„Mit der Zeit wird alles gut“

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„Mit der Zeit wird alles gut“

Rosa ist eine begeisterte Puppenmama. Mit einem Diabetes-Set für Puppen misst sie immer mal wieder all ihren Puppen den Blutzucker. “Könnte so ein Set nicht auch anderen helfen?”, fragte sich Dr. Kristina Baumgarten, Rosas Mutter.

Dr. Baumgarten wurde aktiv und bestellte in den USA 20 Diabetes-Sets für Puppen, die dann im Diabeteszentrum des Kinderkrankenhauses Auf der Bult verteilt wurden. Im Gespräch mit ihr ging es aber auch um das Akzeptieren des Diabetes und die Situation in Kindergarten und Schule.

Der Kontakt mit Dr. Kristina Baumgarten kam über die von ihr gespendeten Diabetes-Sets für Puppen zustande. Doch schnell kam sie auf weitere wichtige Themen zu sprechen.

Diabetes-Eltern-Journal (DEJ): Frau Dr. Baumgarten, warum haben Sie dem Diabeteszentrum 20 Diabetes-Sets für Puppen gespendet?

Dr. Kristina Baumgarten: Die Sets habe ich Dr. Biester gegeben und ihm gesagt, er soll schauen, ob es unter seinen Patienten Puppenmamas gibt, denen es vielleicht ein bisschen hilft, mit der Diagnose Diabetes klarzukommen. Wir hatten Pech oder im Nachhinein Glück, dass der Diabetes bei Rosa relativ früh diagnostiziert wurde. Rosa kennt es nicht anders, aber ich kann mir vorstellen, dass es für Kinder, die ein anderes Leben kannten, schwieriger ist. Vielleicht hilft es ein bisschen, den Diabetes spielerisch anzugehen.

DEJ: Wann bekam Rosa die Diagnose?

Baumgarten: Mit neun Monaten. Unser erstes Jahr war sehr, sehr schwierig, weil es einfach kaum Erfahrung mit Kindern mit Diabetes in diesem Alter gibt. Die Einstellung ist nicht einfach, und man kann natürlich ein neun Monate altes Baby auch nicht gut mit dem Essen einstellen. Die Werte waren total instabil.

DEJ: Hatte sie von Anfang an eine Pumpe?

Baumgarten: Es wäre gar nicht anders gegangen, denn mit den Spritzen bekommt man so niedrige Dosierungen gar nicht hin. Das erste Jahr war schon ziemlich schwierig. Deshalb gebe ich auch dieses Interview, denn ich glaube, mir hätte es damals geholfen, wenn ich gewusst hätte: Das erste Jahr kann richtig blöd sein, aber es wird besser. Ich habe in der ersten Zeit nicht geglaubt, dass der Diabetes zu etwas Alltäglichem wird und dass man damit eigentlich alles machen kann. Ich wachse auch an meinen Aufgaben.

DEJ: Rosa geht ja in den Kindergarten. Gab es da schon mal Probleme?

Baumgarten: Rosa geht in einen ganz tollen Kindergarten. Und wir haben ein paar Regeln aufgestellt. Am Anfang hat eine Diabetesberaterin die Erzieherinnen geschult, und ich bin ein bisschen länger dabeigeblieben. Außerdem bin ich am Telefon immer erreichbar. In den vergangenen zwei Jahren ist schon alles Mögliche passiert: Katheter gezogen, Sensor nicht funktionsfähig, Rosa war zu tief oder zu hoch – und trotzdem hat es immer geklappt.

Sie isst da, sie schläft da, sie feiert Geburtstage mit und kriegt Geburtstagskuchen. Ich gucke morgens übers Essen, wir sprechen uns dazu ab. Dadurch, dass wir nichts dramatisiert haben, war da nie eine Hemmung. Alle Kindergärtnerinnen können mit dem Diabetes umgehen. Ich kann keinen Kindergarten verstehen, der das nicht macht. Ich hatte auch versucht, eine Integrationskraft zu bekommen, aber für ein Kind mit Diabetes ist das in Deutschland nicht vorgesehen – und das ist ein Unding.

DEJ: Warum ist das nicht möglich?

Baumgarten: Chronisch kranke Kinder, die medizinische Hilfe brauchen, haben kein Anrecht auf Integrationskräfte, im Gegensatz z. B. zu sprachbehinderten Kindern. Es ist ein Problem, dass die Kindergärten überhaupt gar keine Hilfe kriegen. Bei uns ging es nur, weil unser Kindergarten so wahnsinnig tolerant ist. Aber ich glaube, mit einer Integrationskraft hätten es Diabeteskinder viel leichter. Ich habe praktisch die gesamte Verantwortung auf mich genommen und habe gesagt, jede Insulinabgabe geht auf mein ausdrückliches Geheiß hin. Immer wird von Inklusion geredet, aber es fängt dann schon im Kindergarten an, dass man Kinder nicht wirklich inkludiert.

