“Sosein”: So soll es sein!

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“Sosein”: So soll es sein!

Das Echt essen-Gasthaus im Dezember: Das fränkische Gasthaus verzückt die Essenskritiker – und zeigt, wie eine raffinierte Heimatküche heute sein soll. Eine Entdeckungs-Reise

Felix Schneider gibt Gas. In rund zwölf Monaten hat der 30-jährige geschafft, wofür andere Jahre brauchen: Er hat das „Sosein“ in Heroldsberg nördlich von Nürnberg aus dem Stand heraus in die exklusive Liga des Michelin-Sterns gekocht; er ist mit dem ehemaligen Landgasthof Schwarzer Adler, der jetzt auf eine zeitgeistige Alliteration hört, „Entdeckung des Jahres 2017“ im renommierten „Gault Millau“. Auch gibt es eine Vielzahl von Artikeln über Felix Schneider in wichtigen Fachmagazinen. Ende September erlebe ich ihn beim Avantgardeköchetreff „Chefsache“, wo er das Sosein souverän vorstellt – und wo er mit Weltköchen wie René Redzepi vom dänischen Noma verglichen wird. Höchste Ehren also, aber an dem bodenständigen, im Raum Nürnberg geborenen Koch prallt das ab, er bleibt unter seiner Baskenmünze geerdet – was mir gefällt. In Köln verabreden wir uns, und ich besuche ihn in Heroldsberg.

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Wertewandel: „Schwarzer Adler“ wird „Sosein“

Von Nürnberg ins zehn Kilometer entfernte Heroldsberg fährt der Zug durch den Reichswald, das ideale Umfeld für einen Naturkoch. Vom Bahnhof sind es wenige hundert Meter bis zum stilvoll umgebauten „Sosein“. Dort sehe ich Felix Schneider mit einer Journalistin sprechen – und schaue mir derweil das Städtchen mit seiner markanten Kirche St. Matthäus und seinen vier Schlössern an und lese in der Ortschronik, dass Albrecht Dürer um 1510 aus dem Fenster des Roten Schlosses ein Bild des früher von Landwirtschaft dominierten Ortes gemalt hat.

Große Ehre: Über drei Stunden in der Küche

Zurück vom Rundgang geht’s direkt in die Küche. Erster Eindruck: Groß ist’s hier nicht. Aber das ist in vielen Küchen aufstrebender Köche so. Zweiter Eindruck: Die sind gut drauf hier mit ihrer Rockmusik. Die, das sind die drei Köche, welche sich blind verstehen, sich vielfach schon länger kennen, freundlich und konzentriert arbeiten. Runde drei Stunden dürfen wir zu zweit dabei sein, dürfen alles fragen, bekommen alles ausführlich und kompetent erklärt – eine große Ehre, danke!

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Dreierbande: Thomas Prosiegel, Felix Schneider, Stefan Frank

Picksauber ist es hier – und das bleibt die gesamten drei Stunden so. Permanent wischt jeder alles weg. Laut wird es hier nicht. Felix Schneider muss auch nicht den Chef geben – er ist es: „Probier mal Felix“, heißt es. Er probiert kurz, „mehr Salz“ und schon wieder ist ein Gericht fertig. Aber es ist zu spüren, die arbeiten als Dreierbande, die sind von Leidenschaft getrieben, die sind dauernd auf der Suche nach neuen Produkten – und vor allem Gemüse stehen ganz oben auf der Liste. Vorbildlich: Es werden ganze Tiere, etwa Schweine und Rinder, verarbeitet. Die Verwertung des Produktes bestimmt dann den Speiseplan.

Richtig schlachten, bessere Gesundheit

Heimische Produkte, regionale Produzenten – das ist inzwischen in vielen Küchen häufiges Mantra in einer Zeit, wo sich auf die Wurzeln besonnen wird. Nur, Felix Schneider bohrt tiefer – und hat etwa für die Schlachtzeit eines Rindes verschiedene Parameter festgelegt: Das reicht vom Mastzustand über hormonelle Faktoren, welche den ph-Wert des Fleisches, seinen Geschmack, aber auch seine gesundheitlichen Wirkungen festlegen. So etwas finde ich wichtig, so etwas ist die Zukunft – nicht nur zu kochen, sondern sich fast schon wissenschaftlich mit dem Produkt und seinen Folgen zu beschäftigen.

