meiner Sprechstunde auf Nachfrage angeben, dass ihnen seit Langem schon vermehrt die Haare ausfallen. Und was sollten Sie jetzt tun, wenn ein solcher chronischer Haarausfall unter der Einnahme von L-Thyroxin vorliegt?

Mit Ihrem Hausarzt reden: über Ihren TSH-Wert sowie darüber, dass bei einem Alter über 60 Jahren ein TSH-Wert zwischen 4 und 8 uU/ml keine Katastrophe, sondern ihr altersgerechter Normalwert ist. Ihre Haare werden es Ihnen danken und im doppelten Sinne wieder länger wachsen.

Eisen: strahlende Gesichter, volleres Kopfhaar

Und zum Schluss noch kurz einige Zeilen zum Thema Haarverlust und zur Rolle von Eisen: Wie so oft in der Medizin gibt es viele Studien zum Pro und Contra dieser Behandlung. Wir handeln unter dem Leidensdruck der Patienten pragmatisch: Liegt der Eisenspeicherwert (Ferritin) unter 40 bis 70 ng/ml, dann substituieren wir Eisen entweder in Tablettenform, aber auch bei sehr niedrigen Ferritinspiegeln (< 30 ng/ml) durch Eiseninfusionen.

Und? Sehr oft sehen wir bei einem späteren ambulanten Termin der Patientinnen strahlende Gesichter und volleres Kopfhaar.

Schwerpunkt: Weiblicher Haarverlust

Von Prof. Dr. med. Reinhard Zick
Medicover MVZ, Möserstraße 4A, 49074 Osnabrück,
E-Mail: der.chef@mac.com

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (7) Seite 24-26

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