Experiment Blindflug

4 Minuten

© Geri Winkler
Experiment Blindflug

Der Wiener Geri Winkler (63) war 2006 der erste Mensch mit Typ-1-Diabetes auf dem Gipfel des Mount Everest. Seitdem hat er weitere Abenteuer erlebt. Sein aktuelles Experiment ist hochinteressant … und nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen. Druckfrisch ist sein Buch „Mein Neuntausender“.

Der FreeStyle Libre, der kontinuierlich die Glukosewerte im Gewebe misst (CGM), hat in den letzten Jahren das Leben vieler Diabetiker revolutioniert. Ich wollte ihn diesmal im Urlaub für eine besondere Aufgabe nutzen: das Testen und Trainieren meines „inneren CGMs“, meines Körpergefühls. Der Deal: Ich setze einen Sensor, die Werte bekomme ich aber nicht zu Gesicht. Diese liest meine Frau aus und notiert sie, daneben wird mein geschätzter Wert notiert.

Gelegentlich wird, für mich verborgen, blutig gemessen. Nur bei Werten über 300 mg/dl (16,7 mmol/l) teilt sie mir diese mit. Tiefe Werte sind kein Problem, denn diese fühle ich. Ich spritze also eine variable Basis und variiere meine BE-Faktoren, je nach Bewegung, ich korrigiere mit Insulin, wenn ich glaube, hoch zu liegen, esse, wenn ich eine Hypoglyk­ämie fühle, und spritze zum Essen nach Augenmaß, ohne je zu wiegen. 10 Tage will ich ohne Messwert bleiben.

10 Tage ohne Messen …

Wozu das Ganze, wenn doch die moderne Technik eine lückenlose Überwachung des Diabetikerlebens ermöglicht? Meine großen Leidenschaften sind monatelange Rucksackreisen in alle Teile der Welt und Bergtouren. Geringes Gepäck und Unabhängigkeit von sensibler Technik sind dabei zwingend, damit bleiben nur der Insulinpen und die blutige Messung. Aber selbst das Blutzuckermessen ist oft über viele Stunden unmöglich.

8 Stunden auf Frontalzacken in einer steilen Eiswand oder 12 Stunden auf einer überladenen Ladefläche eines Pick-ups auf den Pisten Westafrikas – keine Chance zum Messen. Ich muss meinen Diabetes fühlen und froh sein, wenn ich im Bedarfsfall gerade noch den Pen setzen oder einen Schoko-­Riegel verdrücken kann.

Das Experiment

Gleich am 1. Tag ist das Experiment gefährdet: Am frühen Abend sagt mir meine Frau, dass da 316 auf dem Display steht, und ich habe keine Ahnung warum. Wie sich nach den 10 Tagen herausstellt, hatte ich den ganzen Tag gute Werte, diese auch recht gut geschätzt … und dann nach einer Pause mit ausreichend Insulin dieser Blutzuckergipfel? Ist das Insulin nicht angekommen? Zum Glück sollte dies das einzige Desaster während der 10 Tage bleiben.

Salzkammergut-Urlaub, an den meisten Tagen mache ich gemütliche Bergtouren, 2 bis 3 Stunden, 8 bis 10 km, 300 bis 500 Höhenmeter. Bei solch kleinen Touren brauche ich die Basis nicht zu reduzieren und auch keine Sport-BEs. Nur bei schweren, ganztägigen Touren muss ich meine Insulindosis anpassen, eher die BE-Faktoren, weniger die Basis.
Am 4. Tag steht eine richtige Bergtour an: 8 Stunden, 1 500 Höhenmeter im Auf- und Abstieg, teilweise ausgesetzt, ich bin allein unterwegs.

Steckbrief


Name: Geri Winkler
Alter: Jahrgang 1956
Wohnort: Wien
Beruf: Mathematik-Lehrer
Diabetes seit: 1984
Hobby: Rucksackreisen in alle Welt
Kontakt: www.winklerworld.net

Wie soll das ohne Messwerte klappen? Ich halte mich an mein bewährtes Schema bei Berg- und Radtouren: Nach dem Frühstück geht es los. Da sollte der Wert bei 150 bis 160 mg/dl (8,3 – 8,9 mmol/l) liegen. Sonst messe ich das, heute schätze ich es. Etwa alle eineinhalb Stunden mache ich Pause und verspeise 2 BEs. Die ersten 2 BEs sind „gratis“, d. h. kein Insulin, für alle weiteren BEs gebe ich Insulin mit dem halben BE-Faktor.

