Die wichtigsten Folgekrankheiten

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Die wichtigsten Folgekrankheiten

Wieso eigentlich bekommen viele Diabetiker Probleme mit ihren Gefäßen oder ihren Nerven? Über welche Komplikationen reden wir – und wie kann man überhaupt gegensteuern? Unser Autor nennt alle wichtigen Diabetes-Folgeerkrankungen, erklärt den Hintergrund und sagt, was Sie gemeinsam mit Ihrem Arzt tun können.

Eine gute Stoffwechseleinstellung vermindert das Risiko für praktisch alle Dia­beteskomplikationen deutlich und verlangsamt das Fortschreiten schon bekannter Diabetesfolgen. Langzeitstudien bei Menschen mit Typ-1- und mit Typ-2-Diabetes haben außerdem gezeigt, dass eine gute Stoffwechseleinstellung auch noch nach Jahren ein „gutes Stoffwechsel-Gedächtnis“ hinterlässt und Patienten davon über viele Jahre sogar im Nachhinein profitieren.

Umso wichtiger ist es deshalb, Diabetes möglichst frühzeitig zu erkennen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Derzeit gibt es in Deutschland mindestens 1,3 Mio. Menschen, die nichts von ihrer Diabeteserkrankung wissen; der Typ-2-Diabetes wird oft mit einer Verspätung von 6 bis 8 Jahren diagnostiziert. In diesem Zeitraum können sich Folgeerkrankungen entwickeln, und oft kommt die Diabetesdiagnose sogar erst aufgrund einer akuten Folgekomplikation – zum Beispiel eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls!

Schäden an den großen und kleinen Blutgefäßen

Bei den Folgeerkrankungen wird zwischen den Schäden an den großen Gefäßen (Makroangiopathie) und den kleinen, nur mit Lupe oder Mikroskop sichtbaren Gefäßen (Kapillaren) in den Organen (Mikroangiopathie) unterschieden.

Zu den Erkrankungen der Makroangiopathie zählen der Herzinfarkt, der Schlaganfall und die Verschlüsse von Schlagadern der großen Gefäße vor allem in den Beinen und Füßen (periphere arterielle Verschlusskrankheit, pAVK).

Große Gefäße geschädigt:
  • Herzinfarkt
  • Schlaganfall
  • pAVK („Schaufenster­krankheit“)
  Kleine Gefäße geschädigt:
  • Nieren
  • Augen
  • Geschlechtsorgane
  • Nerven

Erkrankungen der kleinen Gefäße betreffen vor allem die Nieren und die Augen, aber auch die Geschlechtsorgane und Nerven, nach neueren Erkenntnissen auch das Gehirn. Bei einer Erkrankung der kleinen Gefäße des Gehirns wird das Entstehen einer Demenz begünstigt.

So entstehen Gefäß- und Nervenkomplikationen

Dass Gefäß- und Nervenerkrankungen entstehen, hat mehrere Ursachen: Dauernd hohe Blutzuckerwerte begünstigen zum Beispiel eine direkte chemische Veränderung der Gefäßwände. Die Gefäßwände sind aus speziellen Eiweißen (Proteinen) aufgebaut, die normalerweise zu sehr glatten Wänden führen und das Anhaften vorbeifließender Blutzellen verhindern. Zucker kann sich mit diesen Proteinen direkt verbinden und sie so verändern; hierdurch verlieren diese ihre glatte und zell­abstoßende Eigenschaft.

Diese Verbindungsreaktion geschieht in Abhängigkeit von Dauer und Höhe einer Blutzuckererhöhung. Ähnliche Reaktionen laufen übrigens auch in der Küche beim Backen im Teig zwischen Ei, Zucker und Mehl ab. In der Arztpraxis oder Klinik wird mit der Messung des HbA1c der Anteil an „verzuckertem“ roten Blutfarbstoff (Hämoglobin, abgekürzt Hb) gemessen.

