“Es tat weh, an die Zukunft zu denken”

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“Es tat weh, an die Zukunft zu denken”

Die Diagnose Diabetes bei ihrem Sohn war für Astrid Struck ein Schock. Im Diabetes-Eltern-Journal erzählt sie, wie verzweifelt sie am Anfang war und wie es weiterging. Heute, fünf Jahre später, sieht sie die Welt ganz anders: positiv!

Blass, kraftlos und fast immer krank: Astrid Struck spürte, dass mit ihrem fünfjährigen Sohn Lian etwas nicht stimmte. Besserung sollte eine Mutter-Kind-Kur bringen, aber die brachte die Diagnose Diabetes. “Mein Sohn machte mir den Umgang mit seiner Krankheit immer leicht”, sagt sie. “Er hat sich bis heute nie beklagt über sein Schicksal, schluckt die Schmerzen bei den Katheterwechseln meist mit einer Träne im Auge herunter und lässt sich vor allem nicht vom Diabetes beeindrucken.” So können Mutter und Sohn gut mit dem Diabetes leben.

“Sie sind eine Übermutter!” Dieser Satz klingt bis heute in meinen Ohren, wenn ich an die Zeit zurückdenke, in der ich alle Kinderärzte im Umkreis aufsuchte, weil ich einfach spürte, dass etwas mit Lian nicht stimmte.

Nie hungrig, immer krank

Mein Sohn war damals fünf Jahre alt, wog noch 15 Kilogramm und hatte absolut nie Hunger, außer auf Schokolade. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen, er war blass, kraftlos, lachte nicht mehr und war eigentlich so gut wie immer krank. Im Mai 2009 entschloss ich mich dann zu einer Mutter-Kind-Kur an der Nordsee, in der Hoffnung, es würde ihm danach besser gehen. Ich erinnere mich genau, dass ich auf dem Weg nach Emden mindestens sechsmal eine Toilette mit Lian aufsuchte und er gleich darauf wieder einen halben Liter trank, weil er ständig Durst hatte.

Gleich am zweiten Morgen der Kur wurde sein Harndrang noch viel stärker. Ich ging mit ihm zu unserem Kurarzt und schilderte die Symptome. Eine Urinprobe brachte nach nur wenigen Minuten die schockierende Diagnose: DIABETES! Glukose und Keton auf dem Urinteststreifen strahlten pink und dunkelgrün statt hautfarben und mint. Die Blutzucker-Messung ergab einen Wert von 338 mg/dl (18,8 mmol/l). Sofort nahm man mit der Abteilung für Kinderdiabetes in Herford Kontakt auf, und wir wurden schnellstens auf die Rückreise geschickt.

Angst vor dem Ungewissen

Die Fahrt war eine Tortur. Lian schlief immer wieder ein, war nassgeschwitzt und weinte, hatte Angst vor dem Ungewissen – genau wie ich. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten wir die Klinik. Lians Blutzucker war inzwischen auf 585 mg/dl (32,5 mmol/l) angestiegen. Er bekam wenige Stunden später sein erstes Insulin in den Oberschenkel gespritzt, was er tapfer über sich ergehen ließ.

In der ersten Nacht wachte ich jede Sekunde über mein Kind, weinte und dachte verzweifelt darüber nach, wie wir so weiterleben sollten. Es tat mir unendlich weh, an die Zukunft zu denken – nein, eigentlich dachte ich, wir hätten keine mehr.

Lian blüht auf

Am nächsten Morgen war Lians Wert zum ersten Mal wieder im Normbereich. Als er aufwachte, lachte er mich an und sagte: “Mama, ich hab‘ riesigen Hunger.” Ich war so glücklich über diesen Satz, der für andere Mütter wohl der normalste der Welt gewesen wäre. Ich hatte diesen Satz Jahre nicht gehört. Nach zwei Brötchen und einer großen Tasse Milch zum Frühstück folgten zwei üppige Schnitzel und ein riesiger Berg Kartoffeln zum Mittag.

Ich konnte es kaum fassen. Lian war plötzlich fröhlich und sauste bereits in andere Zimmer der Station, wo er Gleichaltrige gefunden hatte. Ich nutzte die Zeit zum Lesen und verschlang in den nächsten Tagen und Nächten sämtliche “Diabetes-Klassiker” die die Station zu bieten hatte.

Den Diabetesalltag zu Hause bewältigen

Die ersten Schulungen mit dem Arzt waren sehr verständlich und behutsam, kamen mir aber dennoch vor wie ein zweites Hochschulstudium: Basalrate, Hypo, Ketoazidose – Schlagworte, die mir Angst machten, später zu “Respekt” wurden und heute meist “gelassener Alltag” sind. Nach vierzehn Tagen verließen wir die Klinik und ich versuchte, den Diabetesalltag zu Hause zu bewältigen.

Anfangs war ich sehr nervös und holte mir noch oft telefonisch Hilfe aus dem Krankenhaus. Dann wurde es immer selbstverständlicher, Katheter zu wechseln, die Basalrate selbst zu korrigieren, BEs auch mal nur zu schätzen und ständige Schwankungen eben in Kauf zu nehmen.

Leidenschaft Sport

Schon wenige Wochen nach der Diagnose machte Lian einen Schwimmkurs und begann im Oktober 2009, Fußball zu spielen. Sport hat sich zu seiner Leidenschaft entwickelt. Er erzielt bei Schulveranstaltungen im Bereich Leichtathletik Bestleistungen. Vor allem ein Leben ohne Fußball ist für Lian undenkbar. In den letzten Jahren hat sich sein Talent als Torwart stetig entwickelt, er trainiert mehrmals in der Woche mit seinem Verein und ist auch in seiner Freizeit nur selten ohne Ball zu sehen.

Er spielt in der Kreisauswahl und nimmt regelmäßig an Trainingscamps und Torwart-Fördertrainings des Zweitligisten Arminia Bielefeld teil. Natürlich läuft es auch beim Sport nicht immer “rund” mit den Werten. Aber dann gibt‘s eben schnell mal eine Spritze in den Bauch oder ein paar Stücke Traubenzucker, und schon steht Lian wieder auf dem Platz. Aufgeben gibt es für ihn grundsätzlich nie.

“Nicht krank, sondern bedingt gesund”

Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn. Durch den Sport hat er gelernt, noch disziplinierter zu sein. Es gibt bei uns zu Hause keine Verbote für bestimmte Lebensmittel, aber zum Glück ist Lian inzwischen so vernünftig, von selbst auf Dinge zu verzichten, die ihm nicht guttun. Unsere Devise ist: “Du bist nicht krank, sondern bedingt gesund”. So erzielen wir seit fünf Jahren HbA1c-Werte zwischen 6,6 und 7,3. Damit können wir gut leben, und heute freue ich mich wieder auf die Zukunft.


von Astrid Struck

Kontakt:
Kirchheim-Verlag, Kaiserstra0e 41, 55116 Mainz, Tel.: (06131) 9 60 70 0,
Fax: (06131) 9 60 70 90, E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2014; 7 (2) Seite 16-17

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