„Lebenserwartung ist enorm gestiegen“

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„Lebenserwartung ist enorm gestiegen“

50 Jahre Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) – das sind fünf Jahrzehnte Diabetikerversorgung mit Höhen und Tiefen. Prof. Dr. Andreas Fritsche, Sprecher der DDG, über medizinischen Fortschritt und die Selbstverantwortung des Patienten.

Diabetes-Journal (DJ): 50 Jahre DDG – was fällt Ihnen dazu als Erstes ein?

Prof. Dr. Andreas Fritsche: Wenn ich an die Geschichte der Fachgesellschaft denke, denke ich sofort an die Geschichte der Krankheit Diabetes. In diesen 50 Jahren hat die Häufigkeit, insbesondere des Typ-2-Diabetes, enorm zugenommen. Waren es 1964 nur 1 Prozent der Bevölkerung, sind wir heute bei mindestens 6 Millionen Menschen mit Diabetes. Fast jeder Zehnte ist jetzt betroffen, Diabetes ist zu einer Epidemie geworden.

DJ: Die Diabetestherapie steckte damals ja noch in den Kinderschuhen …

Fritsche: Allerdings. Die Meilensteine der Diabetestherapie wie Schulung, Selbstkontrolle und Eigenverantwortung des Patienten gab es damals noch nicht. Und es waren noch lange nicht so viele wirksame, moderne Medikamente für Typ-2-Diabetiker auf dem Markt.

Es existierten auch nur Rinder- und Schweineinsulin. Humaninsulin (Ende der 70er Jahre) oder Analoginsulin (Mitte der 90er Jahre), die Blutzuckerselbstmessung (Streifentest ab 1978) und das HbA1c waren noch völlig unbekannt. Es stand lediglich die Urinzuckermessung zur Verfügung. Auch die Insulinpumpe entwickelte sich erst viel später (Ende der 70er Jahre), und die Nadeln für die Insulininjektion waren 1964 noch 10-mal länger und 20-mal dicker als heute. Diabetespatienten mussten vielfach auch strenge Diätvorschriften befolgen, die wir heute als idiotisch ansehen.

Wir feiern in diesem Jahr den Geburtstag unserer Fachgesellschaft, ich denke aber auch sofort an die Wahrnehmung der Erkrankung in der Gesellschaft.

DJ: Wie ist die Wahrnehmung heute, wie war sie früher?

Fritsche: Diabetes wird heute zunehmend als Lebensstil-Erkrankung wahrgenommen. Zum einen tut man damit den Typ-1-Diabetikern unrecht, zum anderen aber auch den Typ-2-Diabetikern, denn auch sie sind nicht allein durch ihren Lebensstil krank geworden. Es spielen immer auch die genetischen Faktoren eine große Rolle. Von daher hat sich – trotz aller Aufklärung – nicht so viel in der Wahrnehmung verändert. Diabetes erhält heute aber weitaus mehr gesellschaftliche Aufmerksamkeit.

DJ: Früher wurden Diabetiker hauptsächlich im Krankenhaus behandelt. Wann kam der Durchbruch für die diabetologischen Schwerpunktpraxen?

Fritsche: Diese Entwicklung ist eng mit der Weiterbildung zum Diabetologen und zur Diabetesberaterin verbunden. Der erste Weiterbildungskurs für Berater fand 1983/84 statt, den ersten Diabetologen DDG gab es 1995, was auch zur Gründung der ersten Schwerpunktpraxis führte. In den 1980er Jahren übernahmen die Diabetesberater einen Großteil der Versorgung mit und schulten die Patienten. Diese Weiterbildung von Krankenschwestern und Diätassistentinnen war ein immenser Fortschritt. Ebenso wie natürlich die Fortbildung zum Diabetologen DDG, die als eine große Leistung unserer Fachgesellschaft zu werten ist. Leider ist der Diabetologe immer noch kein eigenständiges Teilgebiet, der korrespondierende Facharzt ist nach wie vor der Endokrinologe.

DJ: Wie schätzen Sie die Behandlungsqualität von heute ein?

Fritsche: Im Vergleich zu 1964 hat sich unglaublich viel getan. Was sich besonders stark verändert hat: Vor 50 Jahren kannte man keine Patienten, die 50 Jahre Typ-1-Diabetes hatten. Typ-2-Diabetiker lebten maximal 5 Jahre, dann sind sie gestorben – weil sie z. B. mit 70 Jahren daran erkrankten und mit 75 bereits tot waren. Die Lebenserwartung ist enorm gestiegen. Ich kenne Patienten, die seit über 50 Jahren Typ 1 haben und völlig gesund sind. Auch Typ-2-Diabetiker blicken heute auf eine Krankheitsdauer von 30 bis 40 Jahren zurück.