Hohe Blutzuckerwerte führen außerdem zur Freisetzung von Substanzen im Gewebe, die Entzündungsvorgänge begünstigen. Bei diesen Vorgängen sind Gewebeschäden und Gewebeveränderungen möglich, die sich besonders an den Gefäßwänden ungünstig auswirken. Bei diesen Veränderungen werden außerdem spezielle weiße Blutkörperchen (Makrophagen) angelockt, die einen ungünstigen Umbau der Gefäßwand und an dieser bleibende Ablagerungen verursachen.

Die Entzündungsvorgänge führen darüber hinaus auch dazu, dass im Blut eine Gerinnselbildung auf zwei Wegen begünstigt wird: Zum einen verklumpen die Blutplättchen leichter untereinander, zum anderen werden Proteine in der Blutflüssigkeit, die an der Gerinnselbildung beteiligt sind, aktiviert, so dass auch aus flüssigen Eiweißbestandteilen Blutgerinnsel, die Blutgefäße verstopfen, leichter entstehen können.

Bei Typ-2-Diabetes kommen oft die zusätzlich ungünstigen Einflüsse krankhaft erhöhten Blutdrucks und einer Fettstoffwechselstörung hinzu (s. u.). Die Abbildung 1 zeigt ein Schema, wie krankhafte Ablagerungen in den Gefäßen entstehen.

Beim Entstehen von Nervenschäden (Neuropathie) spielen einerseits eine Rolle die Veränderungen an den sehr kleinen Blutgefäßen, die die Nerven versorgen; andererseits sind die Nervenzellen – vor allem die, die die Füße und Beine versorgen – sehr lang und sehr dünn. Hier sind bei einer schlechten Stoffwechsellage auch die direkte Versorgung und der direkte Transport von Substanzen in der Zelle gestört, was zu einer verschlechterten Nervenleitung und -funktion führt.

Die einzelnen Folgeerkrankungen mit ihren Beschwerden und Behandlungsmöglichkeiten sind in den folgenden Abschnitten zusammengefasst:

Herzinfarkt und Herzerkrankungen

Bei den Herzerkrankungen sind besonders die Herzkranzgefäße und der Herzmuskel betroffen, der von den Herzkranzgefäßen versorgt wird. Der Herzmuskel ist für die Pumpleistung des Herzens verantwortlich. Durch Verengungen in den Herzkranzgefäßen wird der Herzmuskel nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Nahrungsstoffen versorgt. Bei Sauerstoffmangel durch eine Verengung eines Herzkranzgefäßes können plötzliche Schmerzen oder ein Engegefühl in der Brust auftreten.

Diese Beschwerden treten oft unter körperlicher Belastung oder Kälte auf, können aber auch in Ruhe vorkommen. Sie gehen meist einher mit einem ausgeprägten Unwohlsein, manchmal Übelkeit und Kaltschweißigkeit.

Ursache ist eine akute Durchblutungsstörung, die durch eine Gerinnselbildung mit plötzlicher Verstopfung eines Gefäßes bedingt sein kann. Dadurch wird der Herzmuskel nicht ausreichend versorgt. Die Beschwerden werden als Angina pectoris (lateinisch für Enge- oder Beklemmungsgefühl in der Brust) bezeichnet, wenn sie schnell vorübergehen oder z. B. durch kältebedingte plötzliche krampf­artige Verengung der Gefäßwände verursacht werden.

Wenn die Beschwerden länger bestehen und Herzmuskel durch die Minderversorgung zugrunde geht, spricht man von einem Herzinfarkt. Teile des Herzmuskels pumpen dann schlecht, und es tritt in Folge oft auch Luftnot auf.

Oft gar kein Schmerz  durch zusätzliche Nervenstörung

Ältere Menschen oder Menschen, bei denen zusätzlich eine Nervenstörung vorliegt, haben oft weniger oder gar keine Schmerzen bei solch einem Ereignis, dafür ausgeprägtere Zeichen einer Herzmuskelschwäche (Herzinsuffizienz) mit Luftnot, Blutdruckabfall und Wassereinlagerungen, vor allem in den Beinen. Auch Herzrhythmusstörungen können bei solch einem Ereignis auftreten.
Soforthilfe ist wichtig!

