Vermeidung von Diabetes-Folgen: Motivation statt Frust

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Vermeidung von Diabetes-Folgen: Motivation statt Frust

Folgeerkrankungen rechtzeitig erkennen und behandeln, Restgesundheit bewahren, Leben mit Folgeerkrankungen: Dr. Bernhard Lippmann-Grob zeigt an einem guten Beispiel aus seinem Praxisalltag, wie das gelingen könnte.

In meiner Sprechstunde saß mir letzthin Herr Müller gegenüber – und noch bevor ich ihn fragen konnte, wie es ihm geht, brach bei ihm ein richtiger Redeschwall los. An seinem Redestil merkte ich, wie aufgeregt er war; er konnte seine Gedanken und seine Fragen nicht so strukturieren wie sonst und war eindeutig von ganz massiven Gefühlen übermannt.

Er sprach davon, dass er wütend sei, konnte aber gar nicht artikulieren, auf wen. Er sprach davon, dass es mit der Diabetestherapie ja eigentlich gar keinen Zweck mehr habe, dass er sich seit 30 Jahren (er ist 40 Jahre alt und hatte seinen Diabetes mit 10 Jahren bekommen) um eine gute Einstellung bemüht habe, aber seine ganzen Bemühungen doch offensichtlich nicht erfolgreich gewesen seien; und dass er eigentlich gar nicht genau wisse, was er jetzt noch tun solle und wie es weitergehe.

Akute Frustration drückt auf die Therpaie-Motivation

Ich versuchte mit ihm, diesen Gefühlsausbruch etwas zu ordnen, und stellte dann fest, dass seine Emotionen auf eine augenärztliche Untersuchung zurückgingen, die 10 Tage zuvor stattgefunden hatte und ihn immer noch stark beschäftigte.

Der Augenarzt hatte bei der Kontrolluntersuchung festgestellt, dass wohl eine beginnende Hintergrundretinopathie vorliege und dass er vorsichtshalber einen Überweisungstermin in eine Augenklinik bekomme, um dort eine spezielle Untersuchung durchzuführen, damit man sicher sei, ob nicht eine Laserbehandlung durchgeführt werden müsse.

Diagnoseverfahren ausgewählter Diabetes-Folgeerkankungen



Retinopathie (Netzhauterkrankung)

1-mal im Jahr sollten Sie zum Augenarzt gehen! Die Untersuchung des Augenhintergrundes bei weitgetropfter Pupille erlaubt die frühzeitige Erkennung von Veränderungen an den Blutgefäßen des Augenhintergrundes. Sie können weiter beobachtet und ggf. ergänzend mit anderen Methoden weiter untersucht werden. Dadurch kann geklärt werden, ob bereits eine Behandlung notwendig ist. Falls ja, ist das kein Grund, sich darüber zu ärgern: Studien haben tatsächlich gezeigt, dass die Laserkoagulation des Augenhintergrundes, auch wenn sie unangenehm ist und man womöglich vorübergehend schlechter sieht, langfristig die Erblindung verhindern kann – und das ist doch sehr viel wert! Übrigens gibt es für die augenärztliche Untersuchung auch ein spezielles Formblatt, damit auch hier nichts vergessen wird.



Neuropathie (Nervenerkrankung)

Die Früherkennung der Neuropathie ist im “Gesundheitspass Diabetes” auf verschiedene Punkte verteilt: “Körperliche Untersuchung”, “Fußinspektion” und “Periphere Neuropathie”. Bei der jährlichen Fußuntersuchung sollen auf jeden Fall die Fußpulse getastet werden, die Vibrationsempfindung mit der Stimmgabel, die Sensibilität mit dem Neurofilament und die Temperaturempfindung mit dem Tiptherm überprüft und die Sehnenreflexe am Knie und an der Achillessehne ausgelöst werden. Die Diagnose einer Neuropathie ist nicht einfach eine Diagnose, die “man so hat”, sondern hat für Ihr Alltagsleben erhebliche Konsequenzen: Verlassen Sie sich nicht darauf, dass Sie spüren, was an Ihren Füßen passiert! Versuchen Sie, die gestörte Sensibilität durch zusätzliche Maßnahmen und Beobachtung zu ersetzen: Füße täglich anschauen (oder anschauen lassen, wenn Sie selbst nicht dazu in der Lage sind) und vor dem Anziehen der Schuhe hineinfassen, um zu prüfen, ob kleine Gegenstände reingefallen sind.