DJ: Wieso gibt es heute 10-mal mehr Diabetiker als vor 50 Jahren?

Fritsche: Wir wissen nicht genau, warum es diese extreme Zunahme vor allem des Typ 2 gibt. Übergewicht und Bewegungsmangel sind jedenfalls nicht die alleinigen Ursachen für den starken Diabetesanstieg, wie neue Zahlen belegen. Hätte man 1964 gefragt: Ist der Dia-betes in 50 Jahren besiegt, hätten viele bestimmt gesagt: Ja. Wir haben es leider nicht geschafft, im Gegenteil: Es ist schlimmer geworden. Um weitere Risikofaktoren des Diabetes erkennen zu können, muss deshalb die Forschung intensiviert werden. Als positives Zeichen seitens der Politik werte ich, dass es ein Deutsches Zentrum für Diabetesforschung gibt.

DJ: Welche Fortschritte sehen Sie hier?

Fritsche: Ziel der Diabetesforschung bleibt weiterhin, Diabetes zu verhindern und Menschen, die daran erkrankt sind, zu heilen. Es geht also um Prävention und Heilung. Gleiches gilt für die Folgeerkrankungen. Von der Heilung sind wir in allen Punkten aber weit entfernt.

Dafür gestaltet sich die Diabetestherapie für den Patienten heute viel einfacher – durch technisch verfeinerte Pumpen, neue Messgeräte und modernes Datenmanagement. Die Entwicklung eines geschlossenen Systems (Closed Loop), das gleichzeitig den Zucker misst und Insulin abgibt, lässt – trotz kontinuierlicher Glukosemessung – noch weiter auf sich warten.

DJ: Stimmt es, dass auch namhafte Diabetologen seinerzeit gegen die Einführung der Selbstkontrolle der Patienten waren und die Blutzuckermessung weiterhin nur in den Händen von Ärzten belassen wollten?

Fritsche: Das ist richtig und lag wohl an dem damaligen Arztbild: Mit Empowerment und Selbstverantwortung des Patienten hatten vor allem einige der älteren Ärzte ihre Schwierigkeiten.

DJ: Wo steht die Diabetologie heute?

Fritsche: Diabetes ist eine der wichtigsten und zahlenmäßig bedeutendsten Erkrankungen. Die Diabetologie hat in Deutschland die letzten 50 Jahre einiges für die Patienten erreicht. Dennoch hat sie in Politik, Forschung, Lehre und Ausbildung nicht die Bedeutung, die sie haben müsste: Die Anzahl diabetologischer Lehrstühle nimmt beispielsweise ab und damit auch die Anzahl der Studenten, die am Ende ihrer Ausbildung die Behandlung übernehmen können.

DJ: Wie hat sich die gesundheitspolitische Arbeit der DDG verändert, seit es den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA; seit 2004) und das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG; ebenfalls seit 2004) gibt?

Fritsche: Ja, neu ist das stärkere Engagement der DDG in der Gesundheitspolitik. Wir müssen in ständigem Dialog mit der Politik sein, um miteinander die richtigen Weichen zu stellen. Das gilt für die Bewertung neuer Arzneimittel ebenso wie für die Aufgabe, die sektorenübergreifende Kooperation in der Versorgung der Patienten zu verbessern. Wichtig ist hierbei auch, dass die Geschäftsstelle der DDG nach Berlin umgezogen ist und wir nun “vor Ort” sind.

DJ: Was gibt es Neues zur Nationalen Diabetesstrategie?

Fritsche: Es gibt eine neue Diabetes-Initiative des Landes Schleswig-Holstein, die auch in Baden-Württemberg breite Unterstützung findet. Diese Initiativen werden der Nationalen Diabetesstrategie weiteren Schub und Rückenwind geben.DJ: Was wünschen Sie Menschen mit Diabetes für die nächsten 50 Jahre?Fritsche: Dass Diabetes geheilt werden kann und dies nicht noch weitere 50 Jahre dauert.

50 Jahre DDG: Wir gratulieren!
Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) wurde am 7. April 1964 am Rande des Internisten-Kongresses in Wiesbaden gegründet. Das Jubiläum feiert die DDG beim Diabetes Kongress 2014 von 28. bis 31. Mai in Berlin (www.diabeteskongress.de). Wir gratulieren!

Das Interview führte Angela Monecke.

Kontakt:
Kirchheim-Verlag, Kaiserstra0e 41, 55116 Mainz, Tel.: (06131) 9 60 70 0,
Fax: (06131) 9 60 70 90, E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2014; 63 (5) Seite 58-60

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