Situationen ohne Möglichkeit zum Messen

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Situationen ohne Möglichkeit zum Messen

Viele Menschen mit Diabetes haben sich inzwischen daran gewöhnt, immer und überall ihre Glukosewerte messen oder abrufen zu können. Was aber passiert, wenn das Messen, warum auch immer, für ein paar Stunden nicht möglich ist? Jan Wezel hat sich, als er einen Reinraum besuchte, in den er nichts mit hineinnehmen durfte, darüber Gedanken gemacht.

Steckbrief

Name: Jan Wezel
Alter: 24 Jahre
Diabetes seit: Typ-1-Diabetiker seit 2015
Therapie: ICT, FreeStyle Libre
Beruf: Unternehmens-interner Berater
Hobby: Latein-Turniertanz, Wandern, Gleitschirmfliegen, Joggen, Theaterspielen, Musikmachen
Lebensmotto: er Diabetes lebt mit mir, nicht ich lebe mit dem Diabetes!
Kontakt: JP.Wezel@online.de

Ein Besuch in einem Reinraum der Halbleiter-Fertigung hat mich im Nachhinein zum Nachdenken angeregt. Grund war, dass ich wegen der Betriebsgeheimnisse und zum Verhindern der Kontamination für drei bis vier Stunden auf jegliche Möglichkeit zum Glukosemessen verzichten musste.

Ungewohnte Situation

Mich hat es überrascht, wie ungewohnt die Situation und das Gefühl waren, für etwa drei Stunden keine messtechnische Gewissheit zu haben. Selbstverständlich hatte ich während dieser Zeit immer die Möglichkeit, den Reinraum zu verlassen und mich über meinen aktuellen Zuckerwert zu informieren, falls ich eins meiner für mich typischen Signale einer Über- oder Unterzuckerung wahrnehmen würde – aber allein die Tatsache, mein Messgerät (in dem Fall das Smartphone) nicht direkt griffbereit bei mir zu haben, war ein neues Gefühl, mit etwas Aufregung und Ungewissheit. Dieses Erlebnis hat mir gezeigt, dass sich meine Form des Messens und der Auslöser, der mich zum Messen motiviert, seit Beginn der Erkrankung verändert hat.

Mehr als 10-mal am Tag gestochen

Nach meiner Diagnose Diabetes mellitus Typ 1 im Jahr 2015 startete ich in das Diabetes-Management mit dem Messen meiner Blutzuckerwerte mit Blut aus den Fingerkuppen mittels Stechhilfe und Teststreifen. Da ich anfangs noch sehr unsicher war, maß ich über ­10-mal am Tag – getreu dem Motto „lieber einmal zu viel als zu wenig“. Mit der Routine und Sammlung erster Erfahrungen nahm diese Zahl leicht ab, womit ich auch öfter Abstände von über drei Stunden hatte. Interessanterweise hat mich dies damals nie gestört.

So hat sich die Mess-Häufigkeit ab der Diagnose bis heute verändert.

Als aktiver Gitarrenspieler war ich sehr gewillt, möglichst schnell auf eine alternative Messmethode zum „Finger-Piksen“ umzusteigen. Erst als ich in den Genuss des Flash-Glukose-­Monitorings kam, wurde mir bewusst, dass ein zweiter großer Vorteil im deutlich erhöhten Informationsgehalt steckt – dadurch, dass nicht nur eine einmalig gemessene Momentaufnahme, sondern auch aufgrund der Werte aus der Vergangenheit ein prognostizierter Trend angezeigt wird. Fasziniert durch die bequeme und praktische Messmethode sowie deutlich umfangreichere Informationen hatte ich anfangs durchschnittlich ca. 20 Scans pro Tag, was sonst 20 Einstichen in die Fingerkuppen entsprochen hätte. Das ist für einen Gitarristen unvorstellbar.

Mit Alarmen deutlich seltener ­gescannt

Als ich 2019 auf die zweite Generation – ein alarmfähiges Mess-System – umstieg, hat sich mit zunehmendem Vertrauen die Anzahl der Scans pro Tag kontinuierlich reduziert. Neben gewöhnlichen Scans (z. B. nach dem Aufstehen, vor den Mahlzeiten und vor bzw. bei besonderen Ereignissen wie Auftritten, Sport) hat sich meine Mess-Taktik eher in eine reaktive Taktik verändert. Das heißt, ich vertraute bzw. vertraue auf meine Körper-Wahrnehmung und die Alarm-Funktion des Mess-Systems. Das wiederum bedeutet, dass ich – mit den zuvor genannten Ausnahmen – nur bei entsprechenden Alarm- und Körpersignalen messe, während ich zuvor in mehr oder weniger gleichen Abständen Kontroll-­Messungen vorgenommen habe.