Nephropathie (Nierenerkrankung)

Wenn Sie im Gesundheits-Pass Diabetes nachsehen, finden Sie den Begriff “Nephropathie” nicht, aber Sie finden eine Zeile mit dem Stichwort “Mikro-/Makroalbuminurie” und eine zweite Zeile mit der Bezeichnung “S-Kreatinin/eGFR”: Diese beiden Zeilen sollen also im dem Quartal, in dem die Niere überprüft wird, einen Eintrag bekommen. Auch die Urinuntersuchung soll einmal im Jahr durchgeführt werden. Früher hat man dazu teilweise einen 24-Stunden-Sammelurin untersucht, was aber schon im Krankenhaus oft nicht geklappt hat; erst recht nicht im Alltagsleben. Wer möchte schon 24 Stunden lang mit einer Plastiktüte mit einem Urinkanister darin rumlaufen? Deshalb wird heute meist in einer Urinprobe die Albuminausscheidung und zugehörend das Kreatinin gemessen, damit man die “Urinalbumin-/Kreatinin-Relation (auch “UACR” genannt)” bestimmen kann und damit eine vergleichbar gute Aussage wie beim Sammelurin hat. Die UACR sollte unter 25 bis 30 mg Albumin/Gramm Kreatinin liegen, dann ist sie in Ordnung. Liegt sie bis 200 mg Albumin pro Gramm Kreatinin, spricht man von einer Mikroalbuminurie, weil die Albuminmenge im Urin dann immer noch sehr klein ist; liegt sie darüber, heißt das “Makroalbuminurie”. Der Begriff “S-Kreatinin” steht für “Serum-Kreatinin” und bezeichnet einen der Abfallstoffe, den die Niere ausscheiden sollte. Leider steigt der Wert erst an, wenn schon eine deutliche Funktionseinschränkung der Niere vorliegt, sodass er nur teilweise hilfreich ist. In ihrer Aussage ist die “eGFR” besser: Dieser Begriff steht für “errechnete glomeruläre Filtrationsrate”; diese wird berechnet aus dem Wert des Kreatinins unter Einbeziehung von Größe, Gewicht und Geschlecht und lässt frühzeitig eine zurückgehende Nierenfunktion (“Filtrationsrate”) erkennen.

Ich kann Herrn Müller gut verstehen. Natürlich war seine Einstellung in der Pubertät nicht immer so, wie man es sich als Kinderdiabetologe oder später als Diabetologe wünscht. Aber sie war doch im Wesentlichen nicht so schlecht: Herr Müller hatte keine schweren Unterzuckerungen entwickelt, das HbA1c lag seit einigen Jahren meistens zwischen 6,8 und 7,5 Prozent, selten mal zwischen 7,5 und 8 Prozent.

Dennoch – Herr Müller empfand, dass es “ihn jetzt erwischt” habe; seine Motivation für eine möglichst gute Diabeteseinstellung war durch die neue Diagnose in dem Moment extrem klein.

Folgeerkrankungen verhindern: Früherkennung als wichtiger Baustein

Auf wen er wütend war, wusste er gar nicht so genau: Auf sich selbst? Nein! Auf den Augenarzt? Nein! Vielleicht auf die Tatsache, den Augenarzttermin gemacht zu haben, der ihm die unangenehme Wahrheit eröffnete? Ist die Früherkennung von Folgeerkrankungen wirklich so wichtig? Oder sollte man nicht einfach abwarten, bis man selbst merkt, ob sich etwas entwickelt?