Selbstwürzer, Alkoholfrei, Fischeschlachten

Ganz praktisch geht es aber zu, als ich mir in der Küche drei Sosein-typische Dinge zeigen lasse: Das Produkt würzt sich selbst; alkoholfreie Getränke; Fische sanft schlachten. Wie Kartoffelsalat den Kartoffelsalat würzt, lasse ich mir von Thomas Prosiegel zeigen. So stellt der frühere Schiffskoch aus gekochten Kartoffeln eine Marinade her. Diese Marinade dient dann dazu, den eigentlichen Salat zu würzen. Dafür werden rohe Kartoffeln dünnst ins heiße Wasser gehobelt. Aus den Kartoffeln wird dann die Stärke herausgedrückt – und anschließend werden sie eine Viertelstunde mit der Marinade und mit Rhabarbersaft statt Essig gewürzt, was dem Salat eine erdige Note verleiht. Ein gutes Prinzip, wobei mir noch zu viel geschält und gedrückt wird, was Vitalstoffe kostet.

Das Selbstwürzprinzip wird auch verwendet, wenn etwa Schweineinnereien wie Herz, Niere gepökelt, getrocknet, geräuchert werden, um sie über Speisen zu reiben. Das ist aufwendig, aber nur so lässt sich der Anspruch ein Tier ganz zu verwerten, auch umsetzen.

Auch die alkoholfreie Getränkebegleitung erfüllt im Sosein einen hohen Anspruch – sonst immer noch ein Stiefkind in den meisten Restaurants. Warum das so ist, sehe ich, als ich mir von Stefan Frank „Roter Eistee“ erklären lasse: Dafür lässt er selbst gesammelte Stockrosen, Brom/Himbeer/Rosenblätter, Kornellkirschen, wie einen Tee eine Woche lang ausziehen. Das Ganze wird anschließend verfeinert mit dem Abtropfsaft der berühmten Mieze Schindler Erdbeere, mit Sirup von kandierten Erdbeeren und abgekochtem Preiselbeersaft.

Ebenfalls ein spannender Drink ist eine Mischung aus Quittensaft und dem Bitterkraut Weinraute, dessen Methylnonylektone wie Zitrone und Passionsfrucht riechen. Verfeinert wird das Getränk mit Zierquittensirup und Bitterhopfen. Mich faszinieren diese Kombinationen, überlege mir, welche gezielten gesundheitlichen Wirkungen, etwa bei Leberstörungen, sich damit erzielen ließen. Köche lieben solche Überlegungen nicht, sehen sie sich doch primär für das Geschmackliche zuständig. Aber wie sagte schon Hippokrates: Nahrung ist Medizin. Und Paracelsus meint dazu: Die Dosis macht das Gift, schließlich kann die Weinraute in höheren Dosen sogar abtreibend wirken. Aber ich habe mich überzeugt, im fertigen Getränk ist von dem Bitterkraut kaum etwas zu schmecken!

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Bitterkraft stärkt Leberkraft: Weinraute

Viel aufwendiger als bloß eine Flasche Wein zu öffnen, ist die Herstellung dieser Drinks, weshalb sie auch fast genau so viel wie die Weine kosten – und würden alle Aufwendungen eingerechnet, müssten sie wahrscheinlich sogar teurer sein.

Einen Schwerpunkt der Sosein-Küche bilden Fische. Das ist kein Wunder, hat doch die fränkische Teichwirtschaft mit ihrem sauberen Wasser eine jahrhundertealte Tradition. So ist es für das Konzept von Felix Schneider ganz klar, dass er keine Meeresfische verwendet (wie übrigens auch Andreas Döllerer, mein „Echt-Essen-Koch“ vom vorigen Monat), sondern sich auf heimische Ware von Aal bis Zander konzentriert, die er vor allem vom Fischhaus Heinl aus dem nahen Erlangen-Eltersdorf bezieht. Aber schon hat er noch ein eigenes Teichprojekt im Kopf, ist auf der Suche nach ausgefallenen Fischsorten wie etwa Rotfedern.