In einem solchen Fall ist sofortige ärztliche Hilfe ohne Zeitverlust notwendig, bei der blutverdünnende und gefäßerweiternde Medikamente gegeben werden, um die Versorgung des Herzmuskels zu verbessern. Außerdem muss durch weitergehende Untersuchungen (EKG, Laboruntersuchungen des Blutes, ggf. Ultraschalluntersuchung des Herzens, Herzkatheteruntersuchung) das Ausmaß der Gefäßveränderungen und der Herzmuskelschädigung ermittelt werden.

Bei einer Herzkatheteruntersuchung kann auch ein verschlossenes Gefäß ggf. durch Einlage einer Gefäßwandstütze (Stent) oder andere mechanische oder medikamentöse Maßnahmen wieder durchgängig gemacht werden. Längerfristig ist neben einer guten Blutzuckereinstellung die Gabe von Medikamenten wichtig, die die Herzmuskelarbeit und die Durchblutung der Herzkranzgefäße verbessern und den Herzrhythmus stabilisieren. Auch die Blutfette – vor allem die Cholesterinwerte – und der Blutdruck sollten gut eingestellt sein.

„Schaufensterkrankheit“ – periphere Verschlusskrankheit der großen Gefäße

Die Ursachen und der Ablauf von Gefäßverengungen und Gefäßverschlüssen der Schlag­adern sind vergleichbar mit denen der Herzkranzgefäßerkrankung. Langstreckige Gefäße sind besonders bei der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit gefährdet; dies ist der Grund, warum die Gefäße der Füße und Beine so oft betroffen sind. Hier kommt es zu Schmerzen besonders beim Gehen oder Laufen, also in Situationen, in denen der Sauerstoffbedarf höher ist.

Zunächst ist die Gehstrecke nach einer bestimmten Entfernung aufgrund dann stark werdender Schmerzen eingeschränkt; die Schmerzen lassen in Ruhe nach, Weitergehen wird wieder möglich. Der Name Schaufensterkrankheit ist hierdurch bildlich erklärt: Der Blick ins Schaufenster wird zum Stehenbleiben genutzt. Die Gehstrecke nimmt bei fortschreitender Erkrankung ab, bis auch in Ruhe Schmerzen und eindeutige Durchblutungsstörungen auftreten können: der Fuß ist kalt, blass und schmerzhaft oder das Bein kalt und blass ohne tastbare Pulse.

Bei nicht komplett verschlossenen Gefäßen ist Gehtraining wichtig, um die Gefäßneubildung und die Verbesserung der Durchblutung zu fördern. Ähnlich wie bei der Herzkranzgefäßerkrankung werden dann auch im Verlauf Medikamente zur Blutverdünnung und Blutdruckstabilisierung eingesetzt. Blutzucker und Blutfette müssen gut eingestellt sein.

An Untersuchungen sind Gefäßuntersuchungen mit Ultraschall zum Messen der Gefäßdurchmesser und des Blutflusses wichtig. Auch Stents (wie bei den Herzkranzgefäßen) oder Gefäß-Bypass-Operationen können in fortgeschrittenen Stadien nötig sein. Bei plötzlichen Gefäßverschlüssen werden auch Medikamente gespritzt, die das Gerinnsel auflösen (Lyse).

Schlaganfall – schnelle Erstversorgung entscheidend

Beim Schlaganfall sind die Blutgefäße des Gehirns betroffen – je nachdem, wo im Gehirn ein Gefäß Schaden nimmt, können die körperlichen Anzeichen unterschiedlich sein. Am häufigsten sind jedoch plötzliche Ausfälle der Muskelkraft und -beweglichkeit in einem Körperteil oder Ausfälle mit Gefühlsstörungen im Sinne eines Taubheitsgefühls. Auch Sprachstörungen, Wortfindungsstörungen oder andere Sinnesstörungen können auftreten.

