In der Phantasie sind sogar Giraffen grün

4 Minuten

© Sabine Moser
In der Phantasie sind sogar Giraffen grün

Sabine Moser hat seit über 40 Jahren Diabetes. Geliebt hat sie ihn nie, aber als einen Teil von sich akzeptiert. Und: Der Diabetes hat sie nicht daran gehindert, kreativ zu sein. “Warum gerade ich?” – Das hat sie sich nie gefragt.

Von der Harnzucker-Kontrolle bis zur Insulinpumpe: Sabine Moser hat so viele Neuerungen der letzten Jahrzehnte am “eigenen Leib” miterlebt. Davon, wie der Diabetes ihr Leben mitbestimmt hat, wie sie aber auch immer ihren eigenen Weg gegangen ist, erzählt sie im Diabetes-Eltern-Journal.


Ich bin 53 Jahre alt und habe seit 42 Jahren Typ-1-Diabetes. 1973 war das eine absolut exotische Erkrankung; meine Eltern konnten sich weit und breit mit niemandem austauschen.

Meine Mutter übernachtete in der ersten Nacht bei mir im Krankenhaus, was damals ganz unüblich war. Wobei von Schlafen nicht die Rede sein konnte: Die ganze Nacht über löcherte sie die Nachtschwester mit Fragen. Mein Vater gestand Jahre später, dass er, als er allein vom Krankenhaus heimkam, in der Garage im Auto in Tränen ausbrach. So groß war die Traurigkeit und Angst, dass ich, wie er dachte, bald sterben würde.

Hoffnung auf Fehldiganose schnell beendet

Typischerweise sank mein Insulinbedarf am Anfang auf nur mehr zwei Einheiten am Tag, sodass wir fest an eine Fehldiagnose glaubten. Wir führten das unter anderem auch auf den Maishaartee zurück, den mir Oma und Opa geschickt hatten. Die Enttäuschung war groß, als nach einigen Wochen der Insulinbedarf stetig anstieg.

Meine Schulfreundinnen, die ich zu meinem zwölften Geburtstag einlud, waren total erstaunt, dass ich so lebhaft, lustig und aktiv war. Ich litt doch an einer schweren Erkrankung! Eine Schulfreundin fragte mich besorgt, ob der Diabetes ansteckend sei! Ich war ihr nicht einmal böse. Woher sollte sie auch wissen, dass Diabetes keine ansteckende Erkrankung ist?

Meine Geschwister gingen total normal mit meinem Diabetes um. Dass meine jüngere Schwester sicher oft zu kurz kam und häufig darunter litt, verstand ich erst viel später, als sie Psychologie studierte und ihr Diplom über “Geschwisterproblematik in Familien mit Kindern mit Down-Syndrom (oder mit chronisch kranken Kindern)” schrieb. Das tut mir heute noch leid!

Nicht einfach: selbst spritzen

Während der Sommerferien versuchte ich immer wieder vergeblich, mir die Spritze selbst zu geben. Mitte September, sechs Monate nach der Diagnose, gelang es mir endlich, das erste Mal das Insulin selbst zu spritzen! Ich band ein rotes Geschenkband um die Plastikspritze und überreichte sie meinem Vater mit den Worten: “Vati, das ist mein Geburtstagsgeschenk an dich! Ich habe mich heute in der Früh selbst gespritzt!” Da flossen das zweite Mal die Tränen, diesmal vor Rührung.

Dass ich überhaupt in den Genuss von Plastikspritzen kam, habe ich dem Enkel von Vatis Sekretärin zu verdanken, der auch Typ-1-Diabetes hatte, aber in der Schweiz lebte. Die wesentlich dünneren, kürzeren und mit dem Kolben verschweißten Nadeln waren eine enorme Erleichterung. Außerdem war die Skala viel genauer, und der Kolben funktionierte butterweich. Das einzige Dilemma: Man musste die Spritzen immer in der Schweiz besorgen.

In der Pubertät kamen erste Probleme

Die kommenden Jahre schränkte mich der Diabetes nicht sonderlich ein. Erst in der Pubertät, mit 16 Jahren, als ich immer mehr zunahm, fälschte ich fleißig mein Tagebuch. Außerdem verheimlichte ich meinen Diabetes, manche Mitschülerinnen wussten gar nichts von meiner Erkrankung. Nur meine Lehrer waren von meinen Eltern informiert worden. Eine Mitschülerin fragte mich einmal fassungslos, ob das stimme, dass ich an “schwerem” Diabetes leide. Ich musste echt lachen. Was versteht man unter schwerem Diabetes? Es haute sie völlig um, dass ich mir täglich selbst eine Spritze geben musste.