Obwohl er von seinen Lieferanten topfrische Ware bekommt, verwendet Felix Schneider kaum frischen Fisch, sondern „gereiften“, der viel mehr Geschmack hat. Ein Alleinstellungsmerkmal, das auch ganz stark zum schnellen Aufstieg vom Sosein beigetragen hat. Möglich wird dieses Reifen durch eine spezielle japanische Technik, die ich mir genau erklären lasse.

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Fische sanfter schlachten: Ike Jime

Im kulinarischen Schlaraffenland Japan spielen Fische eine herausragende Rolle. Kein Wunder, dass von hier eine Schlachtmethode kommt, welche ethisch verträglicher sein soll und die Fischqualität deutlich verbessert: Ike Jime. Spitzenköche wie Heinz Reitbauer vom Wiener „Steirereck“ schwören darauf – und auch Felix Schneider schlachtet auf diese Weise. Ich bin dabei, als Lachsforellen geschlachtet werden. Die Fische schwimmen vorher für Stunden in einem Becken, um zu entspannen. Dann werden sie gegriffen und ein gezielter Stich in den Kopf führt zum sofortigen Hirntod. Anschließend ein Schnitt hinter dem Kopf und vor dem Schwanz (ohne ihn abzuschneiden). Nun führt der Koch einen dünnen Draht vom Schwanz entlang der Wirbelsäule bis zum Kopf, um die Nervenbahnen still zu legen. Jetzt wird der Fisch in ein Wasserbecken gelegt – und das noch schlagende Herz pumpt für einige Minuten das Blut schubweise ins Wasser.

Nun, Schlachten bleibt Schlachten, ist nichts für schwache Nerven – wobei es wohl so ist, dass durch den schnellen Gehirntod das Tier davon wenig bis kaum etwas mitbekommt. Evident sind auf jeden Fall die kulinarischen Vorteile: Durch Ike Jime gibt es keine Todesstarre, verkrampfen die Muskeln nicht, weil vom Rückenmark keine Befehle mehr ausgehen, welche sonst das Hormon Adenosintriphosphat aktivieren. So übersäuert der Fisch nicht – und weil er ausblutet, ist die Gefahr geringer, dass der Fisch „fischig“ schmeckt. Außerdem kann er jetzt reifen, wie es bei Fleisch schon lange üblich ist.

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Sushi der speziellen Art: Gereifter Karpfen

„Die Fischqualität steigt durch Ike Jime um 100 Prozent“, schwört Felix Schneider – und er demonstriert das auf überzeugende Weise: Er lässt mich ein Stück Karpfen kosten, der 21 Tage bei 0,5 Grad gereift ist. Karpfen, ich denke an den elsässischen Sumpffisch, der in seiner frittierten Form nur mit einem halben Schnaps genießbar ist. Aber dann das: Der drei Wochen alte Fisch schmeckt mild und zart. Plötzlich wirkt der wegen den vielen Gräten von den meisten Spitzenköchen gemiedene einfache Fisch wie ein hochwertiger Thunfisch.

„In der Spitzengastronomie herrscht ein Sklavensystem“

Gerade wollen wir endlich die Küche verlassen – als Felix Schneider plötzlich ein Thema anschneidet, das ihn sehr beschäftigt: „In der Spitzengastronomie herrscht ein Sklavensystem, geltendes Recht wird systematisch missachtet“. Er weiß, wovon er spricht, hat das System in namhaften Häusern kennen gelernt. Er weiß, dass Arbeitszeitregeln nichts gelten, dass erschöpfte und ermüdete Köche verletzungs- und suchtgefährdet sind. Er weiß, dass damit gerade junge Talente um ihre besten Jahre gebracht werden.