Dies führte dazu, dass ich aktuell durchschnittlich nur noch 5 Scans am Tag habe. In Phasen, in denen mein Zuckerspiegel stark schwankt bzw. schwierig einzustellen ist, scanne ich natürlich weiterhin öfters, um ggf. schon vor der Alarmierung durch das Messgerät reagieren zu können. Denn enorm wichtig für diese reaktive Mess-Taktik ist in meinen Augen das richtige Setzen der Alarm-Grenzen, die ich als Vorwarn-Maßnahme bei 70 bzw. 160 mg/dl (3,9 bzw. 8,9 mmol/l) gesetzt habe. Diese Werte sollten jedoch für jede Person individuell – in Absprache mit dem Arzt/der Ärztin – definiert werden.

Wichtig ist, Körper-Signale zu ­kennen

Besonders zu betonen ist, dass trotz der „passiven Sicherheit“ – die Systeme zum kontinuierlichen Glukosemessen heutzutage suggerieren – immer ein Alarm ausbleiben kann, wenn z. B. die Verbindung zwischen Sensor und Empfangsgerät beeinträchtigt wird, man das Empfangsgerät verliert bzw. temporär keinen Zugriff darauf hat (wie ich z. B. Beispiel im Reinraum).

Wichtig ist es daher, die eigenen Unter- bzw. Überzucker-Warnsignale zu kennen und bewusst wahrzunehmen. Für mich ist daher wichtig, im Alltag auch einmal bewusst den unangenehmen Moment einer Unter- bzw. Überzuckerung körperlich wahrzunehmen – was nicht bedeutet, dass diese aktiv herbeigeführt werden sollen, aber wenn eine auftritt, kann man damit wenigstens noch „etwas Positives daraus ziehen“: Fange ich an zu zittern? Werden meine Gedanken schwammig bzw. lässt die Konzentration nach? Wie ist mein Gespür in den Fingerkuppen? Wie fühlen sich mein Mund, meine Zunge an? Wird mir warm? Bekomme ich Durst oder Heißhunger?

Messfreie Phase gut vorbereiten

Da während des Reinraum-Besuchs die passive Sicherheit durch Alarm-Funktion des Mess-Systems nicht gegeben war, musste ich mich also komplett auf meine Körper-Signale verlassen. Ab etwa zwei Stunden vor Betreten des Reinraums begann ich, durch höherfrequentes Messen den Verlauf und die Tendenz meines Zuckerspiegels genau zu beobachten, und ging durch das frühzeitige Essen eines Müsliriegels mit einem Wert von 182 mg/dl (10,1 mmol/l) und gleichbleibender Tendenz in den Reinraum, um einen kleinen Puffer gegen eine Unterzuckerung zu haben.

Anzeichen durch Diabetes oder andere Faktoren?

Während meines Reinraum-Besuchs habe ich mir genau diese Fragen wiederholt gestellt. Erschwerend kam jedoch in dem Fall hinzu, dass die Reinraum-Umgebung inklusive der zu tragenden Ganzkörper-Bekleidung (Haube, Helm, Mundschutz, Schutzbrille, Ganzkörper-Anzug, „Regenjacke“ …) für mich neu war, weshalb es herausfordernd war, zu erfassen, ob mein Körper-Gefühl bzw. die Signale durch die Umgebung und die Kleidung oder durch meinen Zuckerspiegel verursacht wurden.

Im Reinraum hatte ich nach kurzer Zeit z. B. ein Hitze-­Gefühl, dass ich als Unterzuckerungs-Signal kenne. Die anderen Körper-Signale haben mich in dem Fall jedoch vermuten lassen, dass mein Gefühl durch die Umgebung verursacht wurde, was sich im Nach­hinein durch das Betrachten meiner Glukose-Kurve auch als wahr bestätigt hat. Das heißt, mein Hitze-Gefühl war allein der Umgebung und der Kleidung geschuldet. Beim Verlassen des Reinraums – nach vier Stunden – hatte ich einen Wert von 138 mg/dl (7,7 mmol/l) mit leicht steigender Tendenz.

Diese Prozedur aus Vorbereitung und aktivem Wahrnehmen der Körper-Signale, während ein Messen nicht möglich ist, wende ich auch in anderen Situationen – wie längeren geschäftlichen Präsentationen, Musik-Auftritten, ­Theater-Besuchen o. ä. an. Auch wenn es vielleicht so scheinen mag, dass man somit den ­Diabetes für kurze Zeit ausblenden könne, sind diese Phasen tatsächlich immer die Zeiträume, in denen ich am häufigsten an den ­Diabetes denke – ohne dass es die Mitmenschen bemerken.


von Jan Wezel
E-Mail: JP.Wezel@online.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (5) Seite 38-40

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