Wenn Übergewicht auf die Seele drückt

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Wenn Übergewicht auf die Seele drückt

Nach den Ergebnissen jüngst veröffentlichter Untersuchungen gilt mittlerweile die Mehrheit der Deutschen als übergewichtig. Zudem haben Fachleute festgestellt, dass zunehmend mehr Menschen von starkem Übergewicht

Seit längerer Zeit beschäftigen sich die Forscher auch damit, wie sich die vielen Pfunde auf die Seele auswirken. Welche Belastungen beschreiben Menschen, die unter ihrem Gewicht leiden? Welche Auswege und Hilfen können die Psyche entlasten und vielleicht sogar den Gewichtsverlauf günstig beeinflussen?

"Wenn ich schlank wäre …"

Glaubt man den Untersuchungen, betrachtet sich ein großer Anteil der Deutschen mit Übergewicht

Dennoch ist bekannt, dass mit zunehmender Leibesfülle nicht nur die Risiken für Herzinfarkt, Schlaganfall, Typ-2-Diabetes und viele weitere Erkrankungen steigen. Auch das Wohlbefinden wird bedeutsam beeinträchtigt – die Kilos lasten buchstäblich auf der Seele. Nach amerikanischen Befunden entwickeln Übergewichtige (verglichen mit Normalgewichtigen) in fünf Jahren mit doppelter Wahrscheinlichkeit eine depressive Stimmungslage.

Umgekehrt berichten Menschen, die erfolgreich abgenommen haben, von einem merklich verbesserten Befinden. Interessant: Maßgeblich für das gestiegene Wohlbefinden ist wohl nicht der Verlust der Pfunde, sondern das Gefühl, erfolgreich sein Gewicht beeinflussen zu können.

Nach einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung einer Krankenkasse, in der mehr als 3 000 Deutsche über 18 Jahren interviewt wurden, zeigt sich ein Trend: Je höher das Körpergewicht war, desto negativer schätzten Betroffene ihren Gesundheitszustand ein.

Warum ist das Wohlbefinden beeinträchtigt?

Viele Betroffene beklagen, dass eine Vielzahl von Problemen die Ursache für ihr Übergewicht sind (z. B. in der Partnerschaft, am Arbeitsplatz). Nach Befunden namhafter Experten kann es das Nervenkostüm auf Dauer zermürben, wenn man wiederholt erfolglos gegen den eigenen Körper ankämpft.

Gefühlte Niederlagen

Hirnforscher fanden heraus, dass bei einer gefühlten Entbehrung infolge einer Diät bestimmte Lebensmittel und Speisen zunehmend mehr Glück verheißen. So ist es nicht verwunderlich, dass viele Diätversuche zu gefühlten Niederlagen beitragen. Mit jedem fehlgeschlagenen Diätversuch nimmt das Gefühl zu, versagt zu haben. Dabei scheinen besonders diejenigen Kummer zu empfinden, die bei gedrückter Stimmung auf Nervennahrung angewiesen sind.

Zurückweisung, Ausgrenzung und Diskriminierung

Übergewichtige kennen Situationen, in denen sie sich wegen ihrer Pfunde benachteiligt fühlten. Bereits im Kindergarten und auf dem Schulhof erleben übergewichtige Kinder und Jugendliche sich als Außenseiter. Seelische Verletzungen aufgrund des Übergewichts – etwa bei der Partnersuche, in Beziehungen oder am Arbeitsplatz – hinterlassen oft lebenslange psychische Narben.

Dicken Menschen wird häufig nachgesagt, sie seien selbst schuld an ihren Pfunden, hätten sich beim Essen weniger unter Kontrolle und verfügten über weniger Willenskraft im Umgang mit dem eigenen Körper. Als für eine amerikanische Untersuchung die Portraits von Über- und Normalgewichtigen in Zeitschriften ausgewertet wurden, kam heraus, dass Übergewichtige häufiger weniger vorteilhaft im Sinne dieser Klischees abgebildet worden waren.

Teufelskreis: Übergewicht, Hunger und Kummer

Die Enttäuschung über missglückte Diätversuche, das Unglücklichsein wegen der Figur und seelische Verletzungen wegen des Gewichts können, neben anderen Belastungen, erheblich zu psychischem Dauerstress beitragen und Depressionen begünstigen.

Neuere Forschungsergebnisse der Arbeitsgruppe um Prof. Peters von der Universität Lübeck helfen, den Teufelskreis zwischen Übergewicht, Hunger und Kummer besser zu verstehen. Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass bei einem bestimmten Typ Mensch bei Dauerbelastung das Stresssystem herunterfährt, das unter anderem die Bereitstellung von Energie für das Gehirn regelt.