Wegen der hohen Werte wurde eine zweite Insulinspritze abends notwendig. Niemals hätte ich gedacht, dass gerade das mehrfache Spritzen von zwei verschiedenen Insulinen sich einmal für mich zu einem Segen entwickeln würde! Es gibt für mich eine persönliche Zeitrechnung: Mein diabetisches Leben vor und nach der Basis-Bolus-Therapie.

Nach der Matura wollte ich eigentlich Kunst studieren. Meine Eltern meinten jedoch, ich sollte lieber etwas Vernünftiges lernen. Also entschied ich mich für die Schule zum Medizinisch Technischen Dienst, Fachrichtung Diaetologie, und wurde schließlich zur diabetesspezialisierten Diaetologin. Zu Beginn meiner Berufstätigkeit verschwieg ich vor den Patienten noch meinen Diabetes. Ganz anders später. Ich merkte, dass die Patienten äußerst positiv reagierten, wenn sie erfuhren, dass auch ich Diabetikerin bin.

Beruf und Berufung

Motiviert durch eine frühere Lehrerin verband ich Beruf und Berufung und schrieb und illustrierte ein Kinderkochbuch, das 1991 unter dem Titel Kochen macht uns Kindern Spaß im Kirchheim-Verlag erschien und immer wieder neu aufgelegt wurde. Außerdem gestalte ich für das Magazin der Österreichischen Diabetikervereinigung die Kinderseite. Mittlerweile bin ich in Pension und kann nun meinen kreativen Leidenschaften – Töpfern, Malen und Illustrieren – freien Lauf lassen!

Ich habe viel Glück gehabt. Ich durfte viele Erneuerungen und Fortschritte erleben – angefangen von den Spritzen mit aufgeschweißten Nadeln bis zu den Pens mit den extrem feinen Nadeln, vom Schweine- über das Human-Insulin bis zu den gentechnisch veränderten Speed- und flachwirkenden Basis-Insulinen. Aber der größte Fortschritt war sicher das Aufkommen der sensationellen Blutzuckermessgeräte, die in nur 5 Sekunden mit extrem wenig Blut den Blutzucker messen.

Sehr, sehr lange habe ich die Pumpentherapie wegen der “Kablerei” abgelehnt. Erst durch die kleine schlauchfreie Patch-Pumpe bin ich seit zwei Jahren Pumpen-Fan geworden und trage sie im Sommer auch stolz kurzärmelig am Oberarm. Ich freue mich sogar, wenn jemand neugierig fragt, was ich denn da habe.

Er ist ein Teil von mir

Natürlich ist es Quatsch zu behaupten, dass ich den Diabetes lieben würde. Oft ist er wie ein lästiges Anhängsel. Manchmal schimpfe ich ihn auch: “Wozu brauch ich dich?” Aber ich denke nicht Tag und Nacht an ihn. Er ist halt ein Teil von mir. Und mir war schon mit 12 Jahren klar, dass das Leben endlich ist und man nichts aufschieben darf. Ich habe mich auch nie gefragt: “Warum gerade ich?”, “Warum gerade nicht ich?”

Ich war immer froh, keine körperliche Behinderung zu haben. Denn der Diabetes hat nie meine Kreativität eingeschränkt. Dazu gibt es eine nette Episode: Als ich mir einmal den kleinen Finger brach, musste ich an der rechten Hand für mehrere Wochen einen riesigen Gips tragen. Ich motzte ständig herum, wie sehr mir dieser verdammte Gips auf die Nerven ginge. Ich konnte nicht Auto fahren, weder töpfern noch malen.

Da schüttelte mein Freund den Kopf und meinte: “Ich versteh dich nicht! Wegen deinem Diabetes verlierst du nie ein Wort, aber wegen des depperten Gips machst du so ein Theater!” Da antwortete ich: “Der Diabetes behindert mich körperlich nicht. Da kann ich malen, töpfern und schreiben. Aber das kann ich mit dem Gips nicht!”

Der Diabetes war für mich immer der warnende Zeigefinger, der mich daran erinnerte: “Du musst deine Kreativität und Phantasie jetzt ausleben und nicht erst später!” Und in der Phantasie ist alles möglich, sogar, dass Giraffen grün sind!


von Sabine Moser

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2016; 9 (2) Seite 12-13

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