Was tun bei Verhaltensänderungen durch Unterzuckerung?

6 Minuten

Was tun bei Verhaltensänderungen durch Unterzuckerung?

In vielen Familien, in denen ein Mitglied Diabetes hat, steht die Sorge vor Unterzuckerungen ständig im Raum. Obwohl diabetische Ketoazidosen das Leben von Menschen mit Typ-1-Diabetes viel mehr bedrohen als zu niedrige Blutglukosewerte, fürchten Betroffene und Angehörige zuerst das plötzliche Eintreten einer schweren “Hypo”. Solche Ängste können Beziehungen sehr belasten.

Selbst dann, wenn eine Person mit Diabetes noch etwas essen oder trinken könnte, lassen sich einige weder durch gute Worte noch eindrückliche Warnungen überzeugen, ihren Blutzuckerwert anzuheben. Frau K. berichtet, dass ihr Ehemann (45, seit 31 Jahren Typ-1-Diabetes) bei Blutzuckerwerten um 50 mg/dl (2,8 mmol/l) sich manchmal aggressiv dagegen wehrt, den Traubenzucker zu essen, den sie ihm bringt.

“Es kommt dann regelmäßig zum Streit, gegenseitige Vorwürfe eskalieren, und mein Mann ist nicht mehr der, den ich eigentlich kenne”, schildert Frau K. die letzte Unterzuckerung ihres Mannes. “Hinterher kann er sich nicht mehr an die üblen Beschimpfungen erinnern, und es tut ihm leid. Trotzdem zweifle ich nach so einem Vorfall an unserer Beziehung und suche nach friedlichen Wegen, meinem Mann zu helfen.”

Die Verhaltensänderungen bei Hypoglykämien

Wenn Blutzuckerwerte im normalen Bereich liegen, arbeiten die verschiedenen Areale des Gehirns sehr gut zusammen. Dagegen haben viele Studien in den letzten Jahren gezeigt, dass bei viel zu niedrigen wie auch bei viel zu hohen Blutzuckerwerten (über 250 mg/dl bzw. 13,9 mmol/l) viele Leistungen des Gehirns deutlich beeinträchtigt sind. Matheaufgaben dauern länger, es kommt zu mehr Fehlern, die Reaktionszeit verlängert sich; schlechter werden das logische Denken, die Koordinationsfähigkeit, die Wortfindung und die Lösung praktischer Aufgaben.

Auch gut eingeübte Bewegungen wie Treppensteigen, Radfahren, Tippen auf einer Tastatur oder Skilaufen funktionieren nicht mehr so gut wie bei normalen Blutzuckerwerten. Deshalb stellen Hypoglykämien ein Sturzrisiko besonders für ältere Personen dar, die nicht mehr so gut auf den Beinen sind. In allen aktuellen Leitlinien gilt daherfür ältere Menschen mit Diabetes als erstes Therapieziel Hypoglykämien vermeiden und erst als zweites Therapieziel einen akzeptablen Blutzuckerlangzeitwert (HbA1c).

Hypos beeinflussen auch Hirnareale, die Emotionen steuern

Während zu niedriger und viel zu hoher Blutzuckerwerte werden nicht nur die intellektuellen Leistungen beeinträchtigt: Auch die Hirnareale, die für die Emotionen, d. h. die Stimmung eines Menschen, verantwortlich sind, werden beeinflusst. Einerseits sind viel zu niedrige Werte Stress für den gesamten Organismus, der mit Aktivierung, d. h. mit starken Emotionen, reagiert. Ängste können so zu Panik werden, Ärger zu offener Aggression, Traurigkeit zu großem Unglück und gute Laune zu überschwänglicher Euphorie.

Andererseits fehlt durch den Glukosemangel im Gehirn die Kontrolle dieser Gefühle durch die Hirnzentren, die für das “vernünftige Abwägen” und die sachliche Einordnung der Gefühle zuständig sind. Mangels Glukose fällt deren hemmende Wirkung aus – die eigentlich ein zentraler Teil unserer Persönlichkeit ist. Die basalen Gefühle treten unter Ausschluss der Vernunft in den Vordergrund.

