Wie sieht die ferne Zukunft mit Diabetes aus?

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Wie sieht die ferne Zukunft mit Diabetes aus?

Haben Kinder mit Diabetes eine geringere Lebenserwartung als ihre Alterskameraden? Diese Frage stellen sich Eltern oft. Eine eindeutige und verlässliche Vorhersage für den Einzelnen gibt es nicht – wohl aber Studien, aus denen sich viel Positives herauslesen lässt.

Nachdem Eltern den ersten Schock der Diabetesdiagnose bei ihrem Kind etwas überwunden und die Insulintherapie erlernt haben, beginnen viele Mütter und Väter, sich Gedanken über die weitere Zukunft ihres Kindes zu machen. So fragten die Eltern von Mia (5 Jahre), wie die Lebenserwartung ihrer Tochter wohl durch den Diabetes beeinflusst würde: “Wird sie so lange und gut leben können wie ihre gleichaltrigen Freundinnen im Kindergarten?”

Eine verlässliche Antwort auf diese Frage ist schwierig. Niemand kann wie eine Wahrsagerin im Märchen in der Kristallkugel die Zukunft eines einzelnen Menschen vorhersehen. Wir wissen nicht, ob es in ein paar Jahren möglich sein wird, die Diabetesbehandlung zu vereinfachen oder die Stoffwechselstörung auf “technische Art” zu heilen. Auch kann niemand vorhersagen, in welchen Situationen Mia später großes Glück haben oder vor einer schwierigen Entscheidung stehen wird. Vielleicht ist es gut, dass wir alle nicht wissen, was uns unser Leben noch bringen wird.

Statistiken geben Hinweise, erlauben aber keine Vorhersagen

In den letzten Jahren wurden einige wissenschaftliche Ergebnisse zur Lebenserwartung von Menschen mit Typ-1-Diabetes veröffentlicht. Mit ihnen kann die Frage von Mias Eltern ein wenig genauer beantwortet werden. Die Studien wurden in Ländern durchgeführt, die alle über ein sogenanntes Diabetesregister verfügen, d. h. eine große, landesweite Datenbank, in der über viele Jahre Daten aller Einwohner mit Typ-1-Diabetes gesammelt werden. Diese Möglichkeit gibt es in Deutschland noch nicht.

Eine Studie wurde in Dänemark, eine in Schweden und eine weitere in Schottland durchgeführt. Alle Studien hatten das Ziel, die Lebenserwartung von Menschen mit Typ-1-Diabetes zu schätzen. Außerdem sollte geklärt werden, in welchem Alter und woran Menschen mit Diabetes versterben. Dazu wurden die Daten der letzten Jahre herangezogen, um Vorhersagen für die Zukunft zu treffen.

Dänemark: positive Entwicklungen

In der landesweit durchgeführten dänischen Studie wurden die Daten von 4.800 Erwachsenen mit Typ-1-Diabetes in den Jahren 2002 bis 2011 mit Überlebensdaten der dänischen Bevölkerung verglichen. Über die Jahre verlängerte sich die Lebenserwartung der Menschen mit Diabetes. Diejenigen, die keine Nephropathie (diabetische Nierenerkrankung) entwickelt hatten, unterschieden sich in ihrer Lebenserwartung nicht von der Allgemeinbevölkerung. Lag eine diabetische Nierenerkrankung vor, verkürzte sich die Lebenserwartung.

Eine schwedische Langzeitstudie – die Linköping Diabetes Complication Studie – konnte dazu zeigen, dass das Auftreten einer Nephropathie einerseits durch das Erbgut, andererseits aber auch durch die langfristige Stoffwechseleinstellung (HbA1c) beeinflusst wird. Bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, deren HbA1c meist unter 7,5 % lag, stellten die Forscher selbst nach 30 Jahren Diabetesdauer keine Nephropathie fest.

Schweden: Risiken durch schwere Ketoazidosen

In der schwedischen Registerstudie wurden fast 34.000 Erwachsene mit Typ-1-Diabetes über die Jahre 1998 bis 2011 mit Kontrollpersonen ohne Diabetes verglichen. In allen Altersgruppen verstarben Menschen mit Diabetes häufiger als Menschen ohne Diabetes – meist an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei den unter 30-jährigen waren schwere diabetische Ketoazidosen die häufigste Todesursache.

Die Autoren der Studie stellten dazu fest, dass besonders junge Leute, die Drogen konsumieren, psychische Probleme haben oder sich in schwierigen Lebenssituationen befinden, durch Ketoazidosen besonders bedroht sind. In höherem Lebensalter hängt die Lebenserwartung auch in Schweden wieder enger mit der diabetischen Nierenerkrankung zusammen.

