So sieht die Zukunft aus

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So sieht die Zukunft aus

Fortschritte in der Diabetestechnologie werden von vielen Menschen mit Diabetes sehnsüchtig erwartet – das zeigt sich z. B. am großen Interesse an der Technik des Flash Glucose Monitoring (FreeStyle Libre). Was es sonst noch Neues gibt, berichtet Dr. Andreas Thomas.
Hier die leicht gekürzte Version seines Artikels aus der Zeitschrift „Diabetes, Stoffwechsel und Herz“ (Ausgabe vom Dezember 2015) für alle, die im Bereich Diabetestechnologie auf dem Laufenden bleiben möchten.

Hinweis: Angehörige medizinischer Fachkreise, die sich registriert haben, können auf www.diabetologie-online.de in ungekürzter Form lesen.

Was auch immer wir unter Diabetestechnologie verstehen – durch unseren vom Fortschritt der Technik geprägten Alltag sehen wir darin innovative Entwicklungen, die sich am maximal möglichen technischen Know-how orientieren. Dass dabei die Schere zwischen modernen Konsumgütern und der realisierten Diabetestechnologie auseinandergeht, hat vor allem mit den Sicherheitsaspekten von Medizintechnik und den sich daraus ergebenden regulatorischen Hürden zu tun. Allerdings gibt es in anderen Teilen der Welt auch ganz andere Gegebenheiten als in unserer westlichen Welt.

Tontöpfe kühlen Insulin

Ein Beispiel dazu wurde beim Kongress der ISPAD (International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes) gezeigt, auf welchem auch die Anliegen und Bemühungen von Entwicklungsländern gezeigt werden. Da ging es zum Beispiel um die Frage, wie in heißen Ländern wie Tansania, dem Sudan, Mali, Äthiopien, Haiti, Indien und Pakistan (mit Tagesdurchschnittstemperaturen über 30 °C) das Insulin ohne verfügbare Kühlschränke so gelagert werden kann, dass es seine metabolische Wirkung beibehält.

Man fand heraus, dass Tontöpfe dazu geeignet sind, und untersuchte, welche Form dazu die beste ist. Nun lässt sich das physikalisch berechnen, trotzdem ist natürlich das Experiment das entscheidende Kriterium. Es wurde herausgefunden, dass bauchige, aber schmalhalsige Tongefäße am besten geeignet sind und für eine um 5 bis 7 °C niedrigere Temperatur sorgen (die Töpfe standen natürlich im Schatten). Damit ließ sich das Insulin über fünf Monate lagern mit einem Aktivitätsverlust von höchstens 2 Prozent.

Stellen nun Tontöpfe Diabetestechnologie dar? In den genannten Ländern ist das zweifellos der Fall. Dieses Beispiel zeigt deutlich den Unterschied von heute Möglichem und in manchen Teilen der Welt nur Machbarem – und relativiert auch etwas die Ansprüche in unserer modernen Gesellschaft.

Patch-Pumpen, die mehr können?

Fortschritt in der Diabetestechnologie bedeutet natürlich etwas anderes, nämlich die Entwicklung von Systemen für die Insulinabgabe, die Steuerung der Insulinabgabe durch den aktuellen Glukosespiegel, was das kontinuierliche Glukosemonitoring (CGM) voraussetzt, bis hin zum Wunschziel, der Realisierung eines artifiziellen Pankreas (Closed Loop) als eine technische Lösung, die den Patienten vom eigenen Diabetesmanagement weitestgehend entlastet.

Diesbezüglich bot insbesondere der Kongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) Neuigkeiten. So zeigte das im Jahr 2013 gegründete, niederländische Unternehmen ViCentra eine Insulinpumpe namens Kaleido. Diese ist ähnlich wie die bereits mehrfach vorgestellte britische Cellnovo eine Kombination zwischen einer traditionellen Insulinpumpe und einer PatchPump. Das heißt, dass die relativ kleine Pumpe auf die Haut aufgeklebt wird, aber ein kurzes Infusionsset besitzt. Die Pumpe hat das Display nicht auf dem Pumpenkorpus, sondern auf einem zusätzlichen Steuergerät. Die Kaleido zeichnet sich insbesondere durch eine bemerkenswerte Farbenvielfalt aus. Über deren Verfügbarkeit, Markteintritt usw. war nichts zu erfahren.

