Wie viel Unterstützung braucht mein Kind?

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Wie viel Unterstützung braucht mein Kind?

Wie viel und welche Unterstützung für ein Kind mit Diabetes ist angemessen, notwendig und sinnvoll? Und wann schlägt Unterstützung in Überfürsorge um, die das Kind letztendlich unselbständig bleiben oder unselbständig werden lässt? Gedanken und Anregungen für den Alltag von Professor Karin Lange.

Mit jedem neuen Lebensabschnitt ihres Kindes fragen sich viele Eltern, was sie ihrem Kind nun schon zutrauen können und wo es Hilfe oder Kontrolle braucht.

Gelingt die Eingewöhnung in den Kindergarten oder weint das Kind jedes Mal bitterlich, wenn sich die Eltern für einige Stunden verabschieden? Kann es den Schulweg mit zwei großen Kreuzungen als Erstklässler sicher allein gehen oder sollte es mit dem Auto gefahren werden? Kann man einem Fünftklässler zutrauen, den längeren Schulweg mit Bus und U-Bahn durch die halbe Stadt sicher zu bewältigen? Und was ist mit 17-Jährigen, die zusammen mit Freunden allein für ein Wochenende nach Berlin fahren möchten?

Sicherheitsbedürfnis steigert oft das Risiko

Auch ohne Diabetes sind hier heute viele Eltern verunsichert. Einige möchten ihr Schulkind bis zum Platz in die Klasse begleiten oder verfolgen alle Aktivitäten ihres Nachwuchses in sozialen Netzwerken oder über Track-Funktionen seines Smartphones.

Die Grundschule in meiner Nachbarschaft hat darauf mit einer strengen Regel reagiert: Eltern dürfen das Schulgelände nicht mehr betreten. Der Grund: die Sicherheit der Kinder. Wenn sich zu viele Erwachsene auf dem Schulgelände aufhalten, fallen Menschen, die Kindern schaden könnten, nicht mehr auf. So würde das übergroße Sicherheitsbedürfnis einiger Eltern für alle Kinder ein erhöhtes Risiko bedeuten. Diese Überfürsorge kann Kinder gefährden.

Eine individuelle Lösung finden

Für Eltern von Kindern mit Diabetes ist es noch schwieriger, das richtige Maß an Fürsorge zu finden. Die folgenden Gedanken sollen Anregungen dazu geben, wie Eltern eine passende Lösung für ihr Kind finden können:

1. Therapieziel: normale körperliche und seelische Entwicklung

Die normale seelische Entwicklung gepaart mit einem stabilen Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen ist eine zentrale Voraussetzung für ein glückliches und langes Leben – auch mit Diabetes. Dazu gehört die Inklusion eines Kindes mit Diabetes, d. h. es ist ein Kind wie alle anderen. Die Stoffwechselstörung sollte mitlaufen und kein Grund für eine Sonderstellung oder Ausgrenzung sein.

Mit klaren Absprachen und aufgeschlossenen, idealerweise geschulten Lehrern kann z. B. der Start ins Schulleben gut gelingen. Es gibt wenige, klare Regeln, die ein Erstklässler verstehen und einhalten kann; die Lehrkraft ist informiert und nicht durch zu hohe Anforderungen an die Diabetesbehandlung überfordert; die Eltern vertrauen ihrem Kind und stärken so sein Selbstbewusstsein; er ist ein ganz normaler Schüler.

2. Zutrauen zum Kind:

Einige Eltern, deren Kind schon sehr früh an Diabetes erkrankt ist, fühlen sich unwohl, wenn sie den Sohn oder die Tochter nicht vollständig unter Kontrolle haben. Damit übertragen sie ihre eigene Unsicherheit auf ihr Kind. Viele dieser Eltern sind überrascht, wie schnell und unkompliziert sich Kinder, z. B. im Kurs “Fit für die Schule”, mit anderen Kindern verstehen und spielen, ohne die Eltern zu vermissen.

Gleichzeitig beobachten die Diabetesberaterinnen bei jedem Kurs, wie zuverlässig die allermeisten fünf- bis sechsjährigen Kinder sich an wichtige Regeln halten, z. B. die Pumpe nur mit einem Erwachsenen bedienen, bei Hypo-Anzeichen oder CGM-Alarm sofort Bescheid sagen oder immer Traubenzucker dabeihaben (s. “Nachgefragt Psychologie”) .