Es ist gut, dass Felix Schneider das Problem thematisiert. Er tut sich damit leichter als andere, hat er doch nun einen gewissen Promi-Status – und er arbeitet als Angestellter. Denn das Sosein gehört dem erfolgreichen Nürnberger Caterer „El Paradiso GmbH“ – und das Restaurant ist so etwas wie die Visitenkarte des Unternehmens. Das heißt nicht, dass hier nicht spitz gerechnet wird. So wissen die drei Köche, dass ein weiterer Koch nur möglich ist, wenn mindestens 40 Gäste mehr pro Monat kommen.

Kämpfen für Köcherechte. Ein fast schon wissenschaftliches Produktverständnis. Hervorragendes Handwerk – Felix Schneider hat viele Facetten. Es ist diese Vielschichtigkeit, die ihn wahrscheinlich zu einem großen seiner Zunft werden lässt.


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Stimmig bis in die Grünkohl-Deko: Gastraum

Szenenwechsel: Von der Küche geht es nach einer kurzen Ruhepause gegen halb acht in den lauschigen Gewölbe-Gastraum (einen der beiden Räume), der klug ausgeleuchtet und geschickt gedämpft ist, sodass sich unterhalten werden kann. Edle Tische, bei denen niemand die teure Tischwäsche vermisst. Aber Stoffservietten und bequeme Stühle machen gute Laune. Die wird noch verstärkt durch einen hochkompetenten, nie aufdringlichen Service, der faszinierend genau Bescheid weiß – und immer wieder präsentieren auch die Köche die Gerichte.

Drei Dinge gelten: Jeweils nur ein Menü mit „Prolog“, also Gaumenöffnern, und sieben Gängen, was mit Wasser 115 Euro kostet. Unbedingt zu empfehlen: Die Getränkebegleitung, entweder mit Wein für 75 oder ohne Alkohol für 65 Euro. Wir wählen Beides und können so vergleichen, sind vor allem vom Alkohol-freien begeistert. Zweitens muss die Küche bis spätestens 15 Uhr wissen, wie viele Personen kommen – genau diese Menge wird gekocht, wobei maximal 30 Leute bewirtet werden können. Drittens starten die Gänge gleichzeitig um 20 Uhr und gegen 23 neigt sich das Menü dem Ende zu, ohne dass es, wie etwa in den USA, ungemütlich wird.

„vollreif & vergehen“ heißt das aktuelle spätherbstliche Menü, das wir mit zwei Gläsern vom kräftigen Cremant vom Jura-Ausnahmeweingut Tissot beginnen. Höchst löblich: Alle Getränke werden in den wunderbaren Zalto-Gläsern serviert, welche die meisten Spitzenhäuser wegen der eminenten Glasbruchgefahr längst wieder verbannt haben.

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Schlicht und perfekt: Kaltgeräucherte Lachsforelle

Ungeheuer aufwendig gemacht sind die fünf kleinen Gerichte zur Einstimmung, etwa Rote Bete mit duftintensivsten Rosenblättern. Wunderbar eine gelbe Tomate mit einer Krustentiersauce und Miniaturen vom Mangalitza-Schwein Apfel, Walnuss und Sellerie. Höhepunkte sind für mich aber ein Stück kalt geräucherte Lachsforelle mit einem Hauch frischen Meerrettich: Ein Stück vollendeter Fischgenuss, hinter dem ein aufwendiger, tagelanger Prozess des Kalträucherns, des sanften Pökelns, immer wieder trocknen lassen steht – was aber so perfekt nur mit einem Ike Jime geschlachteten Tier geht.

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Fast schon vegetarisch: Schneiders Schlachtschüssel

Schon Kultcharakter hat der fünfte und abschließende Prolog: Die Neuinterpretation der fränkischen Schlachtschüssel. Der fermentierte Rotkohl wird entsaftet, reduziert und mit Butter gebunden. Dazu ein Stück von der Andengoldkartoffel, die aber hiesig ist. Abgerundet wird alles von der Leber vom Mangalitza-Wollschwein, die zuvor geräuchert, getrocknet und dann gerieben wurde. Phantastisch!