Selbst wenn der Energiebedarf des Körpers gedeckt ist, täuscht das Gehirn Energiemangel vor. Betroffene spüren dann vermehrte Hungergefühle, die dazu führen, dass sie mehr Kalorien essen, als sie eigentlich brauchen. Dicksein ist, so das Fazit der Lübecker Wissenschaftler, quasi der Preis für eine bessere Stressabwehr.

Sich trotzdem wohl fühlen

Wenn Ihnen bisher keine Diät geholfen hat, ist es nicht sinnvoll, eine weitere zu beginnen. Je mehr Sie Ihr Essen durch Vorschriften und Vorsätze steuern, desto mehr greifen Sie in komplizierte Vorgänge in Ihrem Körper ein – dabei kann Ihnen Ihr Körper eigentlich genau sagen, wann Sie hungrig und wann Sie satt sind.

Keine strikten Diätpläne

Natürlich spricht nichts dagegen, Ihr Essverhalten zu verändern. Achten Sie jedoch darauf, dass Sie nicht zum Fastenjünger mutieren, sondern sich die Lust am Essen erhalten. Artet gesunde Ernährung in Stress aus, könnte dies sogar ungewollt zu weiteren Pfunden beitragen.


Schutzschild gegen Ausgrenzung und Vorurteile

Nach Befunden der amerikanischen Psychologin Rebecca Puhl tragen nicht Zurückweisungen aufgrund des Übergewichts per se zu depressiven Stimmungen bei – vielmehr entscheidet die Art und Weise, wie Betroffene mit Ablehnung und Diskriminierung umgehen. Rufen Sie sich daher in Erinnerung, dass eine negative Rückmeldung wegen Ihres Gewichts möglicherweise auf Vorurteilen Ihres Gegenübers beruht.

Sie kennen Ihre Qualitäten selbst viel besser und wissen, dass diese negative Rückmeldung nichts mit Ihrem eigentlichen Naturell, Ihren Stärken und Ihren liebenswerten Seiten zu tun hat. Ist Ihr Gewicht tatsächlich Ihre dominierende Persönlichkeitseigenschaft? Vielleicht tut es Ihrem Selbstbewusstsein gut, wenn Sie den Kilos auf Ihrer Waage nicht allzu viel Bedeutung zumessen, sondern sich Ihre Stärken und Erfolge vor Augen halten.

Zeigen Sie, dass Vorurteile unberechtigt sind

Manche Übergewichtige haben die Erfahrung gemacht, dass es dem eigenen Selbstwertgefühl enorm guttun kann, der Umwelt ihre Qualitäten vor Augen zu führen. Wenn Sie beispielsweise für unsportlich gehalten werden, packt Sie vielleicht der Ehrgeiz, mit einem verträglichen Ausdauertraining Ihre Fitness zu steigern. Möglicherweise ernten Sie dann in einigen Monaten bei einer Fahrradtour Bewunderung für Ihre Ausdauer oder spüren die Anerkennung anderer Teilnehmer.

Vielleicht schlummert auch ein bisher unbekanntes Talent in Ihnen, in dem Sie sich üben können? Schließlich gibt es zahllose Musiker oder Schauspieler, die wegen ihrer Fähigkeiten besonders geschätzt werden – trotz ein paar Kilos zu viel. Oder vielleicht sind Sie handwerklich besonders begabt, haben ein Herz für sozial Benachteiligte oder lösen im Nu jedes Computerproblem?

Auch mal Kontra geben

Wenn Sie sich Ihrer Sache sicher sind und Ihnen die Situation passend erscheint, kann es durchaus sinnvoll sein, Ihrem Gegenüber mitzuteilen, dass Sie sich aufgrund Ihrer Pfunde benachteiligt fühlen. Sie sollten dazu allerdings die passenden Worte für eine höflich-diplomatische Rückmeldung finden. Bedenken Sie dabei, wie Ihr Gesprächspartner reagieren könnte.

Keine Isolation trotz Ihrer Pfunde

Wahrscheinlich haben Sie sich auch schon öfter bei dem Gedanken ertappt, dass Sie bestimmte Orte oder Vorhaben aufgrund Ihrer Pfunde am liebsten meiden. Vielleicht malen Sie sich in Gedanken die Blicke und Bemerkungen aus, denen Sie z. B. auf einem Fest ausgesetzt sind, und bleiben deshalb lieber zu Hause.

Ziehen Sie sich nicht zurück

Was Psychologen als Vermeidungsverhalten bezeichnen, könnte sich langfristig nachteilig auf Ihr Wohlbefinden auswirken: Wenn Sie bestimmte Aktivitäten meiden, bleiben Ihnen tatsächlich unangenehme Erfahrungen wegen Ihres Gewichts erspart. Gleichzeitig aber verschließen Sie sich vor schönen Erlebnissen und Begegnungen.

