Psychische Ursachen für Entgleisungen

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Psychische Ursachen für Entgleisungen

Wir beleuchten die psychischen Ursachen von Stoffwechselentgleisungen: Gerade wenn Stoffwechselentgleisungen immer wieder vorkommen, liegt der Verdacht nahe, dass “Schulungsdefizite” oder “mangelnde Disziplin” als Erklärung nicht reichen. Am Beispiel des Diabetes Zentrums Mergentheim zeigen wir, mit welchen Strategien Patienten und ihre Behandler gegensteuern können. Das Beispiel von Anne M. gibt einen erstaunlichen Einblick.

Die Blutzuckerkurve läuft aus dem Ruder, die Blutzuckerselbstbehandlung funktioniert nicht so, wie man sich das wünscht – dies ist oft genug Anlass für Frust, Ärger und Enttäuschung auf Patienten- wie auf Behandlerseite. Was kann grundsätzlich dahinterstecken? In vielen Fällen lohnt es sich, genauer hinzusehen und sich nicht vorschnell auf etwa mangelhaftes Schulungswissen, zu geringes Verantwortungsbewusstsein oder schlicht fehlende Selbstdisziplin festzulegen.

Psychologische Perspektive lohnt sich

Es kann sich in vielerlei Hinsicht lohnen, den psychischen Prozessen hinter der Entgleisung auf den Grund zu gehen: Plausible Erklärungsansätze des bisherigen Verhaltens können Schuldgefühle und Tendenzen zur Selbstverurteilung der Patienten reduzieren. Weiterhin können sie wertvolle Anhaltspunkte für spezifische Behandlungsansätze bieten, welche möglicherweise effektiver und nachhaltiger vor Rückfällen in alte Verhaltensmuster schützen und so eine dauerhafte Stoffwechselstabilisierung ermöglichen.

Psychische Ursachen für wiederholte Unterzuckerungen

Vollständig vermeiden lassen sich Unterzuckerungen nicht – jedoch geht man davon aus, dass bei 20 bis 30 Prozent der Menschen mit Typ-1-Diabetes eine erhöhte Unterzuckerungsneigung besteht, Hypoglykämien also besonders häufig auftreten. Was kann denn nun hinter einer erhöhten Neigung zu Unterzuckerungen stecken? Die aus der klinischen Erfahrung wichtigsten psychischen Motive sind:

  • eine Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung mit einer stark eingeschränkten Fähigkeit, Unterzuckerungssymptome rechtzeitig wahrzunehmen und richtig einzuordnen,
  • starke Angst vor Folgeerkrankungen mit einer ausgeprägten Tendenz zu überzogenen Insulin-Korrekturgaben z. B. von Werten nach dem Essen,
  • festgefahrene Einstellungen bzw. innere Haltungen hinsichtlich aktueller Blutzucker- oder Langzeitwerte, z. B.: “Werte über 150 mg/dl (8,3 mmol/l) muss ich korrigieren.”, “Mein HbA1c-Wert muss unter 6,5 Prozent (48 mmol/mol) liegen.”
  • Soziale Ängste können dazu führen, dass sich Patienten Unterzuckerungssymptome erst bei sehr starker Ausprägung (sehr niedrigem Blutzucker) selbst ein- bzw. zugestehen und somit regelmäßig erst mit Verzögerung reagieren.
  • Schließlich gibt es immer wieder die Erfahrung, dass Patienten zu Unterzuckerungen neigen, weil einige der auftretenden Hypoglykämie-Symptome positiv erlebt werden. Nach unserer klinischen Erfahrung ist dieser Problembereich eher selten im Vordergrund (Hyposurfer mit einer positiv erlebten Gefühlslage oder einer besonderen Art von Kreativität im Zustand der Unterzuckerung).

Behandlungsmöglichkeiten beziehen sich in diesem Zusammenhang besonders auf strukturierte Schulungsprogramme zur Verbesserung der Hypoglykämie-Wahrnehmungsfähigkeit und des Umgangs mit Unterzuckerungen im Allgemeinen (z. B. HyPOS, BGAT). Solche Therapieprogramme gibt es ambulant und stationär – sie haben das Ziel, das Management von Unterzuckerungen unter Berücksichtigung verschiedener Ansatzpunkte zu unterstützen: die Wahrnehmungsfähigkeit von Unterzuckerungen zu verbessern, Unterzuckerungen besser vorzubeugen bzw. zu vermeiden.

wesentlicher Baustein ist auch die Schulung des schnellen und richtigen Reagierens, sobald niedrige Blutzuckerwerte auftreten. Eine individuelle psychotherapeutische Behandlung kann dann ergänzend sinnvoll sein, wenn starke Ängste (soziale Ängste oder auch Angst vor Folgeerkrankungen) ein starkes Hindernis sind hinsichtlich einer adäquaten Diabetes-Selbstbehandlung.