Brotzeit heißt es gegen 20 Uhr – und ein schönes Ritual beginnt: Stefan Frank erläutert für alle, wie das Brot selbst gebacken wurde mit verschiedenen Mehlen, vor allem Roggen. Angesetzt mit reinem Sauerteig reift das Brot 65 Stunden. Es duftet fein säuerlich, hat eine kräftige Kruste. Wer das Brot gegessen hat, sollte lebenslang immun sein gegen all die „Schnellbrote“ aus vielen Kettenbäckereien. Ein Gedicht die selbst gemachte Butter aus dem Rahm der demeter-Molkerei Schrozberg. Wie so vieles im Sosein darf auch die Butter reifen und hält sich so monatelang, verändert dabei ihren Geschmack, wird immer fetter, immer intensiver, verliert Wasser. Allen schmeckt das nicht, mir gefällt es ausnehmend – und ich muss mich zügeln, um nicht zu viele Bütterchen zu essen.

Ja, Rituale sind wichtig. Früher leistete das die Kirche, später die 20-Uhr-Tagesschau. Heute können Gasthäuser wie das Sosein den Menschen die so sehr gewünschte Orientierung und Strukturierung des Lebens geben. Sicher, die kurzen Einführungen zu den einzelnen Gerichten jeweils am Tisch gefallen nicht allen. Aber das Sosein ist auch nicht ein Restaurant für alle. Sondern eines für Menschen, die sich für einen Abend auf eine spannende Entdeckungsreise begeben wollen.

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Verbirgt sich unter dem Forellenkaviar: Kohlrabi

Nach dem Brot ist vor den Hauptgängen: Es startet mit „Forellenkaviar, Kohlrabi, Haselnuss“. Was sich so bescheiden anhört, ist wieder einmal höchst raffiniert – vor allem im „Untergrund“: Denn da gibt es eine etwas dickere Scheibe vom Kohlrabi, der stundelang im Vakuum mit Zucker und Salz eingekocht wurde – bis er eine Fülle von dem heute so sehr geschätzten Würzgeschmack Umami entwickelt. Wie ein Sandwich liegt diese Scheibe zwischen zwei dünnen rohen Kohlrabischeiben – und alles wird gekrönt von selbst gemachtem Kaviar und darüber von Hand gehobelter Haselnuss. Ja, von Hand, habe ich in der Küche beobachtet, der Geschmack wird intensiver. Ein Detail, aber in der Summe machen diese Details den Unterschied aus zwischen einer guten und einer Spitzenküche.

Achtbar schlägt sich dazu der Weißburgunder vom Top-Weingut Östreicher aus Volkach am Main. Wobei es wohl so ist, dass sich die radikale Schneider-Küche mit Weinen manchmal nicht ganz leicht tut. Besser gefällt mir hier die herrliche Kreation aus Birne und Postelein.

Huch, ich habe ja schon ganz viel geschrieben! Würde ich jetzt noch alle Gerichte und Getränke ganz ausführlich vorstellen, sprengte das den Rahmen dieser Geschichte. Also Konzentration: Als zweiten Gang gibt es gereiften, aber dennoch frisch schmeckenden Karpfen mit dem schon erwähnten Kartoffelsalat. Weil die Franken dazu gerne Salat essen, gibt es ihn hier auch: Aber als flüssigen Salat im Glas, der ein ungeheures Aromaspektrum entfaltet.

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Der Star ist das Produkt: Wildente

Zwei Wochen im eigenen Kühlhaus trocken gereift ist die Wildente. Serviert werden drei röstaromen-starke Scheiben von der Brust, die intensiv und kräftig schmecken, ohne zäh zu sein. Große Kunst! Dezent aromatisiert ist das Gericht mit zwei Jahre altem Miso aus Süßbohnen. Zwei Jahre? Das Sosein gibt es doch erst ein Jahr – offensichtlich ist hier schon lange präzise vorgearbeitet worden.

Eine ganz spezielle Paartherapie

Spektakulär dazu der „Oracular“ vom biodynamischen, südfranzösischen Weingut Mamaruta. Ein wilder, spontan vergorener, knochentrockener Muskateller, der wie Apfelmost daherkommt. Hat er perfekt gepasst? Eher so wie ein Paar aus völlig unterschiedlichen Charakteren, das aber trotzdem eine Einheit bildet. Sehr fein hierbei auch die schon erwähnte Kombination aus Quitte und Weinraute.