Für Rosa ist aber alles super ausgegangen. Regel Nr. 9 im Kindergarten ist: Keiner packt Rosas Diabetes-Löwen Lemmi an. Und wenn Rosas Pumpe piepst, kommt immer eine ganze Horde Kinder um die Ecke. Das war früher für mich nicht vorstellbar. Ich habe mir gedacht: Wie kann dieses Kind jemals aus meinem Radius raus? Wenn ich diese Pumpe nicht höre, so dramatisch habe ich gedacht, stirbt sie ja sofort.

DEJ: Es ist eben schwer, loszulassen …

Baumgarten: Es hat sich so ergeben, wenn Rosa mit Kindern spielt, passen die mit auf, und Rosa passt auch mit auf. Deswegen kann ich sie loslassen, deswegen hat sie, glaube ich, eine relativ normale Entwicklung.

DEJ: Ist Rosa denn seit Anfang an in Hannover in Behandlung?

Baumgarten: Nein, aber der Wechsel nach Hannover ist für mich der Wendepunkt gewesen – seitdem funktioniert mein Leben. Ich habe einfach die ganze Therapie abgegeben; wenn etwas ist, schreibe ich eine Mail und habe zwei Stunden später die Antwort. Seitdem läuft es richtig gut, wir sind schon ruhiger geworden und viel sicherer. Wenn ich Rosa früher angeschaut habe, habe ich nur noch den Diabetes gesehen – das ist jetzt ganz anders. Jetzt sehe ich wirklich Rosa.

Ich bin ja selbst aus dem medizinischen Bereich und habe die Tragweite der Diagnose sehr schnell begriffen. Aber ich habe unheimlich mit dem Schicksal gehadert. Es hat fast ein Jahr gebraucht, bis ich den Diabetes akzeptieren konnte, auch weil man so hilflos war mit so einem kleinen Würmchen.

Es gibt auch einen großen Kreis von Leuten, die sich auskennen mit Rosas Diabetes, so dass nicht immer alles nur an mir hängt. Alles läuft super, aber der Diabetes ist natürlich trotzdem immer präsent. Die Leute verstehen oft nicht, dass diese Krankheit nie aufhört.

DEJ: Wie misst Rosa denn den Zucker – mit einem Sensor?

Baumgarten: Ja, und der hat Rosa im wahrsten Sinne des Wortes ein paar Mal das Leben gerettet. Gerade am Anfang waren die Werte überhaupt nicht zu regulieren, sind in kurzer Zeit hoch und runter geschossen – x-mal wären wir im Krankenhaus gewesen ohne den Sensor. Den haben wir auch weiterhin, die Krankenkasse übernimmt ihn, und damit haben wir auch einen guten Langzeitwert.

DEJ: Haben Sie Kontakt zu anderen Eltern, die ein Kind mit Diabetes haben, oder zu einer Selbsthilfegruppe?

Baumgarten: Ich habe mich da extra gegen entschieden. Ich wollte dem Diabetes nicht zusätzlich mehr Raum in meinem Leben geben. Ich lese die Zeitschriften, und ich gucke auch viel nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen, das reicht mir.

Vielleicht wird es irgendwann für Rosa gut sein, Kinder kennenzulernen, die auch Diabetes haben. Im Moment ist das noch kein Thema. Aber ich freue mich immer, wenn ich Erwachsene mit Typ-1-Diabetes treffe, denn die erzählen mir eigentlich ausnahmslos: Es ist alles gut, ich habe ein normales Leben. Und das möchte ich auch gerne vermitteln: Es braucht seine Zeit und es braucht Routine, aber dann wird alles gut, der Diabetes passt sich komplett ins Leben ein.

Da sind wir auch wieder beim Puppen-Set: Wenn man so etwas im Geschäft kaufen kann, wenn es für Puppen auch eine Insulinpumpe gibt, dann ist der Diabetes vielleicht gar nicht so ungewöhnlich…

DEJ: Was würden Sie sich wünschen, was über so ein Puppen-Set hinausgeht?

Baumgarten: Ein wirkliches Problem ist es, wenn ein Kind mit Diabetes z. B. nicht in den Kindergarten gehen darf. Die Hilfen müssen besser werden, da muss man an die Gesetze gehen. Warum funktioniert das nicht, dass die Behörden sagen: Ach, da ist ein Diabeteskind, das bekommt jetzt die und die Hilfe.

Man hat schon genug Alltagsprobleme und würde sich für Kindergarten und Schule eine schnelle, unbürokratische Hilfe wünschen, damit die Kinder ihren normalen Alltag behalten können. An einem Tag ist noch alles o.k., und am nächsten schauen Erzieherin oder Lehrerin nur noch ganz verängstigt. Wenn jetzt jemand da wäre, der für einige Zeit mitgeht und zeigt, dass man wegen des Diabetes keine Angst haben muss – das fände ich toll.


von Redaktion Diabetes-Eltern-Journal
Kirchheim-Verlag, Kaiserstraße 41, 55116 Mainz,
Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90,
E-Mail: redaktion@diabetes-eltern-journal.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2016; 9 (3) Seite 10-12

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