Warum Insulin manchmal anders wirkt

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Warum Insulin manchmal anders wirkt

Alles richtig berechnet, genau nach Plan gehandelt – und trotzdem schwanken die Werte? Dr. Nicolin Datz erklärt in der Rubrik Schulung, warum Insulin manchmal anders wirkt als erwartet und wann mehr und wann weniger Insulin nötig ist.

Meine Werte sind zur Zeit immer so hoch, dabei mache ich alles wie immer.“ Oder: „Seit ein paar Tagen sind die Werte immer so niedrig – wie kommt das?“ Solche Äußerungen sind in der Diabetessprechstunde nicht selten zu hören. Es kommen verzweifelte Kinder, Jugendliche oder Eltern, die alles „genau nach Plan berechnen“ – und trotzdem schwanken die Werte in die eine oder die andere Richtung …

Wirkdauer und Tageszeiten

Die Wirkung von Insulinen ist ein wichtiges Schulungsthema in der Kinderdiabetologie. Besprochen wird die Wirkdauer der unterschiedlichen Insuline und auch ihre tageszeitenabhängige Wirkung. Teilt man Insuline nach der Wirkdauer ein, unterscheidet man langwirkende, kurzwirkende und extrem kurzwirkende Insuline voneinander.

Die langwirkenden Insuline haben, je nach verwendetem Präparat, eine Wirkdauer von ca. 6 bis 24 Stunden und werden als Basalinsuline eingesetzt. Sie decken also den nahrungsunabhängigen Insulinbedarf ab. Bei den kurz- und extrem kurzwirksamen Insulinen wird eine Wirkdauer von 2 bis 4 Stunden angegeben. Sie werden als Mahlzeiteninsuline eingesetzt. Je nachdem, welches Präparat verwendet wird, können eine oder zwei Mahlzeiten pro Injektion damit abgedeckt werden.

Ein weiterer Bestandteil der Schulung zum Thema Insulinwirkung ist die tageszeitenabhängige Wirkung des Insulins, auch zirkadianer Rhythmus genannt. Zu unterschiedlichen Tageszeiten zeigt Insulin eine unterschiedliche Wirkung im Organismus. Dies ist in der Abbildung auf der nächsten Seite (aus „Diabetes bei Jugendlichen: ein Behandlungs- und Schulungsprogramm“, Heft 2) sehr schön dargestellt: Der Insulinbedarf ist in den frühen Morgenstunden und am Abend deutlich höher als um die Mittagszeit und in der Nacht.

Die Insulinwirksamkeit verändert sich im Laufe des Tages und der Nacht. Daher wird z. B. zu bestimmten Zeiten mehr Insulin pro KE benötigt als zu anderen Zeiten.

Die Ursache dafür liegt in der Wirkung weiterer vom Körper freigesetzter Hormone. Die Wachstumshormone, das Stresshormon und die Pubertätshormone werden z. B. in den frühen Morgenstunden freigesetzt und führen zu einer geringeren Insulinwirkung mit der Folge hoher Glukosewerte. Es ist also MEHR Insulin notwendig, um die Glukosewerte zu dieser Zeit in den Zielbereich zu bringen. In der Nacht hingegen ist die Insulinwirkung sehr stark, so dass deutlich WENIGER Insulin notwendig ist.

Die beiden grundsätzlichen Theorien zur Insulinwirkung werden im Insulinplan, den der Diabetologe aufstellt, berücksichtigt, so dass sie im Alltag zu stabilen Glukosewerten führen sollten. Mit zunehmendem Wachstum und Körpergewicht sowie längerer Diabetesdauer kommt es zu einem allmählich steigenden Insulinbedarf, der durch regelmäßige Ambulanzbesuche rechtzeitig erkannt und angepasst wird.

Es gibt jedoch Ereignisse, bei denen weitere Einflussfaktoren eine Rolle spielen und zu kurzfristigen Änderungen der Insulinwirkung führen. Auf die Fehlberechnung des Insulins und der Kohlenhydrate möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Die korrekte Berechnung von Insulindosis und Kohlenhydraten wird an dieser Stelle vorausgesetzt.

Situationen mit niedrigerem ­Insulinbedarf

Situationen, in denen sich der Insulinbedarf verringern kann und in denen es deshalb unter Beibehaltung der üblichen Dosierungen zu Hypoglykämien kommen kann, sind z. B. :

  • Steigerung der körperlichen Aktivität
  • trockene Hitze
  • Magen-Darm-Erkrankungen

Erhöhte körperliche Aktivitäten, wozu nicht nur Sport im engeren Sinn, sondern auch Tagesausflüge, Wanderungen, Fahrradtouren, Inlinerfahren, ein Tag am Strand o. ä. Freizeitbeschäftigungen gehören, können zu Hypoglykämien führen. Der Körper verbrennt mehr Kohlenhydrate zur Energiegewinnung, und die Muskulatur nimmt zum Teil Glukose auch ohne Insulin in die Zellen auf, so dass der Insulinbedarf niedriger ist. Dieses Phänomen kann sich noch bis in die erste Nachthälfte hinaus bemerkbar machen. Trockene Hitze (z. B. im Sommerurlaub) führt ebenfalls zu einem niedrigeren Insulinbedarf, woran dies genau liegt, ist nicht ganz klar.
Im Rahmen von Magen-Darm-Infekten mit Durchfall und Erbrechen ist die Aufnahme der Kohlenhydrate aufgrund der erkrankten Darmschleimhaut gestört, so dass sie nur zum Teil aufgenommen werden können und der Insulinbedarf sich dadurch ebenfalls reduziert.

