Nicht aufgeben! – ein Interview mit Maria Seiter

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Nicht aufgeben! – ein Interview mit Maria Seiter

Die 86-jährige Münchnerin Maria Seiter ist seit nunmehr 45 Jahren Typ-2-Diabetikerin. Obwohl ihre Mutter sogenannten „Altersdiabetes“ hatte und ihr Enkel mit knapp 14 Jahren an Typ-1-Diabetes erkrankte, ist Frau Seiter alles andere als eine typische Typ-2-Diabetikerin.

Die Diagnose

Sie war eine 41 Jahre junge, schlanke, zweifache Mutter und als Außendienstlerin im Sozialdienst der Stadt München tätig, als sie plötzlich glaubte, an einer Blasenentzündung zu leiden. „Als mein Urintest dann beim Hausarzt ausgewertet wurde, gab es auf einmal eine helle Aufregung“, erzählt die rüstige Seniorin rückblickend. „Sofort schickte man mich zur Blutabnahme. Für Diabetes-Tests gab es jedoch spezielle Blutabnahmezeiten und das Labor benötigte bis zu zwei Tage, um die Ergebnisse auszuwerten“, erinnert sich Maria Seiter.

Quelle: Pixabay

Diabetes-Schulungen gab es damals keine richtigen. Es hieß schlichtweg, ich solle wenig Süßes essen und vor allem kleine Portionen“, so Frau Seiter. Sie erhielt eine Tablette namens „Pro-Diaban“ und hielt sich streng an die neuen Vorgaben.

Der Unterschied

Es war komplett anders als bei meiner Mutter damals“, erinnert sich Frau Seiter. „Meine Mutter hätte eigentlich keine Diabetes-Medikamente benötigt, wenn sie sich an eine strenge Diät gehalten hätte. Doch die damalige Ärztin war sehr sanft im Umgang mit ihr. Sie hatte Verständnis dafür, dass das Leben meiner Mutter hart war. Am Kriegsende wurden wir als Familie getrennt, mein Vater war in russischer Gefangenschaft, von der er nicht mehr zurückkam. Es gab einfach viele Widrigkeiten, durch die sie mich und meine vier Brüder durchbrachte. Ich empfand deshalb die Empathie der Ärztin als positiv und verübelte es meiner Mutter nicht, dass sie ihren Altersdiabetes nicht so ernst nahm und sich ihren Essensgelüsten hingab“, berichtet Frau Seiter.

Zweifel an der Diagnose Typ-2-Diabetes

Zehn Jahre nach ihrer Diagnose kletterte der Blutzucker von Frau Seiter immer höher. Die Tabletten kamen nicht mehr gegen die Blutzuckerspitzen an, obwohl sich an der Ernährung von Frau Seiter nichts änderte. „War es wirklich Typ 2? Konnten vielleicht Wechseljahre und Hormonschwankungen die Ursache für den irritierten Blutzucker sein?“ Fragen über Fragen, die sich die Ärzte und Frau Seiter lange stellten und denen sie versuchten, mit vielen Bluttests auf den Grund zu gehen.

Die Blutzuckerwerte erreichten weiterhin regelmäßige Spitzen um die 300 mg/dl (16,7 mmol/l). Da es immer noch keine portablen Blutzuckermessgeräte gab, musste Maria Seiter nun alle zwei Wochen zum Messen zum Arzt fahren. „Das war sehr schwer zu vereinbaren mit meiner Außendiensttätigkeit und zwei jungen Kindern“, erzählt Maria Seiter. Die Tabletten-Therapie setzte sich zunächst fort, doch eine Besserung der Werte war noch weit entfernt.

Der erste Facharzt-Besuch

Einige Jahre später – es muss Ende der 1980er Jahre gewesen sein – machte Frau Seiters Tochter schließlich eine Lehre als Krankenschwester und berichtete ihrer Mutter aufgeregt von einer dortigen „Diabetes-Ambulanz“. Der ansässige Professor Dietze hatte zuvor lange mit dem bekannten Diabetologen Professor Mehnert gearbeitet und war somit der erste Diabetes-Experte, mit dem Frau Seiter in Berührung kam.

Quelle: Pixabay

Nachdem Frau Seiter, die weiterhin Blutzuckerwerte über 300 mg/dl (16,7 mmol/l) aufwies, im Krankenhaus vorstellig wurde, wollte man sie direkt stationär aufnehmen und im Krankenhaus beobachten. „Es war direkt vor den großen Ferien und ich wusste nicht, wie ich das mit den Kindern organisieren sollte. Zudem hätte ich nicht aus dem Krankenstand in den Urlaub gekonnt. Damals wurde noch verlangt, dass man vor Urlaubsantritt mindestens einen Tag zuvor zurück im Dienst gewesen sein musste“, erzählt Frau Seiter leicht verzweifelt. Das Krankenhaus kam ihr mit einer entsprechenden frühzeitigen Entlassung entgegen.

