Libre, Linse und liegende Sensoren

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Libre, Linse und liegende Sensoren

In der Diabetesbehandlung sind Patienten, Eltern und Behandlungsteams bei der Beurteilung der Stoffwechsellage voll auf die Blutzuckerwerte “eingeschossen”. Aktuelle technische Entwicklungen laden dazu ein, sich näher mit Alternativen zu beschäftigen

Die Blutzuckermessung im klinischen Gebrauch und auch im Alltag für Menschen mit Diabetes gibt es erst seit den 80er Jahren. Zuvor konnte lediglich der Zucker im Urin gemessen werden, was nur ein Rückblick auf den Blutzuckerspiegel der vergangenen Stunden war. Trotzdem war diese Methode seit dem Altertum über Jahrtausende als diagnostische Methode etabliert (ganz früher als Geschmacksprobe).

Blutzuckermessung: Revolution der Therapie

Die Möglichkeit der Messung des Blutzuckers am Patienten und somit die Möglichkeit, aktuelle Werte zu gewinnen, hat als eine Voraussetzung zu einer Revolution der Therapie geführt, nämlich zur Etablierung der intensivierten Insulintherapie.

In den letzten 30 Jahren hat sich die Größe der Blutzuckermessgeräte immer weiter verkleinert, die Vielfalt der Geräte hat zugenommen und auch deren Zusatzfunktionen (z. B. die Berechnung der Durchschnittswerte, des abgeschätzten HbA1c-Wertes oder die Tagebuchführung) sind stetig mehr geworden. Doch durch den zunehmenden Fortschritt verlieren die Geräte ebenso schnell an Aktualität. So ist ein kleines Messgerät, dass mit dem iPhone 4 kombiniert auch als Tagebuch diente, heute schon nicht mehr “up-to-date” – aufgrund der veränderten Stecker neuerer iPhones.

Sehnsucht nach Alternativen zum Piks

Da eine Blutzuckermessung immer mit einem kleinen Einstich zur Gewinnung des Blutes verbunden ist, ist die Suche nach Alternativen zur “blutigen” Messung fast ebenso alt wie diese selbst. Als erste mobile Möglichkeit, Zuckerwerte im Körper kontinuierlich zu messen, gilt die Ulmer Zuckeruhr, die im innerklinischen Bereich eingesetzt wurde, eine Art Vorläufer heutiger Sensorsysteme. Über einen Mini-Schlauch, der in die Haut eingeführt wurde, konnte die Gewebsflüssigkeit in dieser Uhr auf ihren Zuckergehalt hin untersucht und ausgewertet werden.

Im menschlichen Körper sind alle vorhandenen Flüssigkeiten mehr oder weniger miteinander verbunden. Daher können die in diesen Flüssigkeiten gelösten kleinen Teilchen wie Salze oder eben auch Zuckermoleküle von der einen Flüssigkeit in die andere wandern. Und genau das geschieht auch, nach dem Prinzip des Konzentrationsausgleichs: Erhöht sich in einer der Flüssigkeiten die Menge eines Stoffes, so wandert er auch in die anderen Flüssigkeiten, bis in allen Teilen die gleiche Menge des Stoffes vorhanden ist.

Prinzip der Glukosesensoren

Dieses Prinzip machen sich Glukosesensoren, die schon seit einigen Jahren erhältlich sind, zunutze. Ebenso wie bei einem Blutzuckerteststreifen sind Enzyme, die den Zucker verstoffwechseln können, auf einem kleinen Plättchen angebracht. Durch die Verstoffwechselung kommt es zu einer Art geringen Stromfluss, der dann gemessen und in einen Blutzuckerwert umgerechnet wird.

So können Glukosesensoren, die in der Haut angebracht sind, die Konzentration in der Flüssigkeit zwischen den Hautzellen kontinuierlich messen und darstellen. Dass diese Sensoren im Vergleich zum Blutzuckerwert etwas nachhängen, liegt vor allem an dem Konzentrationsausgleich, der eben erst einmal stattfinden muss.

Ebenso kann es sein, dass z. B. in der Phase des Muskelauffülleffektes, z. B. nach Sport bei rascher Aufnahme von vielen Kohlenhydraten, der Blutzucker sehr rasch ansteigt. Da sich die Muskeln aber sehr schnell den Zucker “zurückholen”, und zwar bevor es zum Konzentrationsausgleich kommen kann, ist der Sensorwert in solch einer Phase immer niedriger als der Blutzuckerwert. Solche Phasen können von Anwendern aber schnell als Sensorfehler gedeutet werden.

Daher ist eine gute und kontinuierliche Schulung wesentlicher Bestandteil auch der Sensoranwendung, die im besten Fall zu einer Sensortherapie wird, wenn die Anwender (bei Kindern: die Eltern) den Umgang mit dem Sensor beherrschen, also z. B. die richtige Reaktion auf Alarme. Ganz neue Pumpen können nun in Kombination mit einem Sensor sogar die Insulinzufuhr unterbrechen, bevor eine Unterzuckerung entsteht.

Ein Versuch, den Blutzucker oder einen Näherungswert ohne Einsatz einer Nadel oder eines Sensordrahtes zu verwenden, war die “Pendra-Uhr” um 2004, die jedoch nie Marktreife erreichte.

