Regeln finden, Regeln umsetzen

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Regeln finden, Regeln umsetzen

In Teil 2 des Artikels zur Konsequenz in der Erziehung geht es darum, wie Eltern ihrem Kind helfen können, sicher und mit Selbstvertrauen die Welt zu entdecken und kreative Lösungen zu finden (Förderung exekutiver Hirnfunktionen).

Die exekutiven Hirnfunktionen sind für Kinder mit Diabetes wichtig, sobald sie auch einmal allein unterwegs sind. Ihr Aufbau kann durch Umwelteinflüsse und Lernen beeinflusst werden.

Exekutive Funktionen fördern – aber wie?

Die Grundlagen für diese Fertigkeiten werden bereits im Säuglingsalter im engen (körperlichen) Zusammensein mit der Mutter und dem Vater gelegt. Im Kontakt mit den Eltern erlebt das Kind, wie es auf andere Menschen wirkt, welche Reaktionen es hervorrufen kann, es wird beruhigt, wenn es sich erschreckt und Angst hat. Vorhersehbares – also konsequentes – elterliches Verhalten stärkt die Selbstwahrnehmung des Kindes und prägt über eine sichere emotionale Bindung seine seelische Stabilität.

Diese ist wiederum die Grundlage dafür, dass ein Kind seine Umgebung nach und nach erobern und sich ohne Angst vor Bindungsverlust erproben kann. Es lernt, dass es in seiner begrenzten Welt etwas beeinflussen, steuern und kontrollieren kann. Außerdem kann es seine Umgebung – Geräusche, Gerüche, Geschmack und viele andere Eindrücke – zunehmend besser einordnen. Aus all diesen Erfahrungen erwächst schon früh ein erster Eindruck von Selbstwirksamkeit – die Grundlage für eine seelisch stabile Persönlichkeit.

Demgegenüber werden Kinder schnell verunsichert, wenn sie bei gleichem Verhalten auf unterschiedliche Reaktionen stoßen, weil zu viele Erwachsene sie nach ganz unterschiedlichen Regeln betreuen und mal mit Zuwendung, mal abweisend oder gar nicht reagieren. Kinder werden dadurch schnell verunsichert und reagieren passiv und ängstlich.

Für Kindergartenkinder

Im Kindergartenalter, etwa zwischen dem 3. und 6. Lebensjahr, vollzieht sich ein weiterer großer Entwicklungsschritt: Zwei- bis Dreijährige erkennen sich selbst als Person und damit auch die eigenen Wünsche und Ziele. Sie wollen sich erproben, bestätigen und versuchen oft, sich mit aller Kraft durchzusetzen. Eltern haben hier die Aufgabe, ihre Kinder durch konsequente Regeln vor Gefahren zu schützen, ohne deren Tatendrang zu sehr einzugrenzen oder die Kinder zu entmutigen.

Dazu sollten sich Eltern zunächst überlegen, wo sie wirklich Grenzen setzen oder Regeln einführen wollen und müssen. Manchmal ist hier weniger mehr. Einmal festgelegte Regeln sollten sie konsequent einfordern und vorleben, z. B. beim Anschnallen im Auto, an der roten Ampel, beim Zähneputzen, bei Süßigkeiten, bei der Insulingabe oder beim Blutzuckermessen.

Kinder in diesem Alter lernen durch Erfahrung, d. h. durch Anerkennung der Eltern für richtiges Verhalten, aber auch durch unangenehme Konsequenzen, wenn wichtige Regeln nicht befolgt wurden. Dies stellt viele Eltern vor große Herausforderungen: Welche Regeln sind wirklich wichtig? Welche Regeln versteht mein Kind? Was tun wir, wenn es sich nicht an die Regeln hält? Und was passiert, wenn es mit der Konsequenz nicht klappt? In Elterntrainings, z. B. auch im DELFIN-Programm für Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes, lernen Mütter und Väter, darauf persönlich passende Antworten zu finden. Ein einfaches Patentrezept gibt es hier leider nicht.

Zunächst sollten sich Eltern selbst klarmachen, dass nicht jeder Wunsch ihres Kindes erfüllt werden kann und Tränen der Enttäuschung oder Wut in diesem Alter nicht immer vermieden werden können. Es gehört zum normalen Entwicklungsprozess, dass Kinder lernen, mit Enttäuschungen umzugehen und sich selbst wieder zu beruhigen. Wenn Eltern meinen, dass ihr Kind niemals enttäuscht oder frustriert sein soll, fördern sie nur dessen unbegrenzten und letztlich gefährlichen Egoismus.

