Mehr Balance für die Nutzenbewertung

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Mehr Balance für die Nutzenbewertung

Nicht das Neue, sondern nur das Bessere ist Feind des Guten. Dieses Prinzip soll seit 2011 auch in Deutschland die Preisgestaltung für Arzneimittel leiten. Doch der AMNOG-Prozess mit seiner frühen Nutzenbewertung hat Schwächen, gerade für die Diabetologie. Die jetzt verabschiedete Reform wird daran nichts ändern.

Das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) wird allgemein als Erfolg gesehen. So fasste Prof. Dr. Jürgen Wasem auf der Diskussionsveranstaltung Diabetes 2030 die Meinung zur frühen Nutzenbewertung von Medikamenten zusammen. Zum zehnten Geburtstag des 2011 mit dem AMNOG eingeführten Verfahrens konnte man solch positive Analysen lesen, zusammen mit dem Hinweis auf das “lernende System” des AMNOG. Doch nach all den Jahren sehen Experten immer noch Defizite, der Gesundheitssystem-Forscher Wasem attestierte dem AMNOG daher den Bedarf nach einer Version 2.0.

Diese Überarbeitung des AMNOG wurde am 20. Oktober als Teil des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes vom Deutschen Bundestag beschlossen – genau an dem Tag, an dem auch “Diabetes 2030” in Berlin stattfand. Nach Wasems Einschätzung wurden bei dieser AMNOG-Reform einige Kritikpunkte der Krankenkassen umgesetzt, andere Punkte von Seiten der Wissenschaft und der Pharmahersteller seien dagegen nicht aufgegriffen worden. Nicht konkret mit Bezug darauf erinnerte Prof. Dr. Andrew Ullmann bei der Debatte der Reform im Bundestag an einen sicher relevanten Punkt: “Das Gesetz ist immer noch ein Finanzstabilisierungsgesetz. Es macht keine Freude, so ein Gesetz zu erarbeiten oder beschließen zu müssen”, gestand der FDP-Poltiker zu.

Direkt auf die frühe Nutzenbewertung des AMNOGs ging Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach in der Debatte ein. Sein Redebeitrag verdeutlichte Sinn und Zweck der Regelung: “In Deutschland ist es möglich – das ist in Europa in keinem anderen Land möglich –, mit Arzneimitteln auf den Markt zu kommen, die keinen gesicherten oder nur einen sehr geringen Zusatznutzen bringen im Vergleich zu bereits erhältlichen Arzneimitteln, aber trotzdem deutlich mehr – zum Teil 50 Prozent oder sogar 100 Prozent – kosten.”

Das ursprüngliche AMNOG-Verfahren von 2011 setzte dem erstmals in Deutschland eine klar geregelte Nutzenbewertung von Arzneimitteln entgegen. Die wird im Allgemeinen als “früh” bezeichnet und verpflichtet den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), innerhalb von sechs Monaten nach Markteintritt eines neuen Arzneimittels zu bewerten, ob und in welchem Ausmaß ein Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie vorhanden ist. Der G-BA-Beschluss zum Zusatznutzen bildet dann den Ausgangspunkt für die sechsmonatigen Preisverhandlungen zwischen dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) und dem jeweiligen pharmazeutischen Unternehmer. Das oft beklagte Manko des Systems bisher: Pharmaunternehmen konnten den Preis für Neuheiten in den ersten zwölf Monaten nach Markteintritt frei bestimmen. So habe man mit Medikamenten, die letztlich keinen zusätzlichen oder nur einen sehr geringen Nutzen gebracht haben, sehr hohe Gewinne machen können, kritisierte Lauterbach und wählte zur Beschreibung dafür den aktuellen Begriff der “Übergewinne”.

Bereits in der Feierstunde zum zehnten AMNOG-Geburtstag hatte der G-BA-Vorsitzende Prof. Josef Hecken seinen Standpunkte dazu verdeutlicht: “Nach nur sechs Monaten ist durch die datenbasierte Entscheidung des G-BA klar, ob ein neues Arzneimittel einen zusätzlichen Effekt für die Versorgung bringt oder nicht. Trotzdem gilt der selbstgewählte Preis des Herstellers aktuell zwölf Monate lang.Das passt nicht zusammen. Ich persönlich bin dafür, verhandelte Preise ab dem Zeitpunkt der G-BA-Entscheidung gelten zu lassen.” Die Reform sieht genau das jetzt vor, der ausgehandelte Preis soll künftig rückwirkend ab dem siebten Monat nach der Marktzulassung des Medikaments gelten.

Benachteiligung chronischer Krankheiten

Die nun optimierten Regelungen zur Preisfindung basieren immer noch auf der eigentlichen frühen Nutzenbewertung, dem Kernstück des Systems. Doch auch die von Hecken gelobte “datenbasierte Entscheidung” zum Zusatznutzen ist in den über zehn Jahren nicht frei von Kritik geblieben. Wasem verwies darauf, dass die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) “und damit sicherlich unverdächtige Zeitzeugen” in dem Prozess eine Benachteiligung chronischer Erkrankungen sehen. “Ich denke, da ist etwas dran”, bestätigte der Experte der Universität Duisburg-Essen. Chronischen Erkrankungen sei gemein, dass ihre Therapie gar nicht auf kurzfristige Endpunkte abzielen würde, sondern auf längerfristige Modifizierung von Verläufen. “Ich bin nicht der Auffassung, dass wir pauschal jeden Surrogatparameter mit Zusatznutzen ausstatten”, machte Wasem deutlich. “Aber wir brauchen eine Diskission über Balance”, forderte er eine angemessene Behandlung der Arzneimittel gegen chronische Erkrankungen.

Gerade in der Diabetologie fällt es tatsächlich schwer, das AMNOG als Erfolgsgeschichte zu sehen: 23 Arzneimittel zur Behandlung von Diabetes mit 15 Wirkstoffen haben laut Thomas Müller, Abteilungsleiter für Arzneimittel im Bundesministerium für Gesundheit, seit 2011 die Nutzenbewertung durchlaufen. Mit vier Opt-outs – also Marktrückzug, ohne dass für das Arzneimittel im AMNOG-Prozess ein Erstattungsbetrag festgesetzt wurde, – und drei sonstigen Außervertriebnahmen diagnostizierte er bei “Diabetes 2030” einenhohen Anteil an Diabetes-Arzneimitteln, die in Deutschland nicht zur Verfügung stehen. Fünf Arzneimittel hätten aktuell einen Zusatznutzen vom G-BA erhalten, das entspreche 21 Prozent – das heißt, knapp 80 Prozent haben keinen Zusatznutzen. Nur für die Psychiatrie findet sich in Müllers Übersicht ein noch höherer Anteil an AMNOG-Verfahren, die mit dem Urteil “Zusatznutzen nicht belegt” ausgingen. Insgesamt bescheinigte der G-BA über alle Indikationen bisher in 672 Verfahren der Nutzenbewertung in 43,3 Prozent der Fälle einen nicht belegten Zusatznutzen.


Autor
Marcus Sefrin

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (1) Seite 44-45

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