Ziehen Sie sich zeitweise zurück, könnte dies rasch zur Gewohnheit werden und sich allmählich auf andere Aktivitäten ausdehnen, die Sie mögen. Halten Sie sich vor Augen: Sie haben dasselbe Recht, Spaß zu haben, das Leben zu genießen und neue Erfahrungen zu machen, wie Menschen mit Normalgewicht.

Hilft oft: Kontakte knüpfen

Vielleicht kennen Sie nette Gleichgesinnte, die einen guten Weg gefunden haben, mit ihren zusätzlichen Pfunden zu leben? Es könnte sich lohnen, diese Kontakte zu pflegen. Möglicherweise erhalten Sie von diesen Menschen mehr Verständnis für Ihre Körperlichkeit, mehr Rückhalt und Unterstützung – und auf jeden Fall weniger Zurückweisung und Vorurteile.

Immer wieder berichten Menschen mit Übergewicht, dass sie begonnen haben, sich in ihrer Umgebung für die Rechte Übergewichtiger einzusetzen, z. B. in einer Selbsthilfegruppe. Damit schlagen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Ihr Engagement hilft, auf die Stigmatisierung und Diskriminierung Übergewichtiger aufmerksam zu machen. Das Engagement gibt aber auch emotionalen Auftrieb durch das Gefühl, etwas Sinnvolles für andere zu tun.

Entstressen Sie Ihren Alltag

Sind Sie oft auf Nervennahrung angewiesen, wenn es stressig wird? Läge es dann nicht nahe, zu überlegen, wie Sie sich anderweitig im Alltag etwas Gutes tun können? Vielleicht sind Ihre Pfunde auch ein Fingerzeig, unnötige Belastungen und Stressquellen über Bord zu werfen und mit ungeklärten Konflikten endlich reinen Tisch zu machen.

Freundschaft schließen mit sich und der eigenen Figur

Versuchen Sie auch, sich nicht ständig wegen Ihres Gewichts in Frage zu stellen, sondern mit sich und Ihrer Figur Freundschaft zu schließen. Psychologen und Mediziner haben entdeckt, dass ein achtsamer Umgang mit sich selbst, eine Entschleunigung des Alltags, das bewusste Genießen beim Essen und aktive Entspannung zu mehr Ausgeglichenheit und Gelassenheit beitragen.

Wenn Sie einen Gang zurückschalten, sinkt der Stresspegel und damit das Risiko für Heißhungeranfälle und für eine weitere Gewichtszunahme. Eigentlich ist die Erkenntnis fast banal: Wenn Sie sich wohler fühlen, sind Sie nicht mehr so sehr auf Nervennahrung angewiesen und nehmen somit auch weniger Kalorien zu sich.

Der Umgang mit sich selbst

Beobachten Sie sich einmal selbst: Wie gestalten Sie im Alltag Ihr Essen? Dabei kann ein Essprotokoll helfen. Achten Sie darauf, was Sie zum Essen antreibt, was genau Sie essen und wann Sie mehr essen als eigentlich nötig. Beobachten Sie, inwieweit Sie das Essen genießen und welche Stimmungen Ihr Essverhalten beeinflussen.

Schon nach wenigen Tagen werden Sie einige Selbsterkenntnisse gesammelt haben – und damit Ideen, was Sie verändern könnten. Überlegen Sie, wie Sie Ihre Mahlzeiten gestalten können, um sie mehr genießen zu können. Eine Praline langsam auf der Zunge zergehen zu lassen, kann ein größerer Genuss sein, als eine ganze Schachtel zu verschlingen. Vielleicht genügt es schon, wenn Sie beim Essen Ihr Smartphone oder die Zeitung beiseitelegen und Radio oder Fernseher ausschalten.

Schaffen Sie sich einen Zeitkorridor, der nur für Ihre Entspannung reserviert ist. Vielleicht schließen Sie einfach nur die Augen, kommen zur Ruhe und spüren Ihren Körper. Vielleicht haben Sie mit Yoga oder einer anderen Entspannungsmethode gute Erfahrungen gemacht, oder es tut Ihnen gut, eine halbe Stunde pro Tag zu laufen.

Inneres und äußeres (Gleich-)Gewicht

Nehmen Sie chronisch schlechte Laune und Bedrücktheit ernst. Vielleicht zeigen Ihnen wiederkehrende Missstimmungen, dass Sie Unerledigtes anpacken oder eine Entscheidung endlich treffen sollten.

Anstatt sich mit heruntergezogenen Mundwinkeln mit Essen zu beruhigen, sollten Sie vielleicht besser darüber nachdenken, warum Sie missgestimmt sind und wie Sie sich entlasten können. Könnte es sein, dass inneres Gleichgewicht auch Ihrem äußeren Gewicht gut tut? Einen Versuch ist es wert!


Dipl.-Psych. Berthold Maier

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