“Jelly Beans” statt Traubenzucker

5 Minuten

“Jelly Beans” statt Traubenzucker

Oliver Kahmen (23) hat seit 9 Jahren Typ-1-Diabetes. “Schnell war mir klar”, sagt er, “dass der Diabetes nicht mein Leben bestimmen sollte.” So hat er gerade ein Semester in Australien hinter sich und als Student der Geodäsie Erdoberfläche ausgemessen und abgebildet.

Vor der großen Reise stand allerlei Planung – und viele meiner Überlegungen betrafen den Diabetes: Was muss alles mit? Bekomme ich im Notfall Insulinnachschub? Wie lagere ich das Insulin? Kommt mein Körper mit der Zeitumstellung schnell zurecht? Viele Fragen, die sich mir stellten und worauf mir niemand wirklich eine Antwort geben konnte. Denn wie meist beim Diabetes war es meine ganz persönliche Situation …

Im Februar 2014 ging es also los – mit dem Flieger nach Sydney. Die Reisezeit betrug insgesamt ca. 30 Stunden von zuhause zu meinem Hostel in meinem zukünftigen Wohnort Newcastle. Damit die Kühlkette des Insulins nicht unterbrochen wurde, entschied ich mich für eine Kühltasche (Marke Frio). Zwei dieser Kühltaschen reichten für mich aus, um meinen hochgerechneten Insulinbedarf für ein halbes Jahr zu decken.

Die Taschen erzeugen Kälte durch verdunstendes Wasser. Sie können also ganz einfach mit Wasser aufgefüllt werden und halten das Insulin für mehrere Tage kühl (die Taschen sollten mir im Laufe meines Aufenthaltes noch sehr nutzen). An Bord des Flugzeugs entschied ich mich gegen den Kühlschrank – aus Erzählungen weiß ich, dass Insulin auch schon mal aus Versehen im Gefrierfach gelandet ist … und das wäre fatal, da ich meinen gesamten Insulinbedarf im Handgepäck bei mir hatte.

Dort war auch mein hochgerechneter Bedarf an Teststreifen. Messgeräte nahm ich drei mit und Pens vier – jeweils auf Handgepäck und Koffer verteilt. Ebenso ein paar Tüten meines gewohnten Traubenzuckers. Auch genügend Kanülen verteilte ich auf das Gepäck, von meinem Diabetes und dem Spritzbesteck erzählte ich nichts bei den Kontrollen:

Am Flugahfen: Schlafende Hunde nicht geweckt

2014 flog ich insgesamt 14-mal (nach meinem Semester noch durch Neuseeland und Thailand), und dabei machte ich die Erfahrung, dass man besser keine schlafenden Hunde am Flughafen weckt. Einmal machte ich das … und hatte riesigen bürokratischen Aufwand dadurch. Heute lege ich es jeweils darauf an – und wenn die Kontrolle das Handgepäck dann zum dritten Mal scannt und das Getuschel hinter dem Schalter losgeht, weiß ich immer schon, was zu tun ist:

Ich gehe auf die Leute zu und erkläre, dass ich Diabetiker bin und dass die gesuchten Gegenstände wahrscheinlich meine Spritzen sind. Kurz das Handgepäck aufgemacht … und schon geht’s weiter. Die Flugbescheinigung vom Arzt, die darauf hinweist, dass man auf die Dinge im Gepäck angewiesen ist, sollte dabei natürlich auch stets griffbereit sein.

Mitreisende einweisen

Ich flog mit zwei deutschen Studentinnen, mit denen ich auch die ersten Kontakte vor Ort knüpfte und die ersten Tage verbrachte. Die beiden wies ich am ersten Abend beim Bier direkt ein, so dass ich meist jemanden um mich hatte, der über mich und meine Erkrankung Bescheid wusste.