Die altbewährten Algorithmen klappen auch heute bestens, einer der wenigen Tage, an denen ich vollzeitig in der Zeit im Zielbereich („TIR“) (70 – 180 mg/dl bzw. 3,9 – 10,0 mmol/l) bleibe. Beim Abstieg wähle ich einen kaum begangenen Pfad: total zugewachsen, steiles Gelände, umgefallene Bäume versperren den Weg, Handy-Netz gibt es nicht. Niemand weiß, dass ich diesen Weg gewählt habe. Hier sollte nichts passieren, da kommt tagelang niemand vorbei.

Trotzdem fühle ich mich sicher, ich habe Insulin und Kohlenhydrate. Die Schätzfehler betragen an diesem Tag im Schnitt 13 Prozent (was ich erst am Ende der 10 Tage erfahren habe), mit 87 mg/dl (4,8 mmol/l) beende ich die Tour, am Abend verringere ich die einmal täglich fällige Basis um 15 Prozent und komme gut durch die Nacht.

Gewaltige Fehler – aber zufrieden

Trotz mancher gewaltiger Schätzfehler bin ich recht gut durch die 10 Tage gekommen. Der mittlere Glukosewert betrug 124 mg/dl bzw. 6,9 mmol/l (0 – 6 Uhr: 94/5,2, 6 – 12 Uhr: 118/6,6, 12 – 18 Uhr: 140/7,8, 18 – 24 Uhr: 146/8,1). Nun, bei normalem Messen und Ablesen hatte ich schon oft schlechtere Durchschnittswerte als 124 mg/dl (6,9 mmol/l): Ist es dieses bewusste „Auf-mich-Schauen“ und „In-mich-Hineinhören“, das Achten auf die Mundschleimhaut, die viel über die Höhe des Blutzuckers erzählt.

Ist diese Aufmerksamkeit dem eigenen Körper gegenüber tatsächlich genauso hilfreich wie ein digitaler Wert, der Klarheit für den Moment schafft? Ja, ich habe mich des Öfteren gründlich verschätzt. Was mich überraschte: Verschätzte ich mich im Wertebereich 100 bis 200 mg/dl (5,6 – 11,1 mmol/l), so hatte das kaum negative Folgen für die weitere Entwicklung der Glukosewerte. Sie normalisierten sich trotzdem wie von selbst wieder.

61 Prozent der Zeit im Zielbereich

61 Prozent der Zeit war ich im Zielbereich, 18 Prozent war ich drüber, 21 Prozent drunter, wobei ich dem FreeStyle Libre bei tiefen Werten oft nicht trauen kann, wie gelegentliche Werte aus blutiger Messung nachträglich bewiesen. Natürlich sind das keine Musterschüler-Glukosewerte. Ich bin aber trotzdem zufrieden, autark, nur mit Insulin eineinhalb Wochen gut über die Runden gekommen zu sein.

Wie in den alten Zeiten vor der Selbstmessung – nur mit dem Unterschied, dass ich mit der intensivierten Insulintherapie (ICT) keine Diät einhalten muss und auch spontan Sport ausüben kann. Im Notfall reicht es, Insulin und Kohlenhydrate bei mir zu haben, sonst nichts – das bedeutet Freiheit für mich, weil ich nichts im Leben auslassen muss. Ich bin dankbar, dass die Diabetes-Forschung so viele Hilfsmittel entwickelt hat, und ich bin dankbar, dass es auch ohne geht, wenn es denn notwendig ist.

Lesetipp: Mein Neuntausender


Im Buch „Mein Neuntausender“ geht es um die Schilderung faszinierender Erlebnisse in fremden Welten, um Begegnungen, Ängste, Hoffnungen, Schmerzen und Erfolgsgefühle. All das soll zeigen, dass es kaum Grenzen gibt, wenn der Wille stark genug ist, den ersten Schritt zu wagen.

Beim Klettern will ich meinen Glukosewert kennen, mit dem ich in die Wand einsteige. Und er soll mindestens 150 mg/dl (8,3 mmol/l) betragen. Beim Tauchen ist es nicht anders. Da achte ich ganz genau darauf, dass ich nicht unter 200 mg/dl (11,1 mmol/l), aber auch nicht über 230 mg/dl (12,8 mmol/l) abtauche.


von Geri winkler
E-Mail: www.winklerworld.net

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (11) Seite 54-55

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