“Krieg’ ich jetzt auch Dia-Petes?”

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“Krieg’ ich jetzt auch Dia-Petes?”

Hat die Schwester oder der Bruder Diabetes, machen sich Geschwister oft Sorgen: “Werde ich diese Krankheit auch bekommen?” Was können Eltern antworten, welche Erklärung ist sinnvoll? Professor Karin Lange nennt die Fakten zum Erkrankungsrisiko und gibt Tipps, wie man Kinder verschiedener Altersgruppen angemessen aufklärt.

Krieg̓ ich jetzt auch Dia-Petes mit Sensor?” Mitten beim gemeinsamen Pizza-Essen mit den Großeltern stellte Marlon (5 Jahre) diese Frage. Darauf waren seine Eltern nun gerade gar nicht vorbereitet. Am liebsten hätten sie mit einem bestimmten, klaren “Nein, du bekommst ganz sicher keinen Diabetes” geantwortet. Aber soll man Kindern die Wahrheit vorenthalten? Und was ist eigentlich die Wahrheit?

Marlons Schwester Carla (9 Jahre) hat seit vier Jahren Typ-1-Diabetes. Damals war sie so alt wie Marlon heute. Die erste Zeit war sehr schwierig, weil Carla noch sehr eifersüchtig auf das Brüderchen reagierte und sich allen Behandlungen lautstark widersetzte. Inzwischen gehört der Diabetes zur Familie, Carla geht erstaunlich selbstverständlich und vernünftig mit ihrer Insulinpumpe um.In der Schule kommt sie ohne besondere Hilfe zurecht und ist mit ihren vielen Freundinnen ständig unterwegs. Seit einigen Wochen hat sie auf eigenen Wunsch ein CGM-System. Damit fühlt sie sich noch sicherer und muss nicht mehr so oft in den Finger stechen.

Marlon begeistert sich für jede Art von Technik. Er findet es sehr interessant zu beobachten, wie Carlas Zucker nach dem Frühstück hochgeht. So einen Sensor am Arm will er jetzt auch haben. Er will nämlich ein Cyborg werden, ein Mischwesen aus Mensch und Maschine. Wie soll man diesem Fünfjährigen sein Risiko für Diabetes ehrlich und verständlich erklären?

Die Zahlen und Fakten

Über 90 Prozent der Kinder, die an Typ-1-Diabetes erkranken, haben keine Angehörigen mit der Stoffwechselstörung. Damit handelt es sich um keine klassische Erbkrankheit. Heute geht man davon aus, dass in Deutschland etwa 3 bis 4 von 1.000 Menschen bis zum 30. Lebensjahr einen Typ-1-Diabetes entwickeln.

Ist jedoch bereits ein Kind daran erkrankt, erhöht sich das Risiko für seine Geschwister auf etwa 10 Prozent, d. h. eines von 10 Geschwistern wird auch erkranken. Wenn der Vater Typ-1-Diabetes hat, beträgt das Risiko für seine Kinder 6 Prozent, hat die Mutter Typ-1-Diabetes, beträgt es 4 Prozent. Im Fall von Marlon würde man wegen des Diabetes von Carla von einem 10-prozentigen Risiko für Typ-1-Diabetes ausgehen.

Die Rolle der Genetik

Neue genetische Untersuchungen zeigen, dass eine Kombination aus verschiedenen Faktoren im Erbgut, d. h. veränderter Gene vor allem in einer bestimmten Gen-Gruppe (HLA-Region), ein hohes Diabetesrisiko bereits bei der Geburt anzeigen kann.

Hat ein Neugeborenes solche Risikogene, dann steigt sein Diabetesrisiko auf 5 Prozent, d. h. statistisch werden 5 von 100 Kindern Typ-1-Diabetes bekommen. Hat das Kind zusätzlich ein Geschwister mit Diabetes, steigt sein Risiko auf 10 Prozent. Wichtig: Diese Kinder haben noch keinen Diabetes und sind gesund.

Seit 2016 wird in Sachsen im Rahmen des Freder1k-Projekts das Erbgut von Neugeborenen auf ein erhöhtes Diabetesrisiko untersucht. Die Forscher des DFG-Center for Regenerative Therapies in Dresden suchen nach Wegen, um bei Kindern mit erhöhtem Risiko das Auftreten eines Typ-1-Diabetes zu verhindern (Infos: www.gppad.org/de/projekt-freder1k/). Seit 2018 wird diese Untersuchung auch in anderen Bundesländern und einigen europäischen Staaten angeboten.

Diabetes sicher vorhersagen?

Es ist heute bei einem Kind in Marlons Alter möglich, vorherzusagen, ob bereits ein früher Typ-1-Diabetes vorliegt, ohne dass irgendwelche Anzeichen spürbar sind. In der Fr1da-Studie des Helmholtz-Zentrums in München kann mit Hilfe einer Blutprobe festgestellt werden, ob die Zerstörung der B-Zellen der Bauchspeicheldrüse, die am Ende zum Typ-1-Diabetes führt, schon gestartet ist (www.typ1diabetes-frueherkennung.de, QR-Code).