In den ersten Tagen machte mir weniger die Zeitumstellung, dafür umso mehr die Klimaveränderung zu schaffen. Der Jetlag war bereits nach 3 Tagen völlig auskuriert. Vom 5 °C kalten Deutschland ins 30 °C heiße Australien war für meinen Körper die wesentlich größere Herausforderung. Ich war oft k. o., und der Zucker fuhr Achterbahn, zumal gerade in den ersten Wochen Faktoren wie Stress, Aufregung etc. hinzukamen. Bis die Wohnung gefunden war, die Uni losging, und ich die ersten Kontakte knüpfte, war mein Zucker wohl mehr als schlecht eingestellt. Aber nach 2 bis 3 Wochen hatte sich alles beruhigt … gut für meinen Blutzuckerhaushalt.

Ich konnte selbst und regelmäßig kochen und machte wie daheim regelmäßig Sport. In meiner Wohngemeinschaft fand ich sofort Freunde, die schnell in das Diabetes-Thema eingewiesen wurden, um im Notfall jemanden zu haben, der helfen kann; zusätzliche Sicherheit gibt mir seit Jahren eine Karte, die ich im Portmonnaie trage – und die auf Deutsch und Englisch ausweist, dass ich Diabetiker bin und was im Fall einer Bewusstlosigkeit zu tun ist.

Ständig lockten neue Abenteuer

Ich wollte die Zeit in Australien auskosten, und dazu gehört auch mal eine Flexibilität, die der Diabetes nicht immer erlaubt: schnell mal eine Kokosnuss essen, spontan zu Subway – all diese Dinge waren gerade mit meinem Humaninsulin Actrapid nicht immer optimal. Für mich geht Lebensqualität vor Diabetes, auch wenn ich natürlich versuche, den Diabetes zu beachten und möglichst gut einzustellen. Ständig lockten neue Abenteuer an Wochenenden, in den Ferien und schließlich nach der Studienzeit. Ich reiste nach der Zeit in Australien noch für je zwei Wochen durch Neuseeland und Thailand.

Beispiel Tauchschein: In den Osterferien fuhr ich mit meinem Bruder, der mich besuchen kam, hoch ans Great Barrier Reef. Ich wollte dort Tauchen gehen, musste aber feststellen, dass ich das nur mit einer entsprechenden Bescheinigung vom Arzt darf. Das wusste ich natürlich vorher nicht, aber Unwissenheit schützt vor “Strafe” nicht: Mein behandelnder Arzt schickte mir innerhalb von 24 Stunden eine solche Bescheinigung ausgefüllt und per E-Mail zu; das reichte den Verantwortlichen auf dem Boot leider nicht, um mich mit zum Tauchen zu nehmen.

Die Tauchlehrerin konnte das Risiko nicht genau abschätzen und sagte, sie könne mich nicht mitnehmen. In dem Moment war ich natürlich sehr enttäuscht … trug die Bescheinigung dann bei mir – und konnte auf meinem Rückweg nach Deutschland doch noch meinen Tauchschein in Thailand machen! Natürlich kann Tauchen sehr gefährlich werden, und man muss für mindestens eine Stunde sicher sein, keine Hypoglykämie zu bekommen: also fleißig Bananen essen vor dem Tauchen. Ein Wert von 230 mg/dl (12,8 mmol/l) ist besser als einer um 150 mg/dl (8,3 mmol/l).

Das ist natürlich nicht gut für den Zuckerhaushalt, aber es macht einen Riesenspaß und bedeutet für mich Lebensqualität. Und da wir meist über kleine Zeitintervalle erhöhten Blutzuckers reden, denke ich sehr gut vertretbar. Ob Tauchen, Surfen, oder durch Höhlen 50 Meter unter der Erdoberfläche kriechen: Solange eine Packung Traubenzucker irgendwie in der Nähe ist, geht alles, auch als Diabetiker.

Gute Versorgungsbedingungen in Australien

Die Versorgungsbedingungen in Australien waren sehr gut: Einmal war ich zum Beispiel auf einem zweiwöchigen Trip, hatte zwei Pens bei mir, verlor aber einen. Ich ging also in eine Apotheke und fragte nach einem Novo Pen. Ohne Rezept und ohne Geld bekam ich den Pen ausgehändigt; in einem sehr westlichen Land wie Australien gar kein Problem.