Flash Glucose Monitoring

Das neue und gerade viel diskutierte Gerät FreeStyle Libre (Flash Glucose Monitoring) ist im Grundprinzip ein Sensorsystem wie zuvor beschrieben. Allerdings werden bei diesem System die Werte nicht kontinuierlich angezeigt, sondern müssen durch ein Ablesen am Sensor aktiv angefordert werden. Dann allerdings wird außer dem aktuellen Wert auch die Verlaufskurve der letzten acht Stunden angezeigt, ebenso wie ein Trendpfeil, der die aktuelle Richtung des Zuckerverlaufs schnell und einfach zeigt.

Viele weitere Funktionen wie eine Tagebuchfunktion oder ein Insulinrechner können den Anwendern helfen. Allerdings setzt dieses eine konsequente Anwendung der Funktionen und auch das Rekapitulieren der dokumentierten Werte voraus, um daraus einen Nutzen ziehen zu können.

Bei Anschluss an einen Computer kann mithilfe einer Software ein Bericht über die letzten Wochen erstellt werden, der im besten Fall bei konsequenter Eingabe von Kohlenhydraten, Insulinmengen und Aktivitäten eine Dokumentation ersetzen kann. Wichtig zu wissen ist aber, dass diese Daten in anonymisierter Form bei einer bestehenden Internetverbindung an die Firma gesendet werden. Auch wenn in der Facebook-Ära das Wahren der eigenen Daten nicht mehr so wichtig genommen wird, sollte man sich dessen bewusst sein.

Als erste Krankenkasse hat die DAK in Deutschland ein großes Programm gestartet, um ihren Versicherten regelhaften Zugang zu den Libre-Geräten zu gewähren. Doch nicht nur für Anwender bieten diese Sensorgeräte Vorteile. Auch für Diabetesteams lassen sich aus den gewonnenen Daten viele nützliche Informationen für die Anpassung von Therapie und Verhaltensweisen erzielen.

Die größte Herausforderung für alle Beteiligten ist die Vielfalt der verschiedenen tabellarischen und graphischen Aufbereitung, z. B. von Blutzuckerdaten aus Geräten, Computerausdrucken oder Apps.

Was wird sich durchsetzen?

Welche der vielen Messmethoden sich letztendlich im Alltag durchsetzen wird, ist derzeit offen. Die Anwendung eines Sensors ist aus Expertensicht etabliert, der regelhafte Einatz scheitert aktuell an der Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Hier könnte das FreeStyle Libre ebenso ein Wegbereiter sein wie die Fachleute, die in großen und umfangreichen Stellungnahmen und Verfahren den behördlichen Stellen den Nutzen und die Sicherheit aktueller Sensoren darlegen.

Bereits jetzt können Insulinpumpen, die mit einem Sensor kombiniert sind, die Insulinzufuhr bei Unterzuckerungsgefahr ausschalten. Der Weg zu einem kompletten Regelkreislauf aus Zuckerwert, Messung und Insulinabgabe ist damit vorgebahnt und nur noch eine Frage der Zeit.

Als Zukunftsmusik gilt aktuell die Kontaktlinse zur Zuckermessung in der Tränenflüssigkeit, die u. a. von Google entwickelt wurde. Wie eine als Sehhilfe getragene Kontaktlinse soll diese Linse speziell den Zuckerwert in der Tränenflüssigkeit berechnen und per Funk an ein Empfängergerät übertragen. Weitere Ideen hierbei sind z. B. ein Lichthinweis als Warnung für den Anwender.

Die Blutzuckermessung hat in den letzten 30 Jahren die Werte für die tägliche Anpassung der Insulindosis, mögliche Kohlenhydrateinnahmen oder besonderes Verhalten (z. B. Sport) geliefert. Die aktuelle Vielfalt der technischen Neuerungen und die stetige Verbesserung der Technologien lassen daran zweifeln, dass es in weiteren 30 Jahren noch Blutzuckermessungen geben wird. Welche technischen Entwicklungen die Diabetestherapie auch nehmen wird: Gewinner ist immer der Betroffene.

Fazit

Lange Zeit konnte der Zucker nur im Urin gemessen werden – damit erhielt man einen Rückblick auf den Blutzuckerspiegel der letzten Stunden. Als die Messung des Blutzuckers möglich wurde, entstand daraus auch eine Revolution in der Therapie (Etablierung der intensivierten Insulintherapie). In den letzten Jahren wurden Technologien entwickelt, die eine kontinuierliche Messung der Glukosewerte in der Gewebsflüssigkeit möglich machen. Solche CGM-Systeme können helfen, Unterzuckerungen zu vermeiden.

Auch beim Flash Glucose Monitoring (FGM) zeigen Trendpfeile den Zuckerverlauf schnell an, so dass der Nutzer rasch reagieren kann. Diese Entwicklungen könnten das Ende der Blutzuckermessungen bedeuten.


von Dr. med. Torben Biester
Diabetologe DDG,
Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin “Auf der Bult”, Hannover,
E-Mail: biester@hka.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2015; 8 (2) Seite 8-10

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