In Niedersachsen ist die Untersuchung als Teil der Fr1dolin-Studie für Kinder zwischen 2 und 6 Jahren möglich (www.fr1dolin.de, QR-Code). Auch hier suchen die Forscher nach Wegen, um den Diabetes aufzuhalten oder ihn frühzeitig so gut wie möglich zu behandeln.

Risiken sind schwer zu verstehen

Vielleicht schwirrt Ihnen schon der Kopf von den vielen Zahlen. Denn in Wirklichkeit geht es darum, ob ein Kind zu 100 Prozent Diabetes bekommt oder nicht (d. h. zu 0 Prozent). Da hilft es auch nicht zu wissen, dass der Diabetes des eigenen Kindes eigentlich so unwahrscheinlich war wie ein Hauptgewinn im Lotto.

Ebenso schwer ist es, mit anderen Risiken im Alltag umzugehen. Die wichtigsten und häufigsten Risiken für Kinder bestehen im eigenen Haushalt, z. B. durch Reinigungsmittel und Unfälle, und im elterlichen Auto. Da sind die meisten Eltern eher gelassen. Wird dagegen in den Medien über eine schlimme Gewalttat gegen ein Kind berichtet, steigt die Angst der Eltern. Viele begleiten ihr Kind wieder zur Schule und lassen es kaum aus den Augen. Dagegen wird das wirklich bedrohliche Gesundheitsrisiko für Kinder durch Übergewicht und Bewegungsmangel viel zu oft ignoriert.

Vorschulkindern ehrlich antworten

Kinder wie der fünfjährige Marlon leben vor allem im “Hier und Jetzt”. Chronische Krankheit oder Wahrscheinlichkeit können sie noch nicht verstehen. Daher macht es keinen Sinn, Marlon über sein statistisch erhöhtes Risiko aufzuklären. Und als Eltern kann man seine Frage nur ehrlich beantworten: “Es weiß keiner, ob ein Kind Diabetes bekommen wird oder nicht.

Viele Geschwister von Kindern wie Carla bekommen keinen Diabetes und ein paar bekommen auch Diabetes. Aber alle Kinder haben nichts falsch gemacht. Sie können nichts dafür. Und wenn der Diabetes kommt, können die Eltern gleich richtig helfen.” Und noch etwas: “Der Sensor von Carla ist sehr teuer und hilft nur Kindern mit Diabetes.” Für Marlon ist ein Schrittzähler am Arm viel interessanter.

Schulkinder nicht beunruhigen

Auch Grundschulkinder können Wahrscheinlichkeiten und statistische Risiken noch nicht verstehen. Für sie gelten die gleichen Empfehlungen wie für den fünfjährigen Marlon.

Eine Ausnahme stellen Kinder mit mehreren positiven diabetesspezifischen Antikörpern dar. Sie sollten ehrlich darüber informiert werden, warum Kontrolluntersuchungen und Arztbesuche notwendig sind. Sie haben Typ-1-Diabetes “ganz am Anfang”. Die Eltern und Ärzte wissen, worauf man achten muss, damit es den Kindern gut geht.

Die Kinder können selbst lernen, was sie tun können, damit sie wie alle anderen Kinder Spaß haben, mit Freunden spielen und zur Schule gehen können. Je selbstverständlicher und gelassener die Eltern in dieser Phase mit dem frühen Diabetes umgehen, umso leichter wird es ihrem Kind fallen, in den Diabetes und seine Therapie hineinzuwachsen.

Jugendliche sachlich informieren

Wenn Jugendliche erleben, dass ihre Eltern oder ein Geschwister an Typ-1-Diabetes erkrankt ist, machen sich die meisten auch Gedanken über die eigene Gesundheit. Sie sollten auf jeden Fall wissen, dass Diabetes nicht direkt übertragbar ist. Die meisten können nun auch ihr statistisches Risiko nach anschaulicher Erklärung (s. Abb. S. 9) verstehen. Die wirklich gute Nachricht ist für sie, dass Neuerkrankungen an Typ-1-Diabetes nach der Pubertät seltener werden.

Die Erfahrung zeigt, dass sich viele Jugendliche und junge Erwachsene unnötig große Sorgen machen oder über viele Jahre gemacht haben. Dagegen helfen verständliche und aktuelle Informationen. Das gilt auch, wenn in der frühen Kindheit das genetische Risiko oder diabetesspezifische Antikörper untersucht wurden. Das beste Rezept gegen das Gefühl von Hilflosigkeit ist es, gut informiert zu sein. Dazu gehört auch das Wissen, wie Diabetes so gut behandelt werden kann, dass die Zukunftspläne davon nicht beeinträchtigt werden.|

Hier gelangen Sie direkt zur Früherkennungsstudie Fr1dolin (Niedersachsen): www.fr1dolin.de


von Prof. Dr. Karin Lange
Diplom-Psychologin, Leiterin Medizinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover

Kontakt:
E-Mail: Lange.Karin@MH-Hannover.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2018; 11 (1) Seite 8-10

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