Regeln für Vorschulkinder

Regeln für Vorschulkinder sollten einfach sein und einer altersgemäßen Logik entsprechen. Es muss ein klares “Ja” und ein klares “Nein” geben, ein “Vielleicht unter bestimmten Umständen” können Vorschulkinder nicht verstehen. Wenn Kinder die Regeln konsequent umsetzen, z. B. immer Traubenzucker dabeihaben, sollte dies anerkannt werden – und nicht nur mit Konsequenzen gedroht werden, wenn etwas vergessen wurde. Am besten lernen Kinder durch Erfolgserlebnisse und das Gefühl, etwas selbst geschafft zu haben – durch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.

Ebenso wie einige klare Verbote brauchen Kinder aber auch Anregungen, wie sie sich selbst entfalten und Bestätigung finden können.

Altersgemäße Aufgaben

Dazu können ihnen die Eltern altersgemäße Aufgaben stellen, mit ihnen üben, Schritt für Schritt Probleme anzugehen und kreative Lösungen zu finden. Die Aufgaben sollten sich an den Fähigkeiten des Kindes orientieren und realistische Ziele einschließen, die das Kind auch mit etwas Anstrengung erreichen kann.

Die Lösung einer Aufgabe, z. B. einen Insulinkatheter gemeinsam setzen, kann manchmal etwas dauern, Geduld auf beiden Seiten erfordern und nicht immer gleich zu optimalen Ergebnissen führen. Auf jeden Fall werden damit die Problemlösefähigkeit, die Kreativität, das Selbstbewusstsein und die Frustrationstoleranz des Kindes unterstützt.

Eltern, die ihrem Kind dagegen alle Hürden aus dem Weg räumen, z. B. den Katheter schnell selbst setzen und eine Belohnung versprechen, wenn das Kind kein Theater macht, verhindern Erfolgserlebnisse ihres Kindes und notwendige Lernprozesse. Dafür unterstützen sie ein Gefühl der Hilflosigkeit und Selbstbezogenheit und behindern die altersgemäße emotionale Entwicklung.

Unerlässlich: mit anderen Alltag erfahren

Die Fähigkeit zur Problemlösung, die geistige Flexibilität und die Frustrationstoleranz entwickeln und verbessern sich nur durch eigene Erfahrungen im Alltag zusammen mit Gleichaltrigen, Geschwistern und vor allem bei gemeinsamen Aktivitäten mit Eltern und anderen Erwachsenen.

Passiver Zeitvertreib (langer Medienkonsum!) hält Kinder dagegen von diesen wichtigen Erfahrungen der eigenen Kompetenz und im Umgang mit anderen ab. Die Fertigkeiten bilden sich zurück, und Kindern fällt es immer schwerer, sich in der Gruppe Gleichaltriger wohl zu fühlen. Ebenso nehmen die Konzentrationsfähigkeit, Stressstabilität und die Eigenmotivation ab.

Eltern, die ihren Kindern verlässlich – konsequent – als Vorbild dienen, ihnen Werte und Halt vermitteln und sie einfühlsam auf dem Weg in die selbstständige Lösung von Aufgaben und Problem unterstützen, schaffen die Basis für eine gute Entwicklung der Hirnareale, die später zur Bewältigung des Lebens (mit Diabetes) dringend erforderlich sind.

Fazit

Konsequentes (vorhersehbares) Verhalten stärkt die Selbstwahrnehmung des Kindes und seine seelische Stabilität und lässt es Selbstwirksamkeit erfahren. Die Basis dafür wird schon im Säuglingsalter gelegt. Im Kindergartenalter helfen Grenzen und Regeln, um zu lernen, mit Enttäuschungen umzugehen.

Altersgemäße Aufgaben unterstützen Problemlösefähigkeit, Kreativität, Selbstbewusstsein und Frustrationstoleranz. Auch der Umgang mit Gleichaltrigen und Erwachsenen ist wichtig. All dies bereitet auf die Bewältigung des Lebens (mit Diabetes) vor.


von Prof. Dr. Karin Lange (Dipl.-Psych.)
Leiterin Medizinische Psychologie // Medizinische Hochschule Hannover // E-Mail: Lange.Karin@MH-Hannover.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2015; 8 (4) Seite 12-13

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