Mein Kind ist zu dick – was tun?

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Mein Kind ist zu dick – was tun?

Kinder und Jugendliche bewegen sich heute weniger als noch vor 10 Jahren. Unter anderem deshalb steigt für sie das Risiko, übergewichtig zu werden oder sogar Adipositas zu entwickeln – das gilt auch für Kinder mit Diabetes. Dr. Susanna Wiegand erklärt, auf welchen “Baustellen” Familien wenn nötig aktiv werden können.

Vergleichen Eltern ihre eigene Kinderzeit mit der ihrer Sprösslinge, stellen sie oft fest: Die Umgebungsbedingungen für Kinder und Jugendliche haben sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Es gibt weniger Freiräume, dafür aber eine immer größere Medienlandschaft für alle Altersgruppen. Dadurch hat die körperliche Aktivität abgenommen – und parallel dazu Fitness und motorische Fertigkeiten. Es werden immer mehr verarbeitete Lebensmittel verzehrt – insbesondere Kinder und Jugendliche sind Werbe-Adressaten für spezielle Produkte (“Kinderlebensmittel”).

Die Umwelt ist also für viele Kinder übergewichtsfördernd geworden. Da das Gewicht aber auch durch die angeborene Veranlagung (genetische Disposition) beeinflusst wird (macht ca. 50 Prozent der Gewichtsentwicklung aus), werden nicht alle Kinder/Jugendliche unter diesen veränderten Bedingungen übergewichtig. Insgesamt wirken sich die Veränderungen aber für viele Kinder negativ auf ihre Gesamtentwicklung aus – insbesondere, wenn zusätzlich eine chronische Erkrankung wie Typ-1-Diabetes besteht. Zu Beurteilung des Übergewichts braucht man BMI-Perzentilen (www.a-g-a.de; myBMI4Kids), da Alter und Geschlecht berücksichtigt werden müssen.

Von Anfang an

Vorbeugen ist besser als behandeln – wenn bei einem Kind/Jugendlichen gerade die Diagnose eines insulinpflichtigen Diabetes gestellt wurde und die Familie sich noch gar nicht vorstellen kann, wie die Behandlung überhaupt im Alltag funktionieren soll, klingt es natürlich erst einmal merkwürdig, über das Vermeiden von Überwicht zu sprechen – erst recht, wenn der Diagnose eine Zeit mit Gewichtsabnahme vorausgegangen ist.

Ein gutes Schulungsteam vermittelt Ihrem Kind und auch Ihnen heutzutage bei der Ersteinstellung das Gefühl, dass ein Leben mit Diabetes sehr gut möglich ist, und versucht, die Angst zu nehmen, dass jetzt viele Veränderungen notwendig sind. “Die Diabetesbehandlung wird für die Familie angepasst und nicht umgekehrt!” – Mit dieser Grundhaltung wurde und wird auch in unserem Zentrum beraten. Es gibt aber für Kinder/Jugendliche Umweltbedingungen und Lebensumstände, die eine gute Behandlung erschweren, z. B.:

  • keine gemeinsamen Mahlzeiten, fehlende Regeln zu Mediennutzung und zu wenig Schlaf
  • ungünstige Lebensmittelauswahl im Haushalt (kein frisches Gemüse/Obst, fett- und zuckerhaltige Produkte, Fertiggerichte, gesüßte Getränke)
  • wechselnde Lebensmittelpunkte

Wenn bei Ihrem Kind zusätzlich eine entsprechende Veranlagung besteht, sind es oft diese Faktoren, die Übergewicht/Adipositas enstehen lassen, auch und gerade bei Typ-1-Diabetes.

Deshalb sollten bei der Erstschulung mit jeder Familie alle gewichtsrelevanten Alltagsbereiche besprochen und die altersentsprechenden “Sollwerte” vermittelt werden (s. S. 35). Wenn mehrere Bereiche nicht den Empfehlungen entsprechen, kann das durchaus bedeuten, dass in der Erstschulung Veränderungen des Lifestyles für die ganze Familie angesprochen werden müssen.

Wunderwaffe Bewegung

Durch regelmäßige Bewegung – und damit ist nicht nur Sport, sondern insbesondere die Bewegung im Alltag gemeint – kann die Insulinwirkung deutlich verbessert werden. Diesen Effekt kennen Sie sicher auch, z. B. bei Wanderungen oder Radtouren. Aber auch regelmäßiges Gassigehen mit einem Hund oder die Benutzung des Fahrrads anstelle von Bus oder U-Bahn für den Schulweg können bewirken, dass der Insulinbedarf Ihres Kindes abnimmt.

