Inklusion: Die Politik ist am Zug

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Inklusion: Die Politik ist am Zug

Mediziner und Pädagogen sind sich einig: Der Einsatz von Gesundheits-Fachkräften in Deutschlands Schulen würde nicht nur Schülerinnen und Schülern helfen, sondern auch Eltern und Lehrkräfte entlasten. Insbesondere chronisch kranke Kinder erhielten dadurch bessere Chancen auf Bildung und Angehörige eine angemessene Unterstützung.

Bei einer Presse-Konferenz im Vorfeld des Weltkindertags am 20. September forderten Experten, dass Prävention und Gesundheitsförderung an Deutschlands Schulen gesundheitspolitisch vorangetrieben werden müssten. Der bundesweite Einsatz von Gesundheits-Fachkräften in Schulen könne die Inklusion von Kindern mit Typ-1-Diabetes möglich machen, Lehrkräfte im Schulbetrieb entlasten und Sicherheit für Eltern bieten. Pilotprojekte in Hessen und Brandenburg (www.schulgesundheits
fachkraft.de) erzielten Erfolge, dennoch fehle auf Bundesebene bei den politischen Entscheidern noch immer der Wille zur Durchsetzung. Was auch fehlt, sind bundesweit einheitliche Regelungen.

Gesundheits-Versorgung ist keine Aufgabe der Lehrkräfte

Kinder mit Typ-1-Diabetes sind, zumindest im Grundschulalter, mit dem Diabetes-Management überfordert, erläuterte Prof. Dr. Andreas Neu, Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Wenn sie in der Schule sind und Fragen dazu haben, können Lehrerinnen und Lehrer diese meist nicht beantworten, denn Gesundheits-Versorgung gehört nicht zu ihren Aufgaben und sie sind dafür nicht ausgebildet. “Es gibt hierzulande noch keine ausreichenden und flächendeckenden Maßnahmen zur Inklusion und Integration von Kindern mit der Diagnose Diabetes Typ 1 in Bildungs-Einrichtungen. Das führt dazu, dass die jungen Patientinnen und Patienten immer wieder vom Regelschulbesuch ausgeschlossen werden”, schilderte Neu.

Oft übernehmen die Eltern die Aufgabe, ihren Kindern in der Schule zu helfen. Das kann zu emotionalen und körperlichen Belastungen und Überforderung führen. “Um die Diskriminierung von chronisch Erkrankten zu beenden und Kindern mit Diabetes Typ 1 eine reguläre Beschulung zu ermöglichen, setzen wir uns für diese medizinisch ausgebildeten Fachkräfte an allen Grundschulen ein. Denn sie können Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen adäquat versorgen und Eltern sinnvoll unterstützen”, unterstrich Dr. Jens Kröger, Vorstandsvorsitzender von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe.

Fast ein Viertel der Kinder benötigt medizinische Unterstützung

Udo Beckmann, der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), ist davon überzeugt, dass neben Schülerinnen und Schülern mit chronischen Krankheiten auch Lehrkräfte von den Schulgesundheits-Fachkräften profitieren: “Aktuell benötigt fast ein Viertel der Kinder eine weitergehende medizinische oder therapeutische Unterstützung.” Das hat eine Studie gezeigt, die das Modellprojekt “Schulgesundheitsfachkräfte” der AWO Potsdam begleitete. “Wir sprechen also nicht von Einzelfällen, die Förderbedarf in einem oder mehreren Förderschwerpunkten haben oder Assistenz bei der Medikamentengabe benötigen.” Die Verantwortung, Kindern mit chronischer Erkrankung den Schulbesuch zu ermöglichen, sieht der VBE deswegen nicht bei den Lehrkräften. “Die Politik ist in der Pflicht, die dafür notwendigen Bedingungen zu schaffen und ein professionelles Schulgesundheits-Management mit dafür ausgebildeten Schulgesundheits-Fachkräften zu etablieren und zu finanzieren”, forderte der VBE-Bundesvorsitzende.

“Erste Anlaufstelle”

Wie sinnvoll Schulgesundheits-Fachkräfte sind, schilderte Karen Kreutz-Dombrofski. Die Kinderkrankenschwester ist seit fünf Jahren eine von zehn Schulgesundheits-Fachkräften in Hessen. Sie sei “einfach so die erste Anlaufstelle für Schüler/Schülerinnen, genauso aber auch für Lehrer/Lehrerinnen, die mit Fragen kommen, mit Beratungsbedarf, wenn sie Schüler und Schülerinnen in der Klasse haben mit speziellen chronischen Erkrankungen”. Jeder ihrer Tage verläuft anders, neben Akutfällen gibt es z. B. auch Anfragen zu Präventions-Angeboten. Wenn Kinder mit Typ-1-Diabetes in die Schule kommen, führt sie zuerst ein Gespräch mit den Eltern und dem Kind über dessen Behandlung, um ihm im Bedarfsfall gut helfen zu können. Wenn das Kind es wünscht, macht sie auch mit ihm gemeinsam eine Informations-Veranstaltung für die Klasse über Typ-1-Diabetes. Den Eltern wird durch sie auch ermöglicht, zu arbeiten, denn wenn eine Situation zu lösen ist, bei der Kreutz-Dombrofski die Hilfe der Eltern braucht, ruft sie sie bei der Arbeit an und fragt nach: “Dann können die mir das kurz sagen und bleiben an ihrer Arbeitsstelle, wo sie sind, und müssen nicht mit wehenden Fahnen in die Schule kommen.”

Volkswirtschaftlich lohnend

Eine Studie der Technischen Hochschule Mittelhessen hat den Einsatz von Schulgesundheits-Fachkräften evaluiert – mit einem eindeutigen Ergebnis: Das Implementieren von Schulgesundheits-Fachkräften ist sinnvoll, mach- und finanzierbar. Es fördert überdies die Inklusion von Kindern mit chronischen Erkrankungen. Zusätzlich entlasten sie das Schulsystem und tragen zur finanziellen Sicherheit von Familien bei. Die Experten sind sich einig: “Auch volkswirtschaftlich sind Schulgesundheits-Fachkräfte eine lohnende Investition.”

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (11) Seite 48-49

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