Keine Lust auf Diabetes – was kann helfen?

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Keine Lust auf Diabetes – was kann helfen?

Wer lange Typ-1-Diabetes hat, weiß: Es gibt immer wieder Phasen, in denen der Diabetes nur noch nervt. Das ist normal und gehört bei einer lebenslangen Erkrankung dazu. Damit das aber kein Dauerzustand wird, gibt es verschiedene Möglichkeiten und Strategien, wieder „Lust auf Diabetes“ zu bekommen. Und das gilt nicht nur für Kinder und Jugendliche …

Vor allem Eltern von Jugendlichen berichten immer wieder besorgt, dass ihr Sohn oder ihre Tochter „keine Lust auf Diabetes“ habe. Ist das wirklich ein Problem? Nein, das ist ganz normal und betrifft Menschen mit Dia­betes aller Altersstufen immer mal wieder, die sich kontinuierlich um ihre Selbsttherapie kümmern müssen.

Diabetes ist wie ein lebenslanger Marathon: Er hört nie auf, und niemand hat sich freiwillig dazu entschlossen, daran teilzunehmen. Deshalb muss auch kein Mensch „Lust“ dazu haben, es gibt schönere Hobbys. Und wenn Diabetes das einzige „Hobby“ – besser Lebens­inhalt – ist, dann ist das sicher auch bedenklich.

Wahrscheinlich bedeutet die kurze Bemerkung „keine Lust auf Diabetes“ aber auch viel mehr, nämlich: „Diabetes passt nicht in mein Leben“, „die Behandlung überfordert mich“, „die ständigen Schwankungen machen mir Angst“, „die Kontrollen und Kommentare anderer kränken mich“ oder „ich möchte normal sein – behandelt werden wie alle anderen“. Was kann helfen?

Kein Perfektionismus

Jeder Mensch mit Diabetes und auch seine Angehörigen sollten sich erlauben, Dia­betes doof, ätzend oder noch krasser zu empfinden. Das ist er im Alltag nämlich öfter, als es sich Außenstehende vorstellen können. Selbst die besten neuen Technologien geben mitten in einem Vortrag Alarm, Sensoren messen komische Werte oder der Katheter ist plötzlich zu und kein Ersatz zur Hand. Die Liste lässt sich unendlich verlängern. Hier hilft es schon, sich vom Perfektionismus bei der Diabetestherapie zu verabschieden und Fehler als normal menschlich zu akzeptieren. Das verhindert Schuldgefühle und nervige Konflikte zwischen Eltern und Jugendlichen.

Besser ist, aus typischen Problemen zu lernen und kreativ vorzubeugen. Dazu gehört auch, sich nicht von irgendwelchen „Diabetes-Profis“ in den sozialen Medien demotivieren zu lassen, die stolz verbreiten, wie spielend leicht es ihnen gelänge, 99 % Time in Range, also Zeit im Zielbereich, zu erreichen – manche erreichen scheinbar auch schon 110 % Time in Range. Wie bei den Selfies in den sozialen Medien werden auch hier einige Filter zur Optimierung darübergelaufen sein.

Gefühle von Schuld und Scham vermeiden

Niemand hat etwas dazu beigetragen, dass er oder sie Diabetes bekommen hat – und jeder, der sich um seine Behandlung bemüht, tut mehr für seine Gesundheit als viele andere Menschen ohne die Stoffwechselstörung. Das gilt auch für Menschen mit Typ-2-Dia­be­tes, denen oft unterstellt wird, sie hätten die Erkrankung durch ihr eigenes Verhalten hervorgerufen. Heute ist klar, dass es viele Ursachen für starkes Übergewicht (Adipositas) und Typ-2-Diabetes gibt, die nicht durch „etwas Disziplin“ aus der Welt zu schaffen sind. Wenn die Glukose­werte mal wieder nicht so sind wie erwartet, dann kann jeder darauf mit Insulin oder Kohlenhydraten reagieren und versuchen, die Fehlerquelle zu finden.

Zusätzliche (Selbst-)Vorwürfe oder Scham helfen hier nicht, sondern verstärken nur die negativen Gefühle zum Dia­be­tes. Gerade Eltern, die sich oft viele Jahre um ihr früh an Diabetes erkranktes Kind gekümmert und deshalb auf vieles verzichtet haben, sind berechtigt tief gekränkt und verärgert, wenn der inzwischen zum Teenager herangewachsene Sohn gerade keine Lust auf Diabetes hat und sich nicht um seine Werte schert. Statt sofort mit Vorwürfen zu reagieren, sollten Eltern warten, bis sich der Ärger etwas gelegt hat, und dann mit dem Sohn über realistische Regeln bei der Dia­be­tes­behandlung und gewünschte Hilfe zu sprechen.

