Mit Typ-1-Diabetes von Nord nach Süd auf dem Fernwanderweg E5

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Mit Typ-1-Diabetes von Nord nach Süd auf dem Fernwanderweg E5

Der bekannteste europäische Fernwanderweg, der E5, führt auf seiner Hauptroute über den Alpenhauptkamm von Oberstdorf nach Meran. Er ist ein Mythos, ein Versprechen, ein Abenteuer – für alle, auch für einen Diabetiker! Dr. Oliver Großmann berichtet von diesem Erlebnis.

Eher zufällig ist die Idee entstanden: Auf meiner mehrtägigen Wanderung auf dem Eifelsteig berichteten andere Wanderer von ihrer Alpenüberquerung. Sie erzählten von faszinierenden Landschaften, anstrengenden Aufstiegen und Gipfelerlebnissen. Weshalb nicht auch mit Dia­be­tes den Weg wagen und das Abenteuer suchen? Dürfen wir Diabetiker nicht wie jeder gänzlich Gesunde die eigenen Grenzen testen?

Und doch ist es ein schmaler Grat zwischen dem Austesten, Verschieben und dem Überschreiten von Grenzen. Ist die Alpenquerung vielleicht zu viel für einen Stoffwechselkranken, sind die Alpen zu hoch und die Luft zu dünn? Werde ich zur Belastung für andere? Wird der Wandertraum zum Höllentrip, weil ich meine Fähigkeiten überschätze? In den Bergen geht es bekanntlich schnell ans Eingemachte.

Gute Vorbereitung ist wichtig

Das war nur herauszufinden durch einen Versuch. Vorsichtsmaßnahmen indes mussten sein: eine Bergschule, da ich selbst kaum über Berg­erfahrung verfüge, meine Tochter Hannah als Begleitung – in erster Linie um des gemeinsamen Erlebnisses willen, Vater und Tochter zusammen unterwegs, aber auch als Sicherheit im Fall von unerwarteten Hypoglykämien, da sie sich auskennt im Umgang mit dem Diabetes und in schwierigen Situationen adäquat reagieren kann.

Tochter Hannah war dabei – für das gemeinsame Erlebnis, aber auch zur Sicherheit.

In den Wochen vor dem Aufbruch wuchs die Spannung: Ausrüstung zusammenstellen und testen, Schuhe einlaufen, Route checken, Kondition verbessern, gezielt Beine und Rücken trainieren, Dia­be­tesbedarf bestellen. Doch die Selbstzweifel lassen sich, wenn die Tour näher rückt, nicht gänzlich ausschalten: Wird die Alpenüberquerung gut gehen? Der Respekt vor Berg und Belastung bleibt.

Mein Diabetespäckchen umfasste reichlich flüssigen und festen Traubenzucker, Blutzucker-Messsystem und ausreichend Teststreifen, Pen und Kanülen – und natürlich Insulin. Da ich meine Glukosewerte kontinuierlich mit Sensor messe, hatte ich auch genügend Ersatzsensoren dabei, ebenso Pods in doppelter Menge. Natürlich war im Gepäck auch das Notfallspray, das Hannah bei sich verstaut hatte, damit sie bei einer schweren Hypoglykämie sofort wusste, wo sie suchen musste, wenn es denn gebraucht würde. Da kamen schon eine ganze Menge Zusatzgewicht und ein größeres Säckchen zusammen! Aber es ist die Entscheidung für die Daseinsform „unterwegs sein“: Alles dabei, alles ins Gepäck!

Nicht die ganz klassische Route

Anfang August war es so weit, wir reisten nach Oberstdorf. Am nächsten Tag brachen wir bei strahlendem Sonnenschein auf. Hoffentlich hält das Wetter! Erst kurz zuvor war es in der Eifel, dann auch in der Alpenregion zu heftigen Regenfällen und Überschwemmungen gekommen.

In den Bergen geht es schnell ans Eingemachte. Da müssen Vorsichtsmaßnahmen sein, wenn man Diabetes hat.

Wir nahmen nicht die ganz klassische Route, die in den vergangenen Jahren so populär geworden ist, sondern gingen etwas abseits der Hauptroute und starteten im Kleinwalsertal. Über den Hochalp­pass und die Widdersteinhütte ging es in zwei Tagen nach Pettneu bei St. Anton. Das Abendessen war deftig, es verlieh Kraft für den nächsten Tag. Es gab Brühe, Knödel, Gulasch, sogar Lammfleisch und Salat. Ich konnte mich auf das Essen gut einstellen, kam mit ordentlichen Werten durch die Nacht. Im Zweifel fiel der Bolus eher etwas geringer aus, um nicht in Schwierigkeiten zu kommen. Meist reduzierte ich die Basalrate für den Tag um ein Viertel.