Psychische Ursachen für wiederholt deutlich erhöhte Stoffwechsellagen

Viele unserer stationär aufgenommenen Patienten mit Diabetes kommen in einer Phase zu uns in die Klink, in der die Blutzuckerwerte – häufig schon über längere Zeit – deutlich erhöht waren. Auch für diese Art der Stoffwechselentgleisung gibt es eine Reihe möglicher psychischer Ursachen. Selten ist einer der aufgeführten Faktoren allein für die ungünstige Stoffwechsellage verantwortlich:

  • Stark ausgeprägte, unzweckmäßige Angst vor Unterzuckerungen kann dazu führen, dass die Betroffenen aus ihrem übersteigerten Sicherheitsbedürfnis heraus absichtlich, systematisch und regelmäßig sehr hohe Blutzuckerwerte in Kauf nehmen bzw. zur eigenen Beruhigung regelrecht brauchen.
  • Angst vor Nadeln bzw. Kanülen, vor dem Spritzen und/oder Messen – auch dies kann unter Umständen so stark ausgeprägt sein, dass es zu einer chronischen Unterversorgung mit Insulin führt und hohe Werte billigend in Kauf genommen werden.
  • Ein weiterer, nicht immer auf den ersten Blick erkennbarer Grund für chronischen Überzucker kann in einem starken inneren Widerstand gegen die Erkrankung Diabetes bzw. ihre Behandlung liegen: Ein fortwährendes Hadern mit bzw. Verdrängen der Krankheit kann dazu führen, dass der Behandlung nur sehr wenig Aufmerksamkeit eingeräumt wird. Von den Behandlern wird dies häufig versehen mit der Überschrift Akzeptanz- und Motivationsproblematik.
  • Chronische Stressbelastungen z. B. im Berufsleben können ein wichtiger Faktor sein, der die Neigung zu höheren Blutzuckerwerten deutlich verstärken kann (Stresshormone, abträgliche Stressbewältigungsstrategien etc.).
  • Weiterhin können psychische oder psychiatrische Begleiterkrankungen, die nicht unbedingt direkt mit dem Diabetes zusammenhängen müssen (z. B. Depressionen, Angsterkrankungen, Zwänge, bipolare Störungen, Schizophrenien, Borderline/PTBS), eine hyperglykämische Stoffwechselentgleisung begünstigen.
  • Auch die Angst vor Gewichtszunahme z. B. im Rahmen einer Essstörung kann dazu führen, dass die Betroffenen absichtlich Insulin weglassen, damit die zugeführte Nahrung nicht so ansetzt (Insulin-Purging).
  • Da stark ausgeprägte Stoffwechselentgleisungen im Sinne von Hyperglykämien oder gar auftretenden Ketoazidosen gesundheitsschädlich und lebensbedrohlich sein können, ist in manchen Fällen auch die Frage nach einer Tendenz zu selbstverletzendem oder suizidalem Verhalten gerechtfertigt (z. B. im Rahmen von Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen).

Liegen psychische bzw. psychiatrische Grunderkrankungen vor, so erfordern diese – wie bei anderen Betroffenen ohne Diabetes – eine professionelle psychiatrische und/oder psychotherapeutische Unterstützung. In den allermeisten Fällen von hyperglykämischen Entgleisungen ist die (falls vorhandene) psychische Mitbeteiligung eher zu sehen in den Bereichen Akzeptanz und Motivation, Hypoglykämie-Ängste oder allgemeine psychosoziale Stressbelastungen. Hierfür gibt es spezifische Behandlungsoptionen, die im Folgenden erläutert werden.