Hilfe annehmen

Manchmal ist der Alltag so stressig, dass wirklich kaum Zeit und Kraft für die Dia­be­tes­therapie bleibt. Zunächst können Routinen helfen, nichts zu vergessen. Beispielsweise kann man es sich zur Gewohnheit machen, abends bereits alles für den nächsten Tag zusammenzustellen, z. B. Traubenzucker, ausreichend Insulin in der Pumpe, Ersatzkatheter, ggf. Blutzuckerteststreifen und Messgerät. Ebenso können Rituale am Morgen helfen, alle wichtigen Behandlungsschritte zu bedenken. Einigen hilft am Anfang auch eine Checkliste.

Trotzdem kann es gerade für Jugendliche, die durch Schule, Freizeit, Freunde und Hob­bys überfordert sind, entlastend sein, sich mal eine kleine Auszeit von einigen Aufgaben zu erlauben und die Unterstützung der Eltern anzunehmen. Wenn es verbindliche Absprachen gibt, an die sich alle halten, kann das funktionieren. Eltern erinnern freundlich – ohne Vorwürfe –, der Jugendliche tut das Notwendige – ohne Widerspruch und Streit – und hat den Kopf frei für seine Aufgaben. Das funktioniert in allen Lebensphasen, wenn andere Probleme sehr viel Kraft und Aufmerksamkeit erfordern.

Diabetes eine Nebenrolle geben

Wenn der Diabetes gerade erst festgestellt wurde, dann scheint kein Stein mehr auf dem anderen zu bleiben. Alles muss sich der Therapie unterordnen, ständig muss gerechnet, auf die Uhr geschaut und das Essen analysiert werden. Dazu kommen noch die ganzen Geräte am Körper, die mehr als fremd sind. Und dann sagen noch ein paar altgediente „Diabetiker“, das alles sei doch super und früher sei alles noch viel schlimmer gewesen. Am Anfang überfordern die vielen neuen Informationen, Therapien und technischen Hilfen beim Diabetes. Es braucht einige Wochen, bis sich ein Alltag mit Diabetes eingestellt hat und vieles fast schon automatisch läuft. Dann sollte der Diabetes immer mehr in den Hintergrund treten und das Leben begleiten, aber nicht mehr bestimmen.

Der Blick auf die Sensorwerte ist dabei verführerisch und verleitet dazu, ständig zu schauen, ob etwas getan werden sollte. Dies führt oft zu einer ständigen Beschäftigung mit dem Dia­betes, oft überzogenen Reaktionen und Schwankungen der Werte. Besser ist es, Alarmgrenzen klug auszuwählen und erst dann zu reagieren, wenn es wirklich notwendig ist. Dazu braucht es oft Disziplin und gute Nerven. Auf Dauer gelingt es so aber, den Diabetes im Hintergrund mitlaufen zu lassen.

Optimismus

Menschen mit langer Diabetesdauer, die auf manche Anfänger durch ihre Begeisterung für die neuen Geräte an ihrem Körper (z. B. Systeme zur automatischen Insulindosierung, AID-Systeme) zunächst etwas befremdlich wirken mögen, geben Anlass für einen gut begründeten Optimismus. Diese Menschen haben lange Jahre Erfahrungen mit unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten erlebt und überlebt. Sie haben den rasanten Fortschritt der Diabetesbehandlung und der Technologien in den letzten Jahrzehnten erfahren und können berichten, wie sich dies positiv auf ihr Leben allgemein ausgewirkt hat.

Wenn dieser Fortschritt nur etwa das gleiche Tempo beibehält, sind in den nächsten Jahren enorme Verbesserungen zu erwarten, die vielleicht auch etwas „Lust“ machen, sich mit dem Diabetes zu beschäftigen. Die jungen Menschen verschiedener Diabetes-­Communitys, die sich mit Optimismus und großem Engagement für verbesserte Therapien einsetzen oder selbst daran forschen, sind eindrucksvolle, relevante „Influencer“.


Autorin:

Prof. Dr. Karin Lange
Leiterin Medizinische Psychologie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1, 30625 Hannover

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (1) Seite 20-21

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