Zum Glück gab es Hütten …

Die durchaus zahlreichen Hütten unterwegs waren allerdings wichtig. Meine Schokoriegel, Äpfel, Fruchtsäfte und manchmal sogar die Traubenzucker, die ich nur zur Reserve dabeihatte, verbrauchte ich rasch, vor allem am Vormittag, weil das Frühstück nicht so lange vorhielt. Da waren mir die Hütten willkommen, auf denen wir entweder etwas trinken oder essen konnten. Einmal bestellten Hannah und ich sogar Kaiserschmarrn – was ich mir im Alltag eher selten gönne. Aber die Muskulatur forderte schnelle Energie und Kalorien!

Links: Die Glukosewerte waren immer im Blick durch das kontinuierliche Glukosemessen mit dem Sensor. Rechts: Es tat gut und war wichtig, auf den Hütten regelmäßig Energie „nachzutanken“, mit Trinken und Essen.

Die Aufstiege – 1000 Meter und mehr am Tag kamen vor – und auch die nicht weniger anstrengenden Abstiege waren für alle in der Gruppe eine Herausforderung, auch ohne das Handicap Diabetes. Hier schmerzte jemandem das Knie, dort konnte die Kondition besser sein, eine Blase am Fuß. Ja, streckenweise war es schweißtreibend und fordernd. Aber alle aus unserer neunköpfigen Gruppe kamen durch.

Mit herrlichen Blicken vorbei an Ötzi

Durch das Pitztal zur Braunschweiger Hütte, hinauf in die unwirtliche Gletscherwelt des Ötztals: Da lagen der Rettenbachferner, die Wildspitze, mit 3768 Metern Tirols höchster Berg, immer im Blick. Wir wanderten vom Bergsteigerdorf Vent in Richtung Italien, unweit der Fundstelle des Ötzi, des „Manns im Eis“, wie er offiziell heißt, der die Alpen vor 3000 Jahren überquerte.

Dank der Hinweisschilder war es kein Problem, immer den richtigen Weg zu finden.

Damals ging es nach allem, was wir wissen, nicht wie heute um Selbsterfahrung, Wander­erlebnis und Naturschönheit, sondern um Warentransport oder Viehauftrieb. Das Ernährungsprogramm von Ötzi – alte Gemüse- oder auch Getreidesorten wie Emmer, Nacktweizen und Einkorn – konnten Dia­betiker und Nichtdiabetiker am Ende des Wegs in der eindrucksvollen Ausstellung in Bozen bewundern. Dort haben Archäologen die Nahrung aus seinem Mageninhalt und dem, was er bei sich trug, rekonstruiert. Diabetiker war Ötzi sicher nicht …

Mein Stein am höchsten Punkt

Am letzten Tag erreichten wir mit der Similaun-Hütte (über 3000 Meter) den höchsten Punkt unserer Tour. Hier legte ich symbolisch meinen „diabetischen Stein“ ab, den ich von zuhause mitgebracht hatte. Von jetzt an ging es nur noch bergab, durch die wunderbar grünen Ausläufer des Schnalstals, bis der Stausee von Vernagt in den Blick kam. Die Gruppe hielt ein, wir suchten einen ruhigen Platz, die Gespräche verstummten. Es war eine besondere Stimmung, die wir alle spürten: Das Ziel vor Augen, alle Schwierigkeiten lagen hinter uns, die Selbstzweifel waren besiegt, unsere Wanderung war geschafft. Welch ein wunderbarer, einmaliger Moment!

Gipfelerlebnis in der Gruppe: ein tolles ­Gefühl!

Wandern ist wunderbar! Du bist nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft, sondern buchstäblich im Hier und Jetzt, soeben auf dem Weg. Und es ist geradezu paradox: Es ist nicht so, dass der Diabetes aufgrund der körperlichen Belastung in den Vordergrund tritt, sondern er wird zur Nebensache. Der Weg, die Landschaft, die Gemeinschaft stehen im Vordergrund und die Krankheit rückt zurück.

Habt Mut! Dank technischer und therapeutischer Möglichkeiten können wir Diabetiker unser Leben hier in Mitteleuropa – zwar mit gewissen Einschränkungen und bei entsprechender Vorbereitung und Planung – aktiv führen. Selbstbestimmt trotz Diabetes!

Auch das gehörte zur Tour: in Wanderpausen die Füße hochlegen und die Aussicht genießen.

Die Alpenquerung war eine gute Möglichkeit, sich selbst zu begegnen. Es war ein tolles Erlebnis mit meiner Tochter Hannah, es war etwas Besonderes, den Weg gemacht zu haben, wofür ich eine ungeheure Dankbarkeit empfinde. Lasst Euch Eure Träume nicht nehmen!


von Dr. Oliver Großmann
E-Mail-Komtakt via Redaktion: redaktion@diabetes-journal.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (1) Seite 38-41

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