Sinnvolle Überlebensstrategie: Heißhunger-Attacken bei Unterzuckerungen

Im Prinzip steht diese körperliche Reaktion für eine sinnvolle Überlebensstrategie, bei der z. B. die meisten Menschen mit zu niedrigen Blutzuckerwerten eine Heißhunger-Attacke bekommen und sich nur schwer bremsen können. Bei einigen Personen ist dagegen das “Verbot” von Zucker aus alten Zeiten so tief in ihrem Unterbewusstsein verankert, dass sie sich selbst während einer Hypoglykämie schwertun, Traubenzucker zu akzeptieren.

Es gibt auch einzelne Berichte von Personen, die z. B. als Berufssoldaten bestimmte Abwehrbewegungen intensiv trainiert und als automatische Verhaltensweisen tief verinnerlicht hatten. Als sie später an Diabetes erkrankten und in eine schwere Hypoglykämie kamen, haben sie sich genau mit diesen Bewegungen gegen Hilfe von Außenstehenden körperlich gewehrt.

Umgang mit Verhaltensänderungen bei “Hypos”
Um Familienkonflikte und Missverständnisse durch zu niedrige Blutzuckerwerte zu vermeiden, können folgende Strategien hilfreich sein:
  • Betroffene mit Diabetes und Angehörige informieren sich über die persönlichen realistischen Risiken durch Hypoglykämien (abhängig von Alter, Diabetesdauer, weiteren Erkrankungen und Hypoglykämiewahrnehmung)
  • Sie informieren sich gemeinsam über die Abläufe und Wechselwirkungen im Gehirn bei zu niedrigen Werten, um unangemessene Verhaltensweisen zu verstehen und nicht “auf die Goldwaage zu legen”
  • Die Person mit Diabetes gibt den Angehörigen “schriftlich”, wie sie während einer Hypoglykämie angesprochen und behandelt werden möchte
  • Gemeinsam sollte auch überlegt werden, welche Therapieziele sinnvoll sind, um frühzeitig einer schweren Hypoglykämie vorzubeugen
  • Personen mit einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung sollten sich mit ihrem Diabetologen abstimmen, wie sie die Wahrnehmung wieder verbessern können
  • Schließlich kann ein Real-time-CGM-System mit klug gewählten Alarmgrenzen zum Familienfrieden beitragen

Realistisches Risikobewusstsein

Angehörige sollten wissen, dass schwere Hypoglykämien meist weniger bedrohlich sindals gedacht. Besonders die große Angst mancher Mütter junger Kinder ist hier oft schädlicher als das wirkliche Risiko durch die zunehmend seltener werdenden schweren Unterzuckerungen. Selbst wenn das Ereignis sehr bedrohlich wirkt, ist es bei richtiger Behandlung mit Glukagon oder durch einen Notarzt gut zu behandeln. Das gilt auch für die Mehrheit der Erwachsenen mit Diabetes.

Ausnahmen davon betreffenMenschen mit einer Hypoglykämiewahrnehmungsstörung, mit schwerwiegenden Folgeerkrankungen und Hochbetagte mit Sturzgefahr. Hier sollte mit dem Diabetesteam über passende Therapieziele und ggf. CGM-Systeme (sprich: kontinuierliches Glukose-Monitoring) mit einer Alarmfunktion gesprochen werden. Übertriebener Ehrgeiz, d. h. ein möglichst niedriger HbA1c-Wert, kann riskant sein.

Gefühle und Verhalten verstehen

Im zweiten Abschnitt wurde grob dargestellt, wie das Gehirn während einer Hypoglykämie im Notfall-Modus arbeitet; Angehörige sollten wissen, dass ungewöhnliche Äußerungen und Verhaltensweisen der Person mit Diabetes dadurch entstehen können. Dies hat aber wenig mit der “Persönlichkeit” des Angehörigen zu tun. Wichtiger ist, gelassen zu bleiben und nicht zu provozieren.