In diesen drei Situationen wird auf jeden Fall empfohlen, häufiger die Glukosewerte zu kontrollieren, Traubenzucker griffbereit zu haben und die Insulinzufuhr zu reduzieren. Bei der Pumpentherapie ist dies über eine Reduktion der Basalrate, initial z. B. um 20 bis 30% (ggf. sogar mehr), relativ einfach umzusetzen. Bei der Spritzentherapie kann man die morgendliche oder/und abendliche Basalinsulindosis um 20 bis 30 % reduzieren. Bei sehr starken Hypoglykämien ist zusätzlich eine Reduktion des Mahlzeiteninsulins sinnvoll.

Situationen mit erhöhtem ­Insulinbedarf

Situationen, in denen der Insulinbedarf steigt und es deshalb unter der üblichen Dosierung zu Hyperglykämien (Überzuckerungen) kommen kann, sind z. B. folgende:

Das Dawn-Phänomen („Sonnenaufgangs-Phänomen“) ist Ausdruck der Wirkung von Wachstums -und Pubertätshormonen. Diese Hormone werden insbesondere während der Pubertät in den frühen Morgenstunden freigesetzt, was zu allmählich ansteigenden Glukosewerten ab ca. 2 Uhr und Hyperglykämien beim Aufstehen führt. Um dies zu verhindern, muss bei der Insulinpumpentherapie die Basalrate und bei der Spritzentherapie das Basalinsulin zur Nacht entsprechend angepasst werden.

Bei Hyperglykämien muss bei der Insulinpumpe unbedingt die Insulinzufuhr überprüft und auf abgeknickte Insulinpumpenkatheter geachtet werden. Ist die Zufuhr behindert, kommt das Insulin nicht mehr in der notwendigen Menge im Unterhautfettgewebe an und kann folglich auch nicht ausreichend wirken.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Kontrolle der Spritz-und Katheterstellen. Diese können verdickt oder sogar entzündet sein; dies verzögert oder behindert die Aufnahme des Insulins. Hyperglykämien sind die Folge. Hier hilft nur der Wechsel des Katheters bzw. Wechsel der Spritzstellen unter Auslassen der verdickten Stellen. Entzündungen oder sogar Abszessbildungen an den Spritzstellen müssen unbedingt ärztlich abgeklärt werden.

Wichtig für die Urlaubsplanung ist auch das Wissen um die Wirkung von Insulin bei feuchter Hitze – die Wirkung ist dann nämlich reduziert, so dass der Insulinbedarf höher ist. Es sollte vermehrt gemessen und ggf. korrigiert werden. Auch eine Anpassung des Basalinsulins kann notwendig werden. Außerdem kann Insulin bei hohen Temperaturen unwirksam werden, deshalb muss im Sommer bei Auftreten hoher Temperaturen und hoher Glukosewerte auch diese Möglichkeit in Betracht gezogen werden und ggf. vorzeitig eine neue Ampulle angebrochen und das Reservoir gewechselt werden.

Nicht zu unterschätzen ist auch die geringere körperliche Aktivität (oft in den Wintermonaten). Der Insulinbedarf ist höher; die Insulindosis sollte entsprechend erhöht werden. Dieses Phänomen haben wir bei vielen Kindern und Jugendlichen jetzt in der Zeit der Corona-Pandemie erlebt. Home Schooling, Kontaktverbote und schlechtes Wetter haben die Bewegungsdauer und den Bewegungsradius eingeschränkt und den Insulinbedarf bei vielen ansteigen lassen.

Fazit

  • Unter bestimmten Umständen wirkt Insulin anders als gewohnt.
  • Eine stärkere Insulinwirkung mit der Gefahr von Hypoglykämien kann in folgenden Situationen entstehen:
    • – Steigerung der körperlichen Aktivität
    • – trockene Hitze
    • – Magen-Darm-Erkrankungen
  • Eine geringere Insulinwirkung mit der Notwendigkeit der Erhöhung des Insulins gibt es möglicherweise bei folgenden Ereignissen:
    • – Dawn-Phänomen
    • – abgeknickte Insulinpumpenkatheter
    • – verdickte Spritz- und Katheterstellen
    • – Krankheiten
    • – feuchte Hitze
    • – weniger körperliche Aktivität
  • Mit häufigeren Messungen, Korrekturen und Insulinanpassungen kann man auf diese Schwankungen reagieren.

Autor:

Dr. med. Nicolin Datz
Oberärztin Pädiatrie III
Diabeteszentrum für Kinder und Jugendliche „Auf der Bult“
Janusz-Korczak-Allee 12, 30173 Hannover
E-Mail: datz@hka.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2021; 13 (2) Seite 25-27

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