Statistisch bewegen sich Kinder und Jugendliche heute deutlich weniger als vor 10 Jahren. Das betrifft die Alltagsaktivität und den Sport. Parallel dazu ist die Zeit für Medienkonsum deutlich gestiegen. Dabei ist Bewegung (also Alltagsaktivität und Sport) eigentlich eine “Wunderwaffe”, insbesondere für Jugendliche mit Typ-1-Diabetes und Gewichtsproblemen: Es wird mehr Energie verbraucht, und die Insulinwirkung wird deutlich besser. In dieser Stoffwechselsituation ist es viel einfacher, Übergewicht zu bekämpfen, als durch irgendeine Diät, bei der einseitig und nur für eine gewisse Zeit die Energieaufnahme reduziert wird.

Auch ist mehr körperliche Aktivität der Faktor, der Menschen mit langfristig erfolgreicher Gewichtsreduktion von denen unterscheidet, die nach einer Gewichtsabnahme rasch wieder zunehmen (Jojo-Effekt). Die alltägliche Bewegung hat dabei für den Stoffwechsel eine größere Bedeutung als das Training im Sportverein.

Eine BE ist nicht gleich eine BE

Kohlenhydrate aus unterschiedlichen Lebensmitteln kommen unterschiedlich rasch im Blut an und verursachen dann sehr unterschiedliche Blutzuckerkurven. Dabei gibt es eigentlich kein generelles “gut” oder “schlecht”, vielmehr kommt es auf die Situation an (z. B. “schnelle” BE: Traubenzucker bei Unterzuckerung) und die Kunst, die Insulindosierung dem Essen anzupassen (z. B. verlängerter Bolus bei fettreicher Mahlzeit). Wenn es aber darum geht, Übergewicht bei Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes zu vermeiden oder gar zu behandeln, gelten zusätzliche Spielregeln:

  • Stark zuckerhaltige Nahrungsmittel (Süßigkeiten, gesüßte Milchprodukte, Softdrinks usw.) sollten gemieden werden, da sie viel Insulin in kurzer Zeit erfordern, eher zu Blutzuckerschwankungen führen und Heißhunger verursachen können.
  • Stark fetthaltige Nahrungsmittel (Frittiertes, Wurst, Chips usw.) enthalten pro Gramm ca. doppelt so viel Energie im Vergleich zu eiweiß- und/oder kohlenhydrathaltigen Speisen, da 1 g Eiweiß/Kohlenhydrate 4 kcal und 1 g Fett 9 (!) kcal entspricht. Deshalb eignet sich das Fettgewebe auch besonders gut als Energiespeicher!
  • Der Ballaststoffanteil in der Nahrung sollte hoch sein (Vollkornprodukte, (rohes) Gemüse usw.), da die Pflanzenfasern fast keine Energie enthalten, aber durch Wasseraufnahme quellen und dadurch einen guten Sättigungseffekt haben. Zusätzlich verzögern Ballaststoffe die Aufnahme von Kohlenhydraten, sodass der Blutzucker weniger rasch ansteigt.

Pubertät ist wenn….

…. viele Dinge schwieriger werden, z. B. der Umgang mit Erwachsenen (Eltern, Lehrer, Ärzte usw.), aber auch manchmal die Behandlung des Typ-1-Diabetes. Vielleicht ist das ja auch bei Ihrem Kind so …Aber warum ist das so? Bei allen Jugendlichen (ob mit oder ohne Typ-1-Diabetes) besteht in der Pubertät eine gewisse Insulinunempfindlichkeit (Insulinresistenz), d. h. der Körper benötigt sowohl für den Basisbedarf (mit Diabetes: Basalrate oder Langzeit-Insulin) als auch für die Kohlenhydrate aus der Nahrung (KE/BE) mehr Insulin pro Kilogramm Körpergewicht als vor der Pubertät.

Diese zeitweilige Umstellung des normalen Stoffwechsels unterstützt den Wachstumsschub in der Pubertät und ist bei Mädchen etwas stärker ausgeprägt als bei Jungen. Das ist eine der Ursachen für mehr Gewichtsprobleme in diesem Alter.