Psychisch mitbedingte Entgleisungen: Unterstützungsmöglichkeiten …

… am Beispiel des Behandlungsangebots des Diabetes Zentrums Mergentheim:

1. Bereich Verbesserung der Hypoglykämie-Wahrnehmung und des Umgangs mit Unterzuckerungen

Zu dem Bereich gibt es im Diabetes Zentrum Mergentheim zwei Gruppenangebote, die beide auf dem Schulungsprogramm “HyPOS” basieren. Zum einen das Gruppenangebot Hypo-Training, das im Verlauf des stationären Aufenthalts der Patienten insgesamt 5 Schulungsstunden an insgesamt 5 Tagen umfasst.

Eine Vertiefung und Intensivierung dieses Angebots stellt die 4-mal im Kalenderjahr stattfindende Problemgruppe Hypo-Wahrnehmung dar: Sie geht insgesamt über 12 Tage bei einer Gruppengröße von 10 Patienten mit Typ-1-Diabetes und deutlichen Einschränkungen bei der Hypoglykämie-Wahrnehmungsfähigkeit bzw. häufigen schweren Unterzuckerungen. Im Verlauf des Schulungsprogrammes wird systematisch die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Symptomwahrnehmung gefördert und trainiert.

2. Problem Angst vor Unterzuckerungen

Auch der Bereich der diabetesspezifischen Ängste wird in speziell darauf abgestimmten Behandlungsangeboten aufgegriffen, um die damit verbundenen Belastungen zu verringern. Zu den Aufnahme-Indikationen gehören z. B. das Vorliegen ständiger, belastender Erwartungsangst, ausgeprägtes Vermeidungsverhalten (z. B. extrem hohe Blutzucker-Messfrequenz, bewusstes Hochhalten der Blutzuckerwerte) oder auch die unpassende und überzogene Behandlung von Unterzuckerungen.

Wesentliche Inhalte sind Behandlungsansätze aus der Verhaltenstherapie wie Konfrontationsübungen zum schrittweisen Abbau von Vermeidungsverhalten bzw. zur Angstreduktion und auch Elemente aus der Akzeptanz- und Commitment-Therapie mit achtsamkeitsbasierten Techniken.

3. Problem mangelnder Diabetesmotivation bzw. -akzeptanz

Erfahrungsgemäß kann es für Menschen mit der chronischen Erkrankung Diabetes mellitus sehr belastend und quälend sein, wenn sie trotz guter Schulung (also ausreichend vorhandenen Wissens) und trotz guter Vorsätze immer wieder feststellen, dass die Selbstbehandlung im Alltag mehr oder weniger vernachlässigt wird oder untergeht.

Es gibt hierfür ebenfalls ein spezielles Gruppenangebot; auch hier handelt es sich um einen integrativen psychotherapeutischen Behandlungsansatz, der z. B. die Entwicklung von konkreten und realistischen Behandlungszielen und Lebensstilmodifikationen beinhaltet (Zielformulierungen und Problemlösestrategien im Sinne des Selbstmanagement-Ansatzes).

Weiterhin geht es viel um Lebensziele und -werte, die gar nicht unmittelbar mit der Diabeteserkrankung zusammenhängen (müssen). Ein weiterer inhaltlicher Fokus dieser Problemgruppe liegt auf dem Einüben von Strategien zum alternativen und konstruktiven Umgang mit inneren Barrieren wie Unlust-Gefühlen, Ärger oder sorgenvollen Gedanken im Zusammenhang mit dem Diabetes.

4. Weitere Behandlungsangebote zur Verbesserung der Stresskompetenzen

Weiterhin besprechen wir mit dem Einzelnen, welche Situationen ihn belasten – dies in psychologischen Einzelgesprächen und begleitend zum stationären Aufenthalt. Hier vermitteln wir Ansatzpunkte, wie man mit solchen Situationen angemessen umgeht.

Ebenfalls zur Unterstützung und Stärkung der Stressbewältigungsfertigkeiten der Diabetiker zu zählen sind die regelmäßigen Schulungsangebote der Psychosozialen Abteilung zu Themen wie Diabetes und Sozialrecht, zur Langzeitmotivation und zum Rauchen. Auch in diesen Veranstaltungen werden Informationen und Hilfestellungen gegeben, die mit dazu beitragen können, dass der Stressfaktor Diabetes bzw. psychologische Behandlungsbarrieren zumindest teilweise entschärft und abgeschwächt werden können.