Eine Person in einer Hypoglykämie kann nicht mehr klar denken und argumentieren. Und das ärgert sie in der Stresssituation Hypoglykämie noch mehr. Damit ist Streit programmiert. Manchmal hilft es, “die Ohren als Angehöriger auf Durchzug zu stellen”, bis der Blutzucker des Partners oder der Partnerin wieder ein gutes Gespräch möglich macht.

Gegenseitige Absprachen als Vorsorge

Damit der Diabetes in der Familie keine Haupt-, sondern eine Nebenrolle bekommt, hilft es, sich abzusprechen: Was darf der Angehörige tun, wenn der Diabetiker deutliche Hypoglykämie-Anzeichen hat und nicht darauf reagiert? Kann er/sie ein diskretes Zeichen geben, ohne gleich alle Umstehenden über den Diabetes zu informieren? Zum Beispiel holte sich ein Seminarleiter während einer Veranstaltung selbst ein Getränk und stellte auch der hypoglykämischen Kollegin wie selbstverständlich ein Glas Apfelsaft auf den Tisch.

Manche Paare haben für den Fall einer unbemerkten Hypoglykämie diskrete Zeichen verabredet. Und für die sehr seltenen Situationen, in denen sich eine Person nicht mehr selbst helfen kann, wurden die Art der Ansprache, die Menge an Traubenzucker und für den Notfall die Glukagongabe verabredet. Bei aller Fürsorge sollte aber auf das richtige Maß geachtet werden: Ständige Fragen nach Hypoglykämien und Ermahnungen tun keiner Partnerschaft gut. Sie drängen die Person mit Diabetes in die Rolle eines kleinen Kindes, das pausenlos überwacht werden muss.

Auf der anderen Seite überfordert es jeden Angehörigen, wenn sich ohne eigenes Bemühen darauf verlassen wird, dass der Partner schon helfen wird, wenn der Blutzuckerwert zu niedrig ist. Fairness gilt hier für beide Seiten.

Sinnvolle Therapieziele

Der übertriebene Ehrgeizum immer niedrigere HbA1c-Werte ist manchmal schwer zu verstehen. Die “6” vor dem Komma reicht nicht aus, es wird um eine “5” gekämpft, auch wenn es dadurch zu wiederholten schweren Hypoglykämien kommt. Dabei kann eine tiefsitzende Angst vor Folgeerkrankungen eine Rolle spielen, die bereits in der Kindheit ihren Anfang genommen hat. Die aktuellen Studien, z. B. die Folgestudien des DCC-Trials, zeigen, dass in den niedrigen Bereichen kein zusätzlicher Gewinn an Sicherheit zu erwarten ist.

Andere möchten sich selbst beweisen, dass sie eigentlich gar keinen Diabetes haben. Es fällt ihnen schwer, die Stoffwechselstörung zu akzeptieren. Nahe-normoglykämische Werte geben ihnen das Gefühl, “normal” zu sein. Es gibt weitere Gründe, warum einzelne Personen zu viele schwere Hypoglykämien in Kauf nehmen. Hier sollten Betroffene und Angehörige mit dem Diabetesteam offen über Ängste und Befürchtungen sprechen, um ein persönlich passendes und sicheres Therapieziel festzulegen.

Hypoglykämiewahrnehmung verbessern

Um Streit und Unsicherheit in der Familie zu vermeiden, sollten diejenigen, die ihre Hypoglykämien nicht oder erst spät spüren, mit ihrem Diabetesteam nach Lösungen suchen. Es hat sich zum Beispiel gezeigt, dass sich die Wahrnehmung der Anzeichen deutlich verbessert, wenn Hypoglykämien einige Wochen streng vermieden werden.