Ähnlich wie ein Herzinfarkt ist ein Schlaganfall ein Notfall, bei dessen Erstbehandlung die schnelle Erstversorgung für den Verlauf und die Aussichten ganz entscheidend ist.

Nierenerkrankungen – auf erhöhte Albuminausscheidung achten!

Bei lange Zeit bestehender schlechter Stoffwechsellage mit dauernd hohen Blutzuckerwerten nehmen auch die kleinen Gefäße in den Nieren Schaden, besonders die, die das Blutfiltersystem der Nieren bilden. Hiervon sind die Gefäßwände derart betroffen, dass sie sich zum einen verdicken und damit der Blutfluss und der Blutdruck im Filtersystem der Niere sich verschlechtern. Zum anderen werden die Gefäßwände für wichtige Eiweißstoffe (Albumin) durchlässig, so dass diese wertvollen Blut- und Körperflüssigkeitsbestandteile dem Körper und Stoffwechsel verlorengehen.

Urin untersuchen – wichtig!

Aus diesem Grund ist die Untersuchung des Urins auf eine erhöhte Albuminausscheidung sehr wichtig, um schon relativ früh eine Nierenerkrankung zu erkennen. Im weiteren Verlauf der Schädigung kommt es zusätzlich zu Störungen im Wasser- und Mineralhaushalt und der Blutdruck steigt an. Die einzelnen Stadien und die Entwicklung der Nierenschädigung sind in folgender Tabelle gezeigt:

Stadieneinteilung der Nierenerkrankungen

Nierenschädigung mit normaler Nierenfunktion
1a Mikroalbuminurie Albuminausscheidung
Nierenfiltrationsrate
   20 – 200
> 90
1b Makroalbuminurie Albuminausscheidung
Nierenfiltrationsrate
   >200
> 90

Nierenschädigung mit Nierenfunktionseinschränkung
2 leichtgradig Nierenfiltrationsrate    60 – 89
3 mäßiggradig Nierenfiltrationsrate    30 – 59
4 hochgradig Nierenfiltrationsrate    15 – 29
5 Nierenversagen (Endstadium) Nierenfiltrationsrate    < 15

Albuminausscheidung in mg/l, Nierenfiltrationsrate in ml/min/1,73 m2 Körperoberfläche

Eine Nierenschädigung kann sich – oft sehr spät und bei bereits fortgeschrittenem Stadium – äußern in Abgeschlagenheit, Leistungsschwäche, Kopfschmerzen, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Juckreiz und Wassereinlagerungen mit Gewichtszunahme, in unterschiedlichem Ausmaß. Ohne Kontrolle und Behandlung durch gute Diabeteseinstellung und die konsequente Behandlung eines zu hohen Blutdrucks kann im Verlauf nach einigen Jahren ein vollständiges Nierenversagen auftreten.

Zur Behandlung des Bluthochdrucks und zum Schutz der Niere mit Medikamenten sind hier die „ACE-Hemmer“ (ACE: Angiotensin Converting Enzyme) und Angiotensin-Rezeptor-Blocker gut geeignet. Sie haben in vielen Studien einen günstigen Einfluss auf die Entwicklung der Nierenfunktion gezeigt.

Bei vollständigem Nierenversagen muss mit einer Dialysebehandlung (Blutwäsche) begonnen werden, die mehrmals wöchentlich erfolgen muss, um den Körper von überschüssigen Stoffwechselabfällen zu befreien. Für die Dialyse kommen prinzipiell zwei unterschiedliche Verfahren in Frage:

Zwei verschiedene Dialyse-Verfahren

Zum einen gibt es die Hämodialyse, bei der das Blut über einen Katheter in eine Filtermaschine gelangt, außerhalb des Körpers gereinigt und dann wieder dem Körper zugeführt wird. Zum anderen gibt es mit der Peritonealdialyse ein Verfahren, bei dem Spülflüssigkeit über einen Katheter durch die Bauchwand in die Bauchhöhle eingeleitet wird. Das Bauchfell (Peritoneum) sondert die überschüssigen Stoffwechselabfälle in die Spülflüssigkeit ab, und diese wird dann wieder abgelassen.