Fazit und Zusammenfassung

  • Stoffwechselentgleisungen können durch psychische Faktoren, Symptome bzw. Begleitumstände hauptsächlich verursacht oder zumindest mitbedingt sein.
  • Vor allem bei chronischen oder wiederkehrenden Entgleisungen sollte sowohl bei den Betroffenen als auch auf Seiten der Behandler eine psychische Mitverursachung zumindest in Betracht gezogen werden. Nicht immer sind es mangelhaftes Schulungswissen oder mangelnde Selbstdisziplin, die die Hauptursachen für aufgetretene Entgleisungen darstellen.
  • Es lohnt sich, psychische Faktoren (wie Hypoglykämie-Ängste, Depressionen, Ängste vor Folgeerkrankungen) zu identifizieren: Dann ist es auch möglich, z. B. individuelle psychologische Unterstützung anzubieten – über eine reine Standardschulung und diabetologische Behandlung hinaus!
  • Zur Bewältigung solcher psychischer Ursachen von Stoffwechselentgleisungen gibt es Möglichkeiten zur Selbsthilfe und auch Angebote spezifischer professioneller Unterstützung. Näheres zu Informationsquellen und möglichen Anlaufstellen unter Weiterführende Informationen.
  • Medizinisch-diabetologische Therapie mit fachgerechter Schulung und Unterstützung von psychologischer bzw. psychotherapeutischer Seite können sich wechselseitig gut ergänzen und zu einem insgesamt verbesserten Behandlungsergebnis führen.
Weiterführende Informationen
  • Der Verein “Diabetes und Psychologie” bietet viele Informationen zu Unterstützungs- und Therapiemöglichkeiten speziell für Diabetiker mit psychosozialen Belastungen: www.diabetes-psychologie.de
  • Diabetes-Selbsthilfegruppen haben weitere Informationen. Ein Verzeichnis bzw. Suchfunktion für Gruppen finden Sie z. B. unter: www.diabetesde.org
  • Interessant und hilfreich für Behandler wie für Betroffene kann die aktuelle “S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes” sein. Verschiedene Bereiche psychisch-psychiatrischer Symptome werden beschrieben und Behandlungsempfehlungen nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft und Forschung gegeben (Teil 1 und Teil 2).
  • Informationen zu den Behandlungsangeboten und inhaltlichen Schwerpunkten der Diabetesklinik Bad Mergentheim: www.diabetes-zentrum.de
  • Literatur zu “Diabetes und Psyche”: Karin Lange und Axel Hirsch (Hrsg.): “Psychodiabetologie”, Kirchheim-Verlag, Mainz, 2002
  • Literatur zu Stressbewältigung/Reduktion von Belastungen: Gert Kaluza: “Gelassen und sicher im Stress – Das Stresskompetenz-Buch: Stress erkennen, verstehen, bewältigen”, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg, 2014 (5. Auflage)
  • Literatur zu Diabetesakzeptanz und Behandlungsmotivation: Achim Stenzel: “Diabetes akzeptieren und Motivation gewinnen”, Kirchheim-Verlag, Mainz, 2012
  • Diabetes-Akademie Bad Mergentheim e. V.: gemeinnütziger Förderverein für Diabetes in Wissenschaft, Forschung, Fortbildung und Patienteninformation; hier gibt es immer wieder Veranstaltungen und Informationen auch zu Diabetes und Psyche: www.diabetes-akademie.de
  • Übersicht über Diabetes-Schulungsprogramme (z. T. auch unter Berücksichtigung psychischer Aspekte des Diabetes und seiner Behandlung): www.diabetes-schulungsprogramme.de

Beispiel Anne M.: Was steckte dahinter?

Anne M. (45) hat seit 32 Jahren Typ-1-Diabetes mit intensivierter Insulinbehandlung (ICT); sie kam zu uns in die Klinik mit deutlicher hyperglykämischer Entgleisung. Sie ist alleinerziehende Mutter (14-jähriger Sohn)und hatte seit einem halben Jahr deutlich erhöhte Blutzuckerwerte (HbA1c 12 Prozent, 108 mmol/mol). Es bestand großer subjektiver Leidensdruck und dringlicher Handlungsbedarf, was sich auch darin zeigte, dass Frau M. in der Weihnachtszeit stationär aufgenommen wurde.

Weiterhin war bei Aufnahme offensichtlich, dass Frau M. weder unzuverlässig oder mit zu geringer Behandlungsmotivation noch unzureichend geschult war. Was steckte also hinter den hohen Blutzuckerwerten?