Über ähnliche Erfahrungen berichten Lehrkräfte von Jugendlichen mit Diabetes, die zum erstem Mal allein an einer Klassenfahrt teilnehmen. Das ehrliche Zutrauen der Eltern motiviert die meisten Jugendlichen, sich während der Unternehmung gut um den Diabetes zu kümmern – auch diejenigen, die sich Zuhause etwas weniger engagieren.

3. Eigene Ängste hinterfragen, z. B. vor Hypoglykämien

Betrachtet man die in den letzten Jahren deutlich gesunkene Zahl schwerer Hypoglykämien, so können Eltern wirklich beruhigt sein. Seitdem viele Kinder nun auch noch ein CGM-System tragen, lässt sich diese Komplikation noch sicherer vermeiden. Und wenn ein Kind wirklich einmal zu niedrig liegen sollte, ist es immer von Freunden oder Lehrkräften umgeben, die helfen oder Hilfe holen können.

4. Vorsicht Perfektion!

Die Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung bieten enorme Vorteile im Alltag. Kaum ein Patient, der sich einmal daran gewöhnt hat, möchte darauf je wieder verzichten. Dadurch, dass Eltern nun das ständige Auf und Ab der Glukosewerte vor Augen oder auf ihrem Smartphone haben, besteht manchmal die Gefahr, dass sie ständig durch kleine Insulingaben oder Nahrung versuchen, noch “besser” zu werden.

Oft führen diese Aktionen zu noch mehr Schwankungen, immer jedoch zu einer unnötigen Belastung des Kindes. Dieser Drang nach Perfektion überfordert alle Schulkinder, die Lehrkräfte und auch viele der Pflegekräfte und Begleiter in Schulen. Es sollte ausreichen, die Glukosewerte während der Schulzeit im Nachhinein auszuwerten und daraus Schlüsse für die Therapie der nächsten Tage zu ziehen.

5. Einfache kindgerechte Therapien

Noch in den 1980er Jahren sind Kinder mit Diabetes ohne jede Selbstkontrolle allein in die Schule gegangen – es gab einfach noch keine Blutzuckermessung, und spezielle Betreuer in der Schule waren undenkbar. Dafür gab es ein gesundes Frühstück zu Hause und ein zweites Frühstück in der Schule, das zur Insulininjektion morgens passte. Der Diabetes beherrschte den Alltag der Kinder damals eher weniger als heute.

Selbstverständlich möchte niemand wieder zurück in diese Zeit, aber einige Erfahrungen könnten den Alltag auch heute noch erleichtern: Ein Vollkornbrot zum Frühstück lässt den Zuckerspiegel längst nicht so steil ansteigen wie Cornflakes oder ähnliche Produkte, die oft zu 90 Prozent aus sehr schnell wirksamen Kohlenhydraten bestehen und wie Traubenzucker wirken. Und eine vollwertige Zwischenmahlzeit (Obst, aber kein Saft; gut belegtes Brot statt Kuchen oder Süßigkeiten vom Bäcker) erfordert sehr viel seltener eine komplizierte Anpassung der Insulindosis wegen viel zu hoher Werte. Selbstverständlich bedeutet dies einen Verzicht auf zu viele Süßigkeiten – aber dies hilft auch allen Menschen ohne Diabetes, gesund zu bleiben.

Kindgemäße Therapien beziehen sich auch eine auf sinnvolle Alarmeinstellung beim CGM-System. Selbstverständlich sollte das Kind bei Hypos gewarnt werden. Alle anderen Alarme sind nur dann sinnvoll, wenn ein Kind selbst handeln und darauf reagieren kann. Zu häufige Alarme verunsichern jedes Kind, wenn es nicht weiß, was es tun kann und darf. Sie lenken das Kind nur vom Unterricht ab und erschweren das Lernen.

6. Nachteile durch Schulbegleitung bedenken

Die Schulbegleitung eines Kindes mit Diabetes verringert vor allem die Ängste der Eltern. Für Kinder bedeutet diese Person in erster Linie, dass sie nicht so sind wie alle anderen und immer auf sie “aufgepasst” werden muss. Das Selbstvertrauen und das Vertrauen in die Lehrer kann beeinträchtigt werden. Die Kinder verlassen sich zunehmend auf die Begleitung und nehmen ihren Diabetes passiv hin, anstatt sich altersgemäß selbstverantwortlich zu erleben und stolz auf die eigene Leistung zu sein. Die Sonderrolle birgt auch immer die große Gefahr, dass das Kind ausgeschlossen und gehänselt wird.