Die Peritonealdialyse kann zu Hause erfolgen, das Infektionsrisiko ist jedoch höher als bei der Hämodialyse. In Deutschland werden mehr Patienten mit Hämodialyse behandelt als mit Peritonealdialyse, insgesamt ist etwa ein Drittel aller dialysepflichtigen Patienten in Deutschland aufgrund eines Diabetes an der Dialyse. Für dialysebehandelte Patienten kommt unter Umständen auch eine Nierentransplantation in Frage, bei Typ-1-Diabetes auch eine kombinierte Nieren- und Pankreas-Transplantation (Pankreas: Bauchspeicheldrüse).

Augenerkrankungen – wenn die Netzhaut Schaden nimmt…

Auch die kleinen Gefäße am Auge, besonders die der Netzhaut am Augenhintergrund, können bei langer Diabetesdauer mit nicht optimaler Einstellung Schaden nehmen. Die Netzhautschäden werden auch als Retinopathie (Netzhautleiden) bezeichnet. Zunächst verursachen die Gefäßveränderungen keine Beschwerden und machen sich beim Sehen nicht bemerkbar. Nur bei einer augenärztlichen Untersuchung, bei der der Augenarzt durch die mit einem Medikament weitgestellten Pupillen den Augenhintergrund genau untersucht, können die Gefäße und die Netzhaut beurteilt werden.

Bei der Beurteilung der Netzhaut geht es auch darum, die Makula anzusehen: das Netzhautgebiet, mit dem wir am schärfsten sehen, sowie dessen zentralen Teil, die Fovea, die normalerweise keine sichtbaren Gefäße hat. Mit der Fovea ist das allerschärfste Sehen möglich. Erst in späteren Stadien der Retinopathie, bei denen es zu Einblutungen ins Auge und in den Glaskörper sowie zu Gefäßneubildungen mit oft undichten Gefäßwänden kommt, treten Sehstörungen auf.

Diese äußern sich unterschiedlich entweder in unscharfem und verschwommenem Sehen oder durch Blutungen bedingt auch in roten Schleiern oder dunklen Flecken. Wenn sich die Netzhaut ablöst, macht sich das auch bemerkbar in Form von Lichtblitzen oder auch schwarzen, wie Regen im Bild anmutenden Sensationen oder schlimmstenfalls mit plötzlichem Sehverlust bis zur Blindheit.

Warnzeichen für Netzhautschäden am Auge
  • plötzlich auftretende Veränderung des Sehvermögens
  • eine Verschlechterung des Sehvermögens, die durch Brillengläser nicht korrigiert werden kann
  • Leseschwierigkeiten bis zum Verlust der Lesefähigkeit
  • Störung des Farbsinns
  • eine allgemeine Sehverschlechterung, verschwommenes Sehen
  • verzerrtes Sehen
  • „Rußregen“ vor dem Auge (s. Abb. 5)

Die Gefäßveränderungen in den anfänglichen Stadien der nichtproliferativen (nicht mit Gefäßneubildung einhergehenden) Retinopathie sind aufzuhalten durch eine konsequente und gute Blutzucker- und Blutdruckeinstellung – und können sich auch zurückbilden. Im Stadium der Gefäßneubildungen ist das dann nicht mehr der Fall: Hier muss häufig eine Laserbehandlung der Netzhaut erfolgen, um weitere Gefäßkomplikationen zu verhindern. Bei Einblutungen in den Glaskörper oder bei Netzhautablösungen können auch operative Maßnahmen helfen, das Sehen wieder zu verbessern oder zu stabilisieren.

Bei Diabetes können auch andere, meist altersbedingte Erkrankungen des Auges, die in der Allgemeinbevölkerung auch auftreten, früher vorkommen. Dies betrifft vor allem die Erhöhung des Augeninnendrucks („grüner Star“ oder Glaukom) und Eintrübungen der Augenlinse („grauer Star“ oder Katarakt). Der grüne Star kann anfänglich gut mit Augentropfen oder anderen Medikamenten behandelt werden, die den Augen­innendruck senken.