Das betrifft übrigens auch eine Reihe weiterer vorgestellter Produkte oder vielleicht auch Projekte. So berichtete das südkoreanische Unternehmen Diamesco über die Entwicklung einer PatchPump, gleichfalls das Unternehmen Medtrum Technologies aus Shanghai (China), welches ein virtuelles Closed Loop vorstellte, bestehend aus PatchPump und einem Glukosesensor, der über sieben Tage messen soll. Weder über die technischen Systeme noch über die Steueralgorithmen war dazu etwas zu erfahren. Auch im Internet finden sich keine näheren Informationen.

Produkte „aus der Garage“ – das geht nicht mehr

Warum also diese Aufzählung? Viele interessierte Patienten informieren sich im Internet über Innovationen auf dem Gebiet der Diabetestechnologie. Genau genommen ist das Ziel der Entwicklungen klar: Insulinabgabe über möglichst bedienerfreundliche und bequem zu tragende Insulinpumpen, zuverlässige, vielleicht auch kalibrationsfreie kontinuierliche Glukosemessung und entsprechende Algorithmen für ein Closed Loop.

Wo liegen also die Probleme, wenn doch alles bekannt ist, was notwendig ist? Warum haben etablierte Unternehmen wie Roche, Johnson & Johnson oder Medtronic mit ihrem großen Potential nicht schon lange den Durchbruch geschafft? Das liegt nicht am Wissen um das, was zu entwickeln ist, sondern an der Umsetzung in eine Technologie, an der möglichst hohen Zuverlässigkeit und der Sicherheit in der Anwendung, an der Zulassung der Produkte und vor allem auch an der klinischen Implementierung. Das ist ein extrem langwieriger und kostenintensiver Prozess. Die Zeit, als Produkte “in einer Garage” entwickelt und in den Verkehr gebracht wurden, ist schon lange vorbei.

Auch ist neben den Produkten ein hohes Maß an Service seitens der Unternehmen notwendig. Das perfekte, leicht zu bedienende und zu 100 % funktionierende Produkt in großen Stückzahlen zu einem niedrigen Preis auszuliefern, ist eine Illusion.

Der Autor
Dr. Andreas Thomas ist Physiker und als Scientific Manager im Geschäftsbereich Diabetes des Unternehmens Medtronic tätig. Sein wissenschaftliches Interesse gilt der Insulinpumpentechnik, Glukosesensoren, dem kontinuierlichen Glukosemonitoring (CGM-Systeme) und dem Closed Loop („künstliches Pankreas“). Er ist Mitglied der Redaktion von „Diabetes, Stoffwechsel und Herz“, der führenden Fortbildungszeitschrift für alle, die in der Kardiodiabetologie und verwandten Fachgebieten tätig sind.

Zusätzlich zur Technik ist aufwendiger Service nötig

Also muss ein aufwendiger Service aufgebaut und aufrechterhalten werden, der den Ärzteteams und vor allem den Patienten zu jeder Zeit als Ansprechpartner dienen kann und damit Sicherheit vermittelt. Das genau ist der entscheidende Schritt von der innovativen Idee zum anwendbaren und auch für das Unternehmen profitablen Produkt.

Viele Insulinpumpen wurden in der Vergangenheit vorgestellt, die sich derzeit nicht auf Kongressen wiederfinden, so z. B. die JuwelPump des Schweizer Unternehmens Debiotech, die ADI des israelischen Unternehmens Nilimedix oder eben auch die Cellnovo. Ob, wann und in welchen Ländern diese Systeme verfügbar sind, ist folglich schwer einzuschätzen. Unabhängig aber davon: Solche kleinen Unternehmen tragen zur Entwicklung bei. Sie führen bekannte Prinzipien in die Nähe der technischen Möglichkeiten moderner Konsumgüter und inspirieren damit auch größere, etablierte Unternehmen.

Wann kommt die YpsoPump?

Zu diesen etablierten Unternehmen ist sicher Ypsomed zu zählen, welches auf dem EASD-Kongress die mylife YpsoPump vorstellte. Diese “traditionelle”, also mit Infusionsset zu betreibende Insulinpumpe ist zeitnah im Markt zu erwarten. (Anmerkung der Redaktion: Ende März 2016 war auf der Ypsomed-Internetseite zu lesen, dass die YpsoPump in ersten Märkten ab Anfang 2016 erhältlich sein soll.) Sie zeichnet sich vor allem aus durch einfache Bedienung über die Symbole eines Touchscreens und erfüllt die Funktionen der etablierten Insulinpumpen.