In Thailand sah das Ganze anders aus: Mir ging eine Woche vor der Heimreise mein Traubenzucker aus. Ich suchte jede erreichbare Apotheke auf – nur bedingt brauchbares Englisch der Thailänder und sehr geringes Angebot waren Gründe, warum ich auf kleine Colaflaschen als Dauerbegleiter umsteigen musste. Ich fand in Thailand einfach keinen Traubenzucker. Gute Recherche ist gerade bei längeren Aufenthalten wohl Pflicht.

In Australien gab es “meinen” Traubenzucker auch nicht, und ich musste auf Jelly Beans umsteigen. Die Wirkung dieser Geleebohnen ist natürlich geringfügig anders. Ich testete also erst einmal vorsichtig, bevor ich mich dann bei einer Hypoglykämie wirklich darauf verlassen musste, dass der Zucker schnell ansteigt.

Ähnlich wie daheim

Insgesamt ist zumindest aus Zuckerperspektive eine solch große Reise, ein solches Riesenabenteuer am Ende ähnlich wie in Deutschland. Gerade am Anfang musste ich oft messen, um meine Werte zu stabilisieren. Aber nach nur kurzer Einlebenszeit war es bis auf die genannten Besonderheiten wie oben beschrieben genau wie in Deutschland. Wichtigste Voraussetzung ist meiner Meinung nach eine sehr genaue Recherche vor Reiseantritt: über Medikamentenbeschaffung, Kühlungsmöglichkeiten, Zeitverschiebung, Klimabedingungen.

Dazu kommt die genaue Planung der Medikamente und des Zubehörs. Denn dann kann man die Reise genießen. Wenn dann noch ein paar Menschen aus dem engeren Umfeld Bescheid wissen, steht einer sicheren, aber vor allem sorgenfreien Reise nichts mehr im Wege. Mein Motto ist, dass der Diabetes begleitet und Vorsicht nahelegt, aber niemals im Weg steht.

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2015; 64 (2) Seite 42-44

Ähnliche Beiträge

Lea Raak im Interview: Durch Community zurück ins Leben

Lea Raak lebt seit dem Jahr 2011 mit einem Typ-1-Diabetes. Viele Fragen taten sich nach der Diagnose auf – und eine gewisse Verzweiflung. Die Community hat ihr zurück ins Leben geholfen: „Ich tue mein Bestes und alles andere kommt, wie es kommt.“

11 Minuten

#dedoc° voices meet DDG: die Patienten-Perspektive beim Diabetes Kongress

Im zweiten Teil der Berichte der #dedoc° voices vom diesjährigen Diabetes Kongress kommen weitere Menschen mit Diabetes zu Wort, die im Mai die Fachtagung in Berlin besucht haben, um ihre Perspektive einzubringen.

9 Minuten

Keine Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Über uns

Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.

Diabetes-Anker-Newsletter

Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.

Werde Teil unserer Community

Community-Frage

Mit wem redest du über deinen Diabetes?

Die Antworten auf die Community-Frage werden anonymisiert gesammelt und sind nicht mit dir oder deinem Profil verbunden. Bitte achte darauf, dass deine Antwort auch keine Personenbezogenen Daten enthält.

Werde Teil unserer Community

Folge uns auf unseren Social-Media-Kanälen

Push-Benachrichtigungen

notification icon
Aktiviere Benachrichtigungen auf dieser Seite, um auf dem laufenden zu bleiben, wenn dir Personen schreiben und auf deine Aktivitäten antworten.
notification icon
Du hast die Benachrichtigungen für diese Seite aktiviert
notification icon
Aktiviere Benachrichtigungen auf dieser Seite, um auf dem laufenden zu bleiben, wenn dir Personen schreiben und auf deine Aktivitäten antworten.
notification icon
Du hast die Benachrichtigungen für diese Seite aktiviert