Erst in späteren Stadien ist hier eine Operation notwendig. Der graue Star kann bei ausgeprägter Trübung der Linse durch deren Entfernung und Ersatz durch eine Kunstlinse mittels Operation gut behandelt werden.

In Deutschland erblinden ungefähr 2.000 Patienten jährlich aufgrund diabetesbedingter Augenschäden. Damit ist die Erblindung durch Diabetes ca. 5-mal so häufig wie durch andere Ursachen. Ganz wichtig ist eine regelmäßige augenärztliche Vorsorgeuntersuchung mit genauer Untersuchung der Netzhaut bei mit Augentropfen weitgestellter Pupille – denn in frühen, aber prinzipiell noch gut behandelbaren Stadien der diabetischen Augenerkrankung treten wenige oder keine Sehstörungen oder Augensymptome auf.

Empfohlene Augenuntersuchungen bei Diabetes

Bei wem?     Wie oft?
Bei der Erstuntersuchungen der Augen:
Menschen mit Typ-1-Diabetes      ab dem 11. Lebensjahr oder spätestens 5 Jahre nach der Diagnosestellung
Menschen mit Typ-2-Diabetes     sofort nach der Diagnosestellung

Bei regelmäßigen Kontrolluntersuchungen der Augen:
keine Schäden an der Netzhaut,
niedriges Risiko
     alle 2 Jahre
keine Schäden an der Netzhaut,
hohes Risiko
     jährlich
Schäden an der Netzhaut vorhanden      jährlich oder in kürzeren Abständen

Diese Untersuchung soll bei bislang noch nicht entdeckter Augenerkrankung alle 2 Jahre durchgeführt werden, bei Patienten mit zusätzlichen Risikofaktoren (Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörung, Nierenerkrankung, Übergewicht, Rauchen) einmal jährlich. Bei Verdacht oder Bestehen eines erhöhten Augeninnendrucks („grüner Star“) sollte auch der Augeninnendruck gemessen werden. Bei schon bestehender Augenerkrankung erfolgen die Kontrolluntersuchungen je nach Notwendigkeit in engeren Zeiträumen.

Nervenerkrankungen – gestörtes Empfindungsvermögen

Die diabetische Nervenerkrankung (Neuropathie) ist eine Folgeerkrankung, die bei unzureichender Stoffwechseleinstellung und jahrelanger Diabetesdauer auftreten kann. Häufig kommt es zu belastungsunabhängigen Schmerzen, Störungen des Temperaturempfindens und Missempfindungen oder sogar Bewegungseinschränkungen. Dies betrifft am häufigsten die Füße, Beine und Hände. Nervenstörungen der Beine und Arme werden als „periphere Polyneuropathie“ bezeichnet.

Bei der „autonomen Polyneuropathie“ sind die Nerven betroffen, die die inneren Organe betreffen. Die autonome Polyneuropathie kann so zu einer Störung der Magen-Darm-Passage, der Darm- und Blasenentleerung und der Sexualfunktion führen. Auch die Regulation der Atem- und Pulsgeschwindigkeit kann gestört sein. Die Nervenerkrankung ist auch maßgeblich an der Entwicklung des diabetischen Fußes beteiligt.

Zu Beginn der Nervenerkrankung sind die Beschwerden meist sehr gering ausgeprägt und nicht immer wegweisend. Daher werden sie oft nicht richtig gedeutet und übersehen. Bei der Diagnostik sind Untersuchungen des Vibrationsempfindens (z. B. mit dem Stimmgabeltest), des Spitz-Stumpf-Empfindens, des Temperaturempfindens und der Muskelreflexe als wenig aufwändige Erstuntersuchungen wichtig.

Diabetischer Fuß – Amputationen verhindern!