Die hormonelle Gegenregulation, die zuvor durch zu lange Phasen in einer Hypoglykämie heruntergeregelt wurde, erholt sich nur langsam. Die Chance ist mit etwas Geduld groß, dass die Anzeichen wieder spürbar werden. Das Schulungsprogramm HyPOS richtet sich genau an diese Patienten und Angehörige.

Alarme durch Real-time-CGM

Seit der Einführung der kontinuierlichen Glukosemessung profitieren immer mehr Menschen mit Diabetes von der frühzeitigen Warnung vor Hypoglykämien. Dies gilt besonders für diejenigen, die keine Anzeichen verspüren oder sie noch nicht verstehen können (sehr junge Kinder mit Typ-1-Diabetes).

Letztlich kann ein solches System aus meiner Sicht jedem Menschen mit Diabetes helfen, sicher und weniger belastet mit der Stoffwechselstörung zu leben. Voraussetzung dafür ist, dass Betroffene sehr gut zum Umgang mit dem System geschult sind (Programm SPECTRUM) und auch deren Angehörige die Alarme einordnen und verstehen können. Denn von allein macht ein CGM-System noch nichts.

Damit die Alarme die Familie nicht ständig beunruhigen und den Nachtschlaf des Partners stören, sollten sie klug gewählt werden – früh genug, um noch handeln zu können, aber niedrig genug, um meistens durchzuschlafen. Zu Beginn des Einsatzes von rtCGM gibt es meist sehr viele Alarme, aber mit wachsender Erfahrung und schrittweiser Verbesserung der Insulintherapie kann es gelingen, diese Störungen auf ein Minimum zu reduzieren. Dabei helfen ein rtCGM-erfahrenes Diabetesteam und Geduld der ganzen Familie.

Schwerpunkt: Diabetes-Typ-F

von Prof. Dr. Karin Lange (Dipl.-Psych.)
Leiterin Medizinische Psychologie,
Medizinische Hochschule Hannover,
E-Mail: Lange.Karin@MH-Hannover.de

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (2) Seite 21-24

Ähnliche Beiträge

Lea Raak im Interview: Durch Community zurück ins Leben

Lea Raak lebt seit dem Jahr 2011 mit einem Typ-1-Diabetes. Viele Fragen taten sich nach der Diagnose auf – und eine gewisse Verzweiflung. Die Community hat ihr zurück ins Leben geholfen: „Ich tue mein Bestes und alles andere kommt, wie es kommt.“

11 Minuten

#dedoc° voices meet DDG: die Patienten-Perspektive beim Diabetes Kongress

Im zweiten Teil der Berichte der #dedoc° voices vom diesjährigen Diabetes Kongress kommen weitere Menschen mit Diabetes zu Wort, die im Mai die Fachtagung in Berlin besucht haben, um ihre Perspektive einzubringen.

9 Minuten

Keine Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Über uns

Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.

Diabetes-Anker-Newsletter

Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.

Werde Teil unserer Community

Community-Frage

Mit wem redest du über deinen Diabetes?

Die Antworten auf die Community-Frage werden anonymisiert gesammelt und sind nicht mit dir oder deinem Profil verbunden. Bitte achte darauf, dass deine Antwort auch keine Personenbezogenen Daten enthält.

Werde Teil unserer Community

Folge uns auf unseren Social-Media-Kanälen

Push-Benachrichtigungen

notification icon
Aktiviere Benachrichtigungen auf dieser Seite, um auf dem laufenden zu bleiben, wenn dir Personen schreiben und auf deine Aktivitäten antworten.
notification icon
Du hast die Benachrichtigungen für diese Seite aktiviert
notification icon
Aktiviere Benachrichtigungen auf dieser Seite, um auf dem laufenden zu bleiben, wenn dir Personen schreiben und auf deine Aktivitäten antworten.
notification icon
Du hast die Benachrichtigungen für diese Seite aktiviert