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Regional ist, wo Heimat ist: MeckPom-Stör

Aus Mecklenburg-Vorpommern stammt der Stör des vierten Gangs. MeckPom, ist das regional? Aber natürlich! Das gefällt mir im Sosein: Es gibt eine klare Linie, aber kein Dogma – und kleine Ausflüge in die weitere Umgebung gehören dazu. Kräftig schmeckt der abgeflämmte Fisch in einem Sud aus Rauchöl und schwarzem Knoblauch, gebunden mit Störleber, plus dem von mir so geschätzten Grünkohl, der sich knackig präsentiert. In einem Gefäß aus schwerem Kieselstein (an sich ein Badezubehör) schwimmt der Fisch. Köche lieben Geschirr! Es scheint ihre Phantasie zu beflügeln, was wir Gäste gerne goutieren.

Noch mehr goutiere ich den nach uralter Methode in der Amphore ausgebauten „KalkundKiesel“ vom burgenländischen Weingut Preisinger – eine Cuvée aus Chardonnay, Weißburgunder und Grünem Veltliner, auch dieser Wein spontan vergoren. Es sind auch solche besonderen Weine, welche einen Besuch im Sosein zur Entdeckungsreise machen! Weiteres Plus: Auch der Trunk aus Apfel und Kohlgrün ist phantastisch.

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Krönt den Fleischgeschmack: Geschmortes Kronfleisch

Ein ganzes Rind von der feinfleischigen Rasse Wagyu hat Felix Schneider erworben, und es selbst gereift. Heute serviert er davon als leider seltenes Teil den Nierenzapfen, den die Österreicher Kronfleisch nennen – was die Sache schon besser trifft, denn es ist ein trockenes, aber sehr geschmackstarkes Muskelfleisch, das gerne zäh werden kann. Hier ist es saftig auf den Punkt geschmort. Fast schon fleischig dazu der Kartoffelstock, der immer wieder mit oxidiertem Rinderfett aromatisiert wurde – und dazu zartbitterer Zuckerhut.

Ein sichere Bank ist der großartige 2012er Weißburgunder vom Deidesheimer Vorzeigeweingut Von Winning, übrigens auch wieder biologisch-dynamisch. Viele feinden diese Wirtschaftsweise an, werfen ihr Ideologie vor. Ich genieße den guten Geschmack – und sehe, dass diese Winzer langfristig denkend die Vitalität ihrer Böden pflegen.

Sag mir, wo die Brühen, wo die Tees sind

Kohl und Koriander gibt es in der nichtalkoholischen Begleitung. Gut, ja, aber so langsam wird es zu saftig. Da gehört künftig mehr Abwechslung rein, da müsste mal ein intensiver Tee, gerne von heimischen Kräutern, serviert werden; da dürfte es auch mal eine feine Gemüsebrühe sein. Denn die vielen Säften können ja leicht auch mal eine „durchschlagende“ Wirkung zeigen.

Höchst bekömmlich: Sehr zurückhaltend bin ich meistens bei Desserts am Ende eines Menüs – und hier gibt es gleich zwei. Aber: Trotz der vielen Gänge fühle ich mich nicht „beschwert“, die Küche ist höchst bekömmlich. Also probiere ich die beiden Desserts und bin zuerst begeistert von dem Duft aus den Nadeln der Douglasien; bin begeistert, dass es fein herb ist. Dazu trinke ich einen stürmischen Moscato d´Asti, passt scho. Noch besser passt die Cuvee aus Birne, Schlehe und Douglasie von Jörg Geiger aus Schlat.

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Himbeere, was kannst du werden!

Ein Hammer zum Schluss ist das zweite Dessert „Sommerhimbeeren, Zuckerrübe, Scharlachdorn“. Da gibt es ein nicht zu süßes Himbeersorbet, eine Creme von Zuckerrübe und Joghurt, ein Gelee vom Scharlachdorn (das gelbe), eingelegte, dünne Streifen von der Zuckerrübe – eine Meisterleistung!