Bei der Entwicklung des diabetischen Fußes sind Schäden an den kleinen Gefäßen und Nervenschäden maßgeblich beteiligt. Durch die Nervenschädigung ist das Berührungs- und Temperaturempfinden der Füße gestört, häufig berichten Patienten über Kribbel- und Taubheits-Missempfindungen in Ruhe, besonders nachts. Andererseits werden Schmerzen durch Fußverletzungen nur noch abgeschwächt oder gar nicht mehr wahrgenommen.

Durch die Nervenstörung kann es zu einer fehlerhaften Druckbelastung der Füße kommen, auch die Wärmeregulation in der Haut und das Schwitzen sind gestört, so dass die Haut der Füße oft zu trocken ist und sich an den besonders druckbelasteten Stellen übermäßig Hornhaut bildet. So können oft unbemerkt Druckstellen, Hauteinrisse und kleine Druckgeschwüre entstehen, über die dann Keime einwandern können und zu einer aufsteigenden Gewebs­infektion beitragen.

Durch die schlechtere Durchblutung und auch eine schlechte Stoffwechseleinstellung ist die Körperabwehr geschwächt, was das Bekämpfen der Infektion erschwert. Falls eine Behandlung mit Antibiotika und eine Ruhigstellung und Druckentlastung des Fußes nicht hilft, muss oft über eine Amputation beraten und entschieden werden.

Zuvor muss dann jedoch eine genaue Diagnostik der Gefäßverhältnisse erfolgen, damit individuell über eine möglichst schonende und in Bezug auf die Heilung aussichtsreiche Operationsmethode entschieden werden kann. Hier ist eine optimale Zusammenarbeit zwischen Diabetesspezialist, Radiologe bzw. Gefäßspezialist (Angiologe) zur Gefäßdiagnostik und Chirurg notwendig.

Stadieneinteilung des diabetischen Fußes

(nach Wagner)

Stadium 0: keine Wunde, evtl. Fußfehlstellung
Stadium 1: oberflächliche Wunde/offene Stelle (Ulkus)
Stadium 2: tiefes Ulkus bis zur Gelenkkapsel, zu Sehnen oder Knochen
Stadium 3: tiefes Ulkus mit Abszess, ­Knochenentzündung, Infektion der Gelenkkapsel
Stadium 4: Absterben (Nekrose) von Gewebe im Vorfuß- oder ­Fersenbereich
Stadium 5: Nekrose des gesamten Fußes

Obenstehend sind die Schweregrade des Diabetischen Fußsyndroms gezeigt. Aufgrund des Diabetes werden in Deutschland jährlich schätzungsweise mindestens 40 000 Amputationen vorgenommen. Es ist entscheidend, diese Zahl zu senken, um das Leid und die Einschränkung der Lebensqualität und -perspektive der betroffenen Patienten zu lindern. Wichtig ist eine regelmäßige Inspektion der Füße beim Baden oder Ankleiden.

Störungen an den Geschlechtsorganen

Schäden an den kleinen Gefäßen und Nervenschäden können bei nicht gut behandeltem Diabetes bei beiden Geschlechtern zu Sexualstörungen führen. Bei Männern macht sich das vor allem in Form von Störungen der Erek­tions­fähigkeit (Gliedsteife) bemerkbar, bei Frauen besonders durch Scheidentrockenheit und Gefühlsstörungen.

Bei längere Zeit erhöhten Blutzuckerwerten kommen auch Infektionen (besonders Pilzinfektionen) der Genitalregion und Harnwegsinfekte häufiger als in der Allgemeinbevölkerung vor. Hiervon sind Frauen öfter betroffen als Männer. Die Infektionen lassen sich meist schnell mit lokal wirksamen Mitteln gut behandeln.

Schwerpunkt „Diabetes-Folgen vermeiden“

von Prof. Dr. Baptist Gallwitz
Medizinische Klinik IV, Universitätsklinikum Tübingen,
Otfried-Müller-Str. 10, 72076 Tübingen,
Tel.: 0 70 71/29-8 20 93, Fax: 0 70 71/29-50 04,
E-Mail: baptist.gallwitz@med.uni-tuebingen.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (1) Seite 12-19

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