Zusätzlich bewegen sich Jugendliche statistisch gesehen deutlich weniger als Kinder vor der Pubertät, wodurch der Energieverbrauch und die Insulinempfindlichkeit (s. o.) zusätzlich negativ beeinflusst werden. Natürlich gibt es neben Insulinunempfindlichkeit und dem Rückgang der körperlichen Aktivität noch viele andere Faktoren, die die Pubertät zu einer schwierigen Lebensphase machen können …

Aber: Erfolgreiche Behandlung ist möglich!

Vorbeugung (Prävention) ist natürlich immer einfacher und besser als Behandlung (Therapie). Ihr Kind wird vom Diabetesteam regelmäßig gemessen und gewogen. So fällt ein höherer BMI auf, bevor sich ein behandlungsbedürftiges Überwicht entwickelt. Dann sollten mit dem Jugendlichen gemeinsam mit Ihnen erneut alle gewichtsrelevanten Alltagsbereiche angeschaut werden (s. S. 35), um gemeinsam einzuschätzen, welche Baustellen für den BMI-Anstieg verantwortlich sind und welche davon einfach verändert werden können.

Diese Soll-Baustellen enthalten die Empfehlungen von Fachgesellschaften für alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig von Typ-1-Diabetes oder Übergewicht, auch wenn die Sollwerte der Realität vieler Kinder nicht entsprechen (z. B. nur Wasser und ungesüßte Getränke trinken). Hier ist die Politik gefragt, durch eine Verhältnisprävention die Bedingungen zu verbessern (z. B. eine Stunde aktiver Unterricht pro Tag; keine gesüßten Getränke in der Schule, keine Lebensmittelwerbung an Kinder gerichtet).

Bei einem Kind oder Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes sollten, damit die Behandlung einer Adipositas erfolgreich ist, die folgenden Aspekte berücksichtigt werden:

  • Eine Gewichtsabnahme ist immer Teamwork. Ihr Kind braucht unbedingt Unterstützung (Familie, Peergroup usw.), um langfristig das Ernährungs- und Bewegungsverhalten ändern zu können.
  • Bei Insulinunempfindlichkeit (Insulinresistenz) ist eine Gewichtsabnahme besonders schwierig, andererseits führt Adipositas oft dazu – also ein “Teufelskreis”. Mehr körperliche Aktivität (60 bis 90 Minuten pro Tag) führen eigentlich immer zu einem deutlichen Rückgang des Bedarfs an Basalinsulin. Falls der Effekt über mindestens 6 Monate nicht ausreichend ist, kann die zusätzliche Gabe von Metformin (eigentlich ein Medikament für Typ-2-Diabetes) in Einzelfällen diskutiert werden, obwohl es dafür nicht offiziell zugelassen ist (Off-Label-Use, siehe dazu “Nachgefragt Recht” in Ausgabe 2/2015).
  • Starke Blutzuckerschwankungen – insbesondere durch zuckerhaltige Getränke oder Nahrungsmittel – können Sättigungsprobleme und Heißhunger verursachen. Deshalb sollten leicht resorbierbare Kohlenhydrate vermieden und der Ballaststoffanteil in der Nahrung erhöht werden (s. o.). Wenn zusätzlich noch auf den Fettgehalt geachtet wird, landet man eigentlich automatisch bei einer gesunden Ernährung, die eine Gewichtsreduktion zulässt und die Stoffwechseleinstellung verbessert.

Fazit

Auch Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes sind immer häufiger übergewichtig. Da dadurch nicht nur das Risiko für Folgeerkrankungen zusätzlich steigt, sondern auch die Stoffwechseleinstellung schwieriger wird, gilt auch für Übergewicht bei Typ-1-Diabetes: Vorbeugen ist besser (und einfacher) als behandeln! Deshalb sollte bereits bei der Ersteinstellung mit der Familie besprochen werden, welche “Lifestyle-Faktoren” für normales Wachstum und Entwicklung wichtig sind, z. B.: Bewegung im Alltag, regelmäßige Mahlzeiten und Kontrolle des Medienkonsums. Das ist eine besondere Herausforderung, da schon der Diabetes alleine oft viele Veränderungen erfordert – aber es lohnt sich!


PD Dr. med. Susanna Wiegand
Charité Kinderklinik, Universitätsmedizin Berlin, Adipositas-Sprechstunde im SPZ, E-Mail: susanna.wiegand@charite.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2015; 8 (3) Seite 8-11

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