Aus medizinischer Sicht würde ich dem Abwarten nicht zustimmen wollen. Denn nur wenn die möglichen Folgen früh erkannt werden (und deshalb liegt mir auch der Begriff “Früherkennung” am Herzen, und nicht der so oft gebrauchte Begriff “Vorsorge”), kann man auch etwas dagegen tun. Und deshalb bin ich als Diabetologe der festen Überzeugung, dass Früherkennung ein ganz wichtiger Baustein ist bezüglich der Vorbeugung des Fortschreitens von Folgeerkrankungen.

Aber wie sollte ich jetzt mit Herrn Müller umgehen? Die Frustration, die Wut, die Verzweiflung enden in einer Sackgasse, in die ich mich diabetologisch mit ihm nicht begeben mochte. Deshalb ermutigte ich ihn, den Überweisungstermin in der Augenklinik wahrzunehmen, auch wenn womöglich ein unerwünschtes Ergebnis herauskommen sollte.

Motivation statt Zorn: nicht zurück, sondern nach vorne blicken!

Aber Herr Müller hat ja noch eine Perspektive: Er ist erst 40 Jahre alt und hat trotz seines Diabetes einen Lebensplan mit Vorsätzen, die er umsetzen möchte, mit Zielen, die er erreichen möchte. Deshalb machten wir keine Vergangenheitsbewältigung, sondern ich fragte Herrn Müller, was denn für ihn in seiner derzeitigen Lebenssituation besonders wichtig sei, was ihm besonders am Herzen liege? Was sind Ziele, von denen er sich sicher sei, dass er sie trotz der beginnenden Folgeerkrankungen auf jeden Fall erreichen wolle?

Wir versuchten gemeinsam, aus dem Blick zurück (mit Wut, mit Zorn und Frust) einen Blick nach vorne zu machen. Und Herr Müller hat Dinge, die ihn motivieren: eine Familie, für die er da sein möchte und die für ihn da ist, einen großen Freundeskreis, in dem er zusammen mit seiner Familie viele Freizeitaktivitäten unternimmt; und er hat ehrenamtliche Aufgaben, bei denen er sich engagiert und die ihm wichtig sind. All diese Dinge wird er umso besser tun können, je weniger ihn Folgeerkrankungen beeinträchtigen (auch wenn sich nun welche entwickeln).

Keine weiteren Folgeerkrankungen bei Herrn Müller – zum Glück!

Ganz langsam schafften wir es, uns trotz der Wut und des Frustes auch an diesem Tag um Folgeerkrankungen zu kümmern: Seine jährliche Fußuntersuchung war nämlich an der Reihe. Ich stellte fest: Stimmgabeltest in Ordnung, Neurofilamenttest in Ordnung, Warm-Kalt-Unterscheidung gut gemerkt, Fußpulse gut tastbar – also Beine und Füße diabetologisch in Ordnung. Im letzten Quartal hatten wir eine Urinuntersuchung auf Mikroalbuminurie durchgeführt und hatten keine gefunden! Ein weiterer Punkt, der uns beide zufrieden stimmte.

Klinische Hinweise für eine Durchblutungsstörung des Herzens oder auch der Halsschlagader lagen nicht vor, aber wir vereinbarten zur Sicherheit einen Termin für ein Belastungs-EKG; bei diesem waren keine auffallenden Veränderungen festzustellen, und auch die Blutdrucksituation war gut. Ergänzend führten wir eine Nüchtern-Blutabnahme durch, da die letzte schon ein Dreivierteljahr zurückgelegen hatte, und überprüften dabei die Blutfettwerte.