Das Ziel: Closed Loop

Die Entwicklung der Therapie in Richtung Closed Loop ist das Ziel des Unternehmens Medtronic. Das aktuelle Insulinpumpenmodell lässt sich nicht nur optional mit dem Glukosesensor koppeln, sondern dieser kann auch noch selbständig prädiktiv für die Abschaltung der Insulinabgabe bei Gefahr einer Hypoglykämie und der automatischen Wiederzuschaltung bei Normalisierung des Glukosespiegels sorgen. Erste Studiendaten belegen, dass mehr als 80 % der prädiktiven Abschaltungen dazu führen, dass der eingestellte Schwellenwert für die Abschaltung nicht unterschritten wird. 97 % der Hypoglykämien werden dadurch vermieden.

Weniger Zeit in Hypoglykämien

Interessant ist eine Analyse von Daten aus der Alltagsanwendung, was über die Datenbank CareLink möglich ist. Darin befinden sich nicht auf den individuellen Patienten zurückführbare Glukosedaten von Anwendern der Medtronic-Insulinpumpen. Eine auf dem ISPAD-Kongress gezeigte Analyse verdeutlicht, dass Anwender von Pumpen mit Hypoglykämieabschaltung signifikant weniger Zeit in einer nächtlichen Hypoglykämie verbringen als Anwender von CGM allein.

Egal, ob das CGM mit aktuellen Glukosedaten (Real-Time-CGM, RT-CGM) unter der intensivierten Insulintherapie (ICT) oder der Insulinpumpentherapie angewendet wurde, führte das in allen Fällen zu einer durchschnittlichen verbrachten Zeit im Hypoglykämiebereich von 0,4 Stunden/Nacht. Diese Zeit verringerte sich bei Anwendung der Hypoglykämieabschaltungen deutlich. Das zeigt, dass CGM an sich schon vorteilhaft ist, aber natürlich der Reaktion durch die Patienten bedarf, was sich gerade nachts als schwierig darstellt. Wird diese Reaktion unnötig, weil das System für die sensorunterstützte Pumpentherapie (SuP) das regelt, so verbessert sich die Situation noch deutlicher. Das ist ein Zeichen für das Potential der automatisierten Therapieunterstützung.

Nötig sind zuverlässige CGM-Systeme

Die Entwicklung von Closed-Loop-Systemen bedarf zuverlässiger CGM-Systeme. Die bisher verfügbaren elektrochemischen “Nadelsensoren” wurden mehrfach verbessert, beruhen aber weiterhin auf der enzymatischen Umwandlung von Glukose mittels Glukoseoxidase. Ein Nachteil ist, dass die Sensoren eine Anwendungsdauer von fünf bis sieben Tagen haben und danach gewechselt werden müssen. Im Vergleich dazu beruht ein implantierbarer Sensor des Unternehmens Senseonics auf der Messung der Fluoreszenz. (…) Das Unternehmen Senseonics hat die CE-Zulassung beantragt und möchte noch im Jahr 2015 in Schweden und Norwegen mit dem Vertrieb beginnen. Zu diesem Zeitpunkt sollen auch die Ergebnisse einer Studie über 90 Tage vorliegen.

Glukosesensoren werden weiterentwickelt – Stichwort: Nanotechnologie

Es gibt eine Reihe weiterer Projekte, von zum Teil neugegründeten Firmen, welche zum Teil neuartige Glukosesensoren auf den Markt bringen möchten. Die Möglichkeiten, die sich durch moderne Technologien ergeben – besonders zu erwähnen ist hier die Nanotechnologie –, übersteigen bei weitem die bisher angewendeten Methoden.

Das lässt auch ein nichtinvasives Glukosemonitoring wieder denkbar erscheinen, weil dadurch gezielt Materialien erzeugt werden können, die im Größenbereich von weniger als 100 nm strukturiert werden und wo dadurch quantenmechanische Effekte zum Tragen kommen. Diese gewährleisten gegenüber herkömmlichen Glukosesensoren eine extreme Empfindlichkeit bei der Messung (um mehrere Größenordnungen). Darüber hinaus können diese preiswert sein, weil sie mit Technologien der Elektronikindustrie hergestellt werden müssen. In diesem Sinne wird die Entwicklung von Glukosesensoren in den nächsten Jahren revolutioniert werden.


Redaktion Diabetes
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Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90,
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