Im psychologischen Gespräch konnten weitere Faktoren ausgeschlossen werden: So lagen keine Essstörung, keine Spritzen- oder Nadelangst und auch keine Akzeptanzprobleme vor. Es kristallisierten sich schließlich zwei wesentliche Faktorenheraus, die in der jüngeren Vergangenheit am wahrscheinlichsten zu der hyperglykämischen Stoffwechsellage beigetragen hatten:

  1. Zusatzbelastung durch psychiatrische Begleiterkrankung (depressive Verstimmung, Ängste).
  2. Hauptursache war jedoch eindeutig: Hypoglykämieangst, deutlich übersteigerte Befürchtung, eine Unterzuckerung zu bekommen und daran zu sterben.

Auf der Grundlage der beschriebenen Eingrenzung der Gründe für die beobachtete Stoffwechselentgleisung von Frau M. konnte während ihres stationären Aufenthalts von psychologischer Seite gezielt eingegriffen werden: Die Aufarbeitung einer als traumatisch einzustufenden Unterzuckerung 8 Monate zuvor erbrachte hier den Durchbruch in der Behandlung:

Todesangst und Panik

Die Patientin hatte bei der damals noch durchgeführten Pumpentherapie aufgrund eines Bedienfehlers versehentlich eine ganz erhebliche Insulin-Überdosierung herbeigeführt. An jenem Tag war sie über Stunden in einem Zustand, in dem sie zwar ständig schnellwirksame Kohlenhydrate zuführte, aber den Bereich der Unterzuckerung längere Zeit nicht verlassen konnte; sie musste eine starke Angstsymptomatik bzw. regelrechte Todesangst und Panik ertragen.

Dies führte später dazu, dass die Patientin ihre Pumpe ablegte und zur ICT zurückkehrte. Außerdem entwickelte sie ein extrem ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis, Unterzuckerungen um jeden Preis zu vermeiden. Fortan war für sie oberste Priorität, immer einen Sicherheitsabstand zu möglichen Hypoglykämien zu haben; sie hielt die Blutzuckerwerte bewusst und aktiv über ihrer persönlichen Untergrenze von 200 mg/dl (11,1 mmol/l).

Die Behandlung von psychologischer Seite basierte vor allem auf 3 Therapie-Säulen:

  1. Psycho-Edukation, d. h. Vermittlung realistischer Informationen zu Unterzuckerungen und Unterzuckerungsbehandlung (z. B. Überprüfung ihres bisherigen Wissens zur Gefährlichkeit von Unterzuckerungen).
  2. Training eines Abbaus des Vermeidungsverhaltens (aktives Hochhalten der Werte): Zunächst in der Klinik, also im geschützten Rahmen, konnte sich Frau M. darauf einlassen, niedrigere persönliche Zielwerte bzw. Blutzuckerwerte auszuhalten und die Erfahrung zu machen, dass ihr bisheriges Sicherheitsbedürfnis deutlich übersteigert war.
  3. Wichtigster und effektivster Therapiebaustein war im Fallbeispiel die Bearbeitung des traumatischen Unterzuckerungserlebnisses. Die Patientin berichtete erstmals und ausführlich über die Geschehnisse, vor allem auch über ihre stark belastenden Gedanken und Gefühle während der schweren Unterzuckerung; im Zuge der Schilderungen wurde für die Patientin nochmals besonders deutlich, dass ihr aktueller Therapiealltag nur sehr wenig mit den besonderen Umständen zu tun hat, die zu dieser schweren Hypoglykämie geführt hatten (Pumpentherapie mit eindeutiger Fehlbedienung der Insulinpumpe).

Somit wurde ihr selbst bewusster, dass das extreme und konsequent durchgezogene Hochhalten der Werte gar nicht nötig ist. Sie konnte schließlich für sich annehmen, dass der bislang so gefürchtete Wiederholungsfall extrem unwahrscheinlich ist. Frau M. konnte in der Folge ihr Sicherheitsverhalten schrittweise abbauen und sich – bei deutlich reduzierter Angst – auf eine normnahe Blutzuckereinstellung einlassen.

Schwerpunkt Blutzuckerentgleisung

von Dipl.-Psych. PD Dr. Arne Schäfer
Diabetes Klinik Bad Mergentheim, Theodor-Klotzbücher-Straße 12, 97980 Bad Mergentheim
Tel.: 07931/594-517, E-Mail: schaefer@diabetes-zentrum.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2015; 64 (6) Seite 26-31

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