Diese Nachteile sollten mit den Vorteilen für ein Kind abgewogen werden, das mit seiner Therapie aus verschiedenen Gründen in der Schule überfordert ist und keine angemessene Unterstützung durch Lehrkräfte und/oder seine Eltern im Schulalltag erhalten kann. Jedes Kind sollte so viel externe Hilfe wie nötig, aber auch so wenig wie möglich erhalten, um sich als Kind mit Diabetes als ein Kind wie alle anderen zu erleben und sich so “normal” wie möglich zu entwickeln.

AGPD-Statement zur Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte
Kinder mit Diabetes mellitus Typ 1 brauchen Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Therapie in der Schule. Diese Notwendigkeit wird durch die Schulpflicht einerseits und die Sorge um das gesundheitliche Wohl andererseits geschaffen. Damit pädagogische Fachkräfte wie Lehrer*innen, Erzieher*innen, Schulbegleiter*innen diese Unterstützung übernehmen und die von den Erziehungsberechtigten übertragene Therapie begleiten können, benötigen sie eine strukturierte und kindspezifische Schulung durch Diabetesberater*innen des behandelnden Diabeteszentrums (1,2).

Die Inklusion von Kindern mit Diabetes mellitus Typ 1 in der Schule gestaltet sich teilweise sehr schwierig. Eine Grundvoraussetzung, damit ein Kind mit Diabetes mellitus Typ 1 die Schule oder die Kita besuchen kann, ist geschultes Personal vor Ort. Da dieses in der Regel fehlt und es diesbezüglich keine einheitlichen Regelungen und Verantwortlichkeiten gibt, engagieren sich derzeit vielerorts Menschen und Initiativen, um pädagogischen Fachkräften das Wissen zu Typ 1 Diabetes mellitus zu vermitteln. Die meist offenen Gruppenveranstaltungen erreichen viele pädagogische Fachkräfte und tragen dazu bei, überhaupt erste Informationen über die Betreuung eines Kindes mit Diabetes zu erhalten, Ängste abzubauen und eine offene Haltung zum Dia­betes mellitus Typ 1 einzunehmen.

Allerdings ersetzen diese Veranstaltungen nicht die kindspezifischen Beratungen und Schulungen in der Schule oder in der Kita, die eine wichtige Voraussetzung zur Inklusion eines Kindes mit Diabetes darstellen und mit dem Einverständnis und in Absprache mit den Erziehungsberechtigten und den behandelnden Diabeteszentren durchgeführt werden.

Eine optimale Betreuung des Kindes mit Diabetes durch eine qualifizierte Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte kann aus unserer Sicht nur erreicht werden, wenn individuelle Absprachen zum konkret betroffenen Kind getroffen werden können. Diese sollten an den Ablauf des Schulalltages angepasst sein (1), sowie auf den Wünschen und Erfahrungen der Erziehungsberechtigten ebenso basieren, wie auf den Empfehlungen der behandelnden Diabeteszentren. Dabei sollten nicht nur die zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten der Schule einbezogen werden, sondern es sollte auch evaluiert werden, welche Möglichkeiten zur Unterstützung des Kindes in der Schule, durch das dort verortete pädagogische Personal, realisierbar sind. Die Absprachen und Handlungsempfehlungen sollten außerdem in einem individuellen Plan verschriftlicht werden (3).

Wir empfehlen deshalb zur Qualitätssicherung der Weiterbildungen (Schulungen) von pädagogischen Fachkräften und zur Förderung einer gelungenen Inklusion von Kindern mit Diabetes die Finanzierung der kindspezifischen individuellen Weiterbildungen für pädagogische Fachkräfte aus öffentlicher Hand voranzubringen.

Die Literatur zum diesem Statement können Sie auf der Internetseite der AGPD einsehen: diabetes-kinder.de/statements.html


von Prof. Dr. Karin Lange
Diplom-Psychologin,
Leiterin Medizinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover
E-Mail: Lange.Karin@MH-Hannover.de

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2018; 11 (2) Seite 8-11

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