Schottland: verkürzte Lebenserwartung

Die Schlussfolgerung der aktuellsten Studie aus Schottland ist auf den ersten Blick erschreckend: “Gegenüber Menschen ohne Typ-1-Diabetes (über 20 Jahre) verkürzt sich die Lebenserwartung bei Frauen mit Typ-1-Diabetes um etwa 13 Jahre und bei Männern um etwa 11 Jahre.” In die Studie wurden knapp 25.000 Erwachsene mit Typ-1-Diabetes eingeschlossen und von 2008 bis 2011 verfolgt.

Betrachtet man die Todesursachen im Einzelnen, dann fällt eine hohe Zahl von schweren Ketoazidosen und psychischen Problemen bei den unter 50-jährigen auf. Je älter die Menschen mit Diabetes in dieser Datenbank waren, umso mehr näherte sich deren Lebenserwartung an die der schottischen Bevölkerung allgemein an. Im hohen Alter war die Lebenserwartung mit Typ-1-Diabetes sogar länger.

Diese Ergebnisse können nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragen werden. Aktuelle Vergleichsstudien zeigen, dass die Qualität der Stoffwechseleinstellung in Schottland im Mittel einem HbA1c von 9 % entspricht. Die Langzeitbehandlung, die Versorgung mit Insulinpumpen und die Schulung entsprechen nicht dem hohen Niveau, das in den letzten Jahren in Deutschland erreicht wurde.

Hoffnung für Mia

Für junge Leute und Eltern mag es emotional schwierig sein, sich mit Todesursachen bei Diabetes zu beschäftigen. Aber allein diese Daten erlauben uns, die Lebenserwartung mit der Stoffwechselstörung einzuschätzen.

Wägt man die Ergebnisse der verschiedenen Studien ab, so sind Mias Zukunftschancen positiv. Warum? Mia wird von Anfang an gut mit einer Insulinpumpe behandelt, ihre Eltern sind gut geschult und das Diabetesteam ist erfahren. Ihr HbA1c-Wert ist meist unter 7,5 Prozent, die Gesundheit der Nieren wird überwacht, und Mia entwickelt sich prima – körperlich und seelisch. Ihre Eltern kümmern sich und schaffen so die besten Voraussetzungen dafür, dass Mia später als junge Frau seelisch stabil sein wird und ihren Diabetes sicher managen kann.

Sie wird spätestens dann neue technische oder medikamentöse Behandlungsmethoden nutzen können, von denen wir heute noch keine Vorstellung haben. Oder hätten Sie vor 20 Jahren gedacht, dass heute jedes Kind mit den Großeltern “skypen” oder Hausaufgaben mit Hilfe von “Apps” machen kann?

Die Goldene Kohorte

In den USA gibt es eine große Gruppe von Menschen, die seit 50, 60 und sogar schon seit 70 Jahren mit Typ-1-Diabetes lebt. Sie werden die Goldene Kohorte genannt und arbeiten eng mit den Wissenschaftlern des Joslin Diabetes Center (www.joslin.org) in Boston/Massachusetts zusammen, um das Geheimnis ihres langen Lebens mit Diabetes aufzuklären.

Ein Ergebnis der Untersuchungen überrascht: Ihre Blutzuckereinstellung war und ist akzeptabel (mittleres HbA1c: 7,6 %), aber nicht ideal. Dafür sind alle Nichtraucher, haben normale Blutdruck- und Blutfettwerte, sind normalgewichtig und viele stammen aus langlebigen Familien.

Die Kombination aus vielen günstigen Verhaltensweisen, gesundem Leben und etwas Glück scheint wichtiger zu sein als nur das Streben nach einem möglichst idealen Blutzucker- oder HbA1c-Wert. Die Erfahrungen der Goldenen Kohorte können deshalb Mia und ihren Eltern helfen, gelassen zu bleiben, selbst “wenn der Blutzucker manchmal macht, was er will.”

Fazit

Viele Eltern eines Kindes mit Typ-1-Diabetes möchten wissen, ob ihr Kind wahrscheinlich ähnlich lange leben wird wie die gleichaltrigen gesunden Freunde. Große Registerstudien aus Schweden, Dänemark und Schottland zeigen, dass Eltern positiv in die Zukunft blicken können, wenn ihr Kind gut behandelt wird, gute Werte hat und der Diabetes gut gemanagt wird. Auch die “Goldene Kohorte” macht Mut: Diese Gruppe von Menschen lebt schon seit vielen Jahrzehnten mit Typ-1-Diabetes – oft mit erstaunlich wenigen Komplikationen durch den Diabetes.


Prof. Dr. Karin Lange (Dipl.-Psych.)
Leiterin Medizinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover,
E-Mail: Lange.Karin@MH-Hannover.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2016; 9 (1) Seite 12-14

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