Damit hatten wir die komplette Liste der möglichen Risikofaktoren und der Entwicklung von Folgeerkrankungen im Bereich der kleinen und großen Blutgefäße abgedeckt; nun konnten wird sagen, dass die Retinopathie in der Ausprägung der Hintergrundretinopathie offensichtlich die einzige Folgeerkrankung ist, die vorliegt. Auch bei der Spezialuntersuchung in der Augenklinik gab es keinen weitergehenden Befund. Herr Müller muss sich zum Glück nicht mit weiteren Folgeerkrankungen auseinandersetzen.

Das sind die notwendigen Früherkennungsmaßnahmen für Diabetesfolgen

Wenn wir aus der persönlichen Situation von Herrn Müller das Thema Folgeerkrankungen nun noch einmal betrachten, bleibt festzuhalten, dass es trotz allen möglichen Frusts und möglicher Demotivation wichtig ist, früh nach Folgeerkrankungen zu suchen. Denn nur, wenn sie rechtzeitig erkannt, können sie auch rechtzeitig behandelt werden. Und nur dann kann man ihrer Verschlimmerung vorgebeugen.

Insofern hilft die frühe und routinemäßige Überprüfung auf Folgeerkrankungen, die Gesundheit trotz Vorliegen eines Diabetes mellitus zu bewahren. Die weiteren Risikofaktoren können identifiziert und ihrer Einstellung verbessert werden.

In der Praxis bedeutet das:

  • 1-mal im Jahr Untersuchung des Urins auf Mikroalbuminurie;
  • 1-mal im Jahr augenärztliche Untersuchung mit weitgetropfter Pupille;
  • wenn noch keine Neuropathie vorliegt, 1-mal im Jahr Untersuchung der Füße mit Stimmgabel, Neurofilament, Warm-Kalt-Unterscheidung, Tasten der Fußpulse und Überprüfung der Reflexe.
  • Blutdruckmessung bei jedem Besuch in der Praxis, bei Verdacht auf “Praxishochdruck” Durchführung einer Langzeit-Blutdruckmessung, ebenso bei Vorliegen eines pathologischen Befundes der obigen Punkte.
  • Bei klinisch auffälligen Befunden oder Hinweisen aus der Vorgeschichte
    • – Belastungs-EKGs
    • Ultraschalluntersuchung der Halsschlagadern

Wichtig ist es, die Motivation für persönlich wichtige Ziele auch für die Behandlung des Diabetes zu nutzen; dann ist auch ein Leben mit Folgeerkrankungen trotz möglicher Einschränkungen mit subjektiven Erfolgserlebnissen verbunden. Auch Herrn Müller gelang es nicht von heute auf morgen – aber im Laufe der nächsten Termine, sich eine Behandlungsmotivation zu erarbeiten und sich der Diabetesherausforderung wieder neu zu stellen.

Wichtigstes Instrument für die Früherkennung: “Gesundheits-Pass Diabetes”

Der “Gesundheits-Pass Diabetes” ist ein wichtiges Dokument. Er ist die einzige Stelle, an der alle Diabetes-Befunde zusammengefasst sind, wenn er richtig geführt wird. Deshalb sollten Menschen mit Diabetes und Diabetologen darauf achten, dass jeder Patient einen solchen Pass hat.

Gesundheits-Pass Diabetes
Alle wichtigen Untersuchungen dokumentiert Ihr Arzt im Gesundheits-Pass Diabetes. So überblicken Sie und Ihr Arzt immer den aktuellen Stand der Behandlung: Nichts wird vergessen! Der Pass ist erschienen im Kirchheim-Verlag und bestellbar über www.kirchheim-shop.de

Er ist die Checkliste, die dafür sorgt, dass zumindest kein wichtiger Befund vergessen wird. Den Platz für die Befunde finden Sie im unteren Teil jeder Doppelseite unter der Überschrift “Einmal im Jahr (je nach Befund häufiger)”.


von Dr. med. Bernhard Lippmann-Grob
Leitender Oberarzt am Diabetes Zentrum Mergentheim,
E-Mail: lippmann-grob@diabetes-zentrum.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (12) Seite 26-29

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