Theorie vs. Lebenserfahrung

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Theorie vs. Lebenserfahrung

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie – und grün des Lebens gold‘ner Baum”, lässt Goethe seinen Mephisto im “Faust” sagen. Mephistos Aufforderung an einen Schüler, Lebenserfahrung über isoliertes theoretisches Wissen zu stellen, gilt auch für das Diabetesmanagement von Luca.

In medizinischen Fachgesprächen kommt das einstweilen zu kurz, wenn ausschließlich der HbA1c-Wert Maßstab ist, ob das Diabetesmanagement über einen längeren Zeitraum im Durchschnitt gut oder schlecht war. Eine Richtschnur bei einer chronischen Erkrankung wie Typ-1-Diabetes ist sehr wichtig, an der Jagd nach dem perfekten Wert sollten sich Betroffene und Diabetesteam aber nicht beteiligen. Denn: Ein als guter HbA1c deklarierter Wert lässt sich sehr leicht in der Kombination aus hohen und niedrigen Werten “erschleichen”.

Ein tägliches Auf und Ab, für das es nur manchmal Erklärungen gibt

Lucas letzter HbA1c-Wert war relativ gut, die Werte in den drei Monaten zuvor waren es nicht. Es ist ein tägliches Auf und Ab, für das es nur manchmal Erklärungen gibt. Hinzu kommen die Diskussionen zwischen unserem 13-jährigen Sohn und uns Eltern: Dass ein Blutzucker und Gewebezucker (Luca verwendet derzeit auch ein “Flash Glucose Monitoring”-System (FreeStyle Libre)) von rund 400 mg/dl (22,2 mmol/l) viel zu hoch ist, darüber waren wir uns jüngst alle einig.

Über die Korrektur gab es jedoch Meinungsverschiedenheiten: Um 19 Uhr kam Luca vom Fußballtraining. Er wollte nichts essen und sofort mit Insulin korrigieren, meine Frau und ich animierten ihn zur gemäßigten Korrektur, einer wenigstens kleinen Mahlzeit und dazu, für eine weitere Kontrolle etwas länger wach zu bleiben, um auf eine mögliche Unterzuckerung im Wachzustand reagieren zu können. Die Monate zuvor hatten uns gezeigt, dass das intensive Fußballtraining fast immer nachwirkt und der Blutzucker am späten Abend oder in der Nacht stark sinkt. Luca hörte auf uns.

Der HbA1c-Wert ist wichtig – aber im Alltag nicht das Maß aller Dinge

Am nächsten Morgen war er todmüde und schlecht gelaunt: Der Wert lag immer noch über 300 mg/dl (16,7 mmol/l), und auch in der Nacht zwischen 2 und 3 Uhr war ein Wert über 300 auf dem Display aufgeblinkt. “Beim nächsten Mal mache ich es wieder so, wie ich es für richtig halte, esse nichts und korrigiere den hohen Wert gleich”, schimpfte Luca beim Frühstück. Sprach‘s, korrigierte den erhöhten Wert, aß nichts und ging zur Schule, wo er sich im Laufe des Vormittags mit Werten zwischen 50 und 70 mg/dl (2,8 und 3,3 mmol/l) auseinandersetzen musste. Erst mehrere Traubenzucker und seine Pausenmahlzeit brachten Luca wieder auf ein gutes Level.

Wie sehr Diabetes- und Zeitmanagement z. B. an einem Schulvormittag konkurrieren können, belegt die Tatsache, dass Luca in dieser schwierigen Situation den Gewebezucker und den Blutzucker kontrollieren musste – die kontinuierliche Glukosemessung des Gewebezuckers sollte nur eine Ergänzung sein, nicht ein Ersatz. Außerdem musste er mehrfach den Unterrichtsraum wechseln. Dieses Beispiel zeigt, wie groß ab und an die Lücke zwischen medizinischer Theorie und alltäglicher Praxis und wie unsinnig dann eine Debatte über einen guten HbA1c-Wert ist.

Drucksituation vorab erkennen und früher gegensteuern

Gelingt es Luca wie bisher, den Langzeit-Blutzucker-Standard und seinen persönlichen Alltag in dem für ihn besten Maß zu kombinieren, wird er auch weiter seinen Diabetes nach bestem Wissen und Gewissen gut managen. Konsequenter sollte er allerdings “vorausschauend” seine Blutzuckerwerte kontrollieren, dann würde er manche Drucksituation, die auf ihn zukommt, vorab erkennen und er könnte früher gegensteuern.


von Michael Denkinger
Michael Denkinger (45) lebt mit seiner Familie in Memmingen und hat drei Kinder: Luca (12 Jahre), Angelina (15) und Timo (8). Er ist Inhaber der PR-Agentur Denkinger Kommunikation.

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2016; 9 (3) Seite 30

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