Die Diabetes-Einstellung

Während ihres Krankenhausaufenthalts wurde Frau Seiter auf Insulin eingestellt und nach über 15 Jahren Diabetes-Erkrankung zum ersten Mal ausführlich über Diabetes aufgeklärt und zur Handhabung geschult. Es gab zwar immer noch keine Blutzuckermessgeräte, aber Unterzuckerungen spürte Frau Seiter damals sofort, merkt sie in unserem Gespräch an. Ihr Instinkt und Körpergefühl sei über die vielen Jahre hinweg darauf ausgerichtet, die Nuancen des Unterzuckers zu erkennen: vom Zittern zum Schwitzen bis hin zum Schwindel. „All das kam erst mit dem Insulin“, sagt Frau Seiter.

Wie wahrscheinlich viele Diabetiker, so hat natürlich auch Frau Seiter viele verschiedene, brenzlige Situationen in ihrem Leben durchlebt, die bei ihr vor allem durch den Unterzucker verursacht wurden.

Einmal hatte Frau Seiter sich zu hoch gespritzt und kam dann mit einer schweren Hypoglykämie ins Krankenhaus. Beim Bergwandern erlebte sie ebenfalls häufig kleine Schwächeanfälle und läutete frühzeitig zwischendurch das Picknick ein. Letztlich erlebte sie sogar bei den wichtigsten Familien-Festlichkeiten – wie der Hochzeit ihrer Tochter – Notlagen. Bei der Hochzeit fand sie jedoch glücklicherweise eine unentdeckte „Pralinen-Schatzkammer“ in ihrer Handtasche und plünderte diese wie ein kleiner Hamster während des Trauungs-Gottesdienstes in der ersten Reihe unbemerkt.

Die ersten Folgeschäden

Seit knapp zwei Jahren erfährt Frau Seiter nun die ersten Folgeschäden und Krankheiten. Mittlerweile hat sie zwei leichte Schlaganfälle erlitten und seit einem halben Jahr eine ausgeprägte diabetische Neuropathie, die vor zehn Jahren leicht begann. „Da kann man halt nichts machen, außer schauen, dass der Diabetes gut eingestellt ist“, sagt Frau Seiter tapfer. „In zwei Monaten wird mein Mann 100 Jahre alt.“ Das gemeinsam zu erleben, ist ein sehr großes Geschenk für Frau Seiter, die in diesem Moment dankbar auf ihr gemeinsames Leben zurückblickt und sehr stolz auf ihre Kinder ist, die ihrem Mann und ihr viel Kraft und Fürsorge schenken.

Nicht aufgeben!

Maria Seiters Devise ist, Selbstverantwortung zu übernehmen. „Mein Lebensmotto ist ‚nicht aufgeben‘!“ Folgeschäden können kommen – müssen aber nicht. Ärzte können einen im Leben nur beraten, machen müssen wir es schon selbst. Jeder ist schließlich für sich selbst verantwortlich“, stellt Frau Seiter fest.

Quelle: Pixabay

Daher ist es nicht verwunderlich, dass Maria Seiter bereits seit über 12 Jahren Diabetes-Sport treibt, immer in Bewegung bleibt und Koordinationstraining übt. Ihr Enkel neckt seine Oma zwar gerne mit saloppen Sprüchen wie: „Was machst Du denn beim Diabetes-Sport, Oma? Wett-Spritzen?“ Darüber können sie dann beide herzlich lachen und auch das ist wichtig, selbst wenn man Diabetes hat und die Höhen und Tiefen dieser Krankheit kennt und respektiert.

Authentizität verleiht Respekt!

„Ich bin immer offen mit meiner Krankheit umgegangen, ob im Berufsleben oder privat. Ich habe kein großes Aufsehen darum gemacht, aber alle wussten es und ich habe mich nicht versteckt“, bemerkt Frau Seiter abschließend.

So wie Frau Seiter glaube auch ich, dass wir – die Diabetiker selbst – es sind, die den Umgang mit uns prägen. Sind wir ängstlich und vorsichtig, verunsichern wir unser Umfeld. Gehen wir hingegen selbstbewusst und offen damit um, tut es unser Umfeld auch.

Hier und heute

„Ich finde es gut, dass man die Ärzte heute alles zum Diabetes fragen kann. Sie wissen viel besser Bescheid und geben notfalls auch mal zu, wenn sie etwas nicht wissen. das war früher anders“, schmunzelt Frau Seiter.

Damals, als ich krank wurde, waren meine Kinder 8 und 11 Jahre alt und hatten immer Angst, ich würde nie satt werden, weil ich so kleine Portionen aß“, lacht Frau Seiter. Heute können Diabetiker durch bessere Medikamente mehr essen, weil es kontrollierter ist. Kleine „Sünden“ lassen sich auch leichter auffangen. Das findet Frau Seiter prima – vor allem, wenn sie an ihren Enkel denkt.

Wichtig ist, dass man die Möglichkeiten, die man heute als Diabetiker dargeboten bekommt, auch am Schopfe packt und ausnutzt. „Ich bin dankbar, dass ich – aber vor allem mein Enkel – in einer Zeit lebe, wo man mit Diabetes alt werden kann“, schließt Frau Seiter.

In diesem Sinne danke ich Maria Seiter für ihre Gesprächszeit, ihr Vertrauen und ihre robuste Positivität. Sie hat mir aufgezeigt, dass Aufgeben im Leben keine Option ist. Ganz nach dem Motto „Auch, wenn alles schief zu gehen scheint – muss man versuchen, gerade zu gehen.“


Lest auch das vorherige Interview von Sara: Ein Interview mit Artur Gratilow

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