Genau so grandios dazu der 2015er „Johudler“ vom Weingut Schiefer, ein abgefahrener Frizzante aus dem südlichen Burgenland. Ebenso eine Wucht der schon erwähnte Rote Eistee. Ein würdiger Abschluss eines großartigen Menüs!

Vorboten des Soseins: Kauper’s und Villa Merton

Natürlich ist das Sosein nicht das erste Restaurant, das konsequent die Natur kocht. Aber es ist wohl das erste, was bundesweit und sicher auch darüber hinaus im großem Stil die Aufmerksamkeit auf diese zukunftsweisende Küche der Saison und der Heimat lenkt. Zwei Vorboten sehe ich: Zum einen der auch von Felix Schneider hochgeschätzte Matthias Schmidt von der „Villa Merton“, der sich mit einer radikalen, auf Frankfurt zentrierten Küche zwei Sterne erkochte. Leider gibt es das Restaurant nicht mehr, aber es lohnt sich noch, meine Geschichte darüber zu lesen.

Auf jeden Fall auch „Kauper’s Kapellenhof“in Selzen bei Mainz. Auch darüber habe ich bereits vor über vier Jahren berichtet:

Frühe Sterne für innovative Heimatküche

Gerne werden die beiden führenden Essensführer Guide Michelin und Gault Millau gescholten. Doch sowohl die Villa Merton, Kaupers und jetzt das Sosein, aber auch die ähnlich arbeitenden Berliner Restaurants Nobelhart & Schmutzig, einsunternull sowie das Kölner MaiBeck wurden sehr schnell in den Führern hoch bewertet – was geholfen hat, diese mutigen Konzepte am Markt durchzusetzen.

© Hans Lauber
Seinen Preis wert: „Sosein“

Fazit: Das „Sosein“ hat in kurzer Zeit für eine undogmatische Heimatküche Maßstäbe gesetzt – und wird sie weiter setzen: Das Produzentennetzwerk wird wachsen, eigene Produktionen werden dazu kommen, es wird weniger geschält werden. Die Nicht-alkoholische Begleitung wird variantenreicher. Das Restaurant ist nicht billig, aber seinen Preis wert. Ich bin überzeugt, würde ich in einem Jahr wiederkommen, lautete die Überschrift meiner Geschichte: „Sosein“: So muss es sein!“

Sosein, Hauptstraße 19, 90 562 Heroldsberg, 0911/95 69 96 80, Dienstag bis Samstag ab 19 Uhr. Sehr empfehlenswert die gut gemachte und informative Site www.sosein-restaurant.de

Heroldsberg hat’s gut: Wären andere Gemeinden dieser Größe froh, überhaupt ein gscheites Gasthaus zu haben, gibt es in dem 8 000-Seelen-Ort schräg gegenüber von dem „Sosein“ das „Rotes Roß“ mit fränkischen Klassikern wie Schäufele. Es wäre sicher reizvoll, zuerst im Roß die Originale zu essen – um anschließend zu sehen, wie sie Felix Schneider in eine neue Dimension transzendiert.

Das „freihardt“ komplettiert das Heroldsberger Gastrotrio. „Für den Koch Hans-Jürgen Freihardt ist die Region die Grundlage seines Konzepts“, schreibt der „Slow Food-Genussführer“ über das Gasthaus, das mit einem besonderen As auftrumpft: Einer eigenen Metzgerei, in der das Fleisch vorbildlich selbst gereift wird – und dann etwa als Rinderfiletspitzen mit Cognac-Pfefferrahm auf den Tisch kommt.

Sehr gut übernachten lässt es sich direkt neben dem „Sosein“ für unter 100 Euro zu zweit im Hotel „Hof19“. Es gibt sieben Zimmer abseits der lärmigen Hauptstraße, wobei nur die Fußböden etwas wärmer sein könnten.

Es wäre sicher reizvoll, sich einmal ein oder zwei Tage durch dieses fränkische Genießerparadies zu schlemmen!

© Hans Lauber
Leuchtendes Heroldsberg: Drei gute Gasthäuser


von Hans Lauber
E-Mail: aktiv@lauber-methode.de
, Internet: www.lauber-methode.de

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