Zucker im Kopf: das private Schicksal zum Beruf gemacht

4 Minuten

© Sandra Zavoianu
Zucker im Kopf: das private Schicksal zum Beruf gemacht

Sandra Neumann (42) aus Berlin hat zwei Kinder (16 und 13 Jahre), die beide nacheinander an Typ-1-Diabetes erkrankten. Sie weiß genau, wie es sich anfühlt, wenn sich im Alltag alles um Kohlenhydrate, Insulin, Blutzuckermessungen und Angst vor Über- oder Unterzuckerungen dreht. Im Interview erzählt die Heilpraktikerin, weshalb sie ihre Praxis „Zucker im Kopf“ genannt hat und wie sie Menschen mit Typ-1-Diabetes und ihren Angehörigen helfen kann.

Diabetes-Journal: Was verbirgt sich hinter dem Namen deiner Praxis?
Sandra Neumann:
Als bei meiner Tochter Emily 2008 im Alter von fünf Jahren Typ-1-Diabetes festgestellt wurde, arbeitete ich noch 40 Stunden pro Woche. Wir wurden im Krankenhaus zwar gut geschult, doch auf den Alltag waren wir nicht vorbereitet. Mir fehlte jemand, der mich begleitet und mir vermittelt, dass er mich versteht.

Im Büro saß ich ständig auf heißen Kohlen, weil ich nicht wusste, ob in der Kita alles gut läuft. Ich hatte schlaflose Nächte, ständig Angst, fühlte mich immer auf Abruf bereit und habe auf der Arbeit und im Alltag nur noch halb so viel geschafft. Ich hatte irgendwie nur noch „Zucker im Kopf“. Wer selbst Diabetes hat oder einen betroffenen Menschen begleitet, der kennt dieses Gefühl. Daraus entstand der Name meiner Praxis.

DJ: Welche Art von Hilfe bietest du an?
Neumann:
Vor vier Jahren habe ich eine Ausbildung zur Heilpraktikerin absolviert und mich in diversen Weiterbildungen auf psychotherapeutische Beratung spezialisiert. Menschen mit Typ-1-Diabetes und ihre Angehörigen finden bei mir mentale Begleitung und Stärkung, wenn die Belastung durch den Diabetes überhandnimmt.

Wenn es z. B. nur noch zum Streit mit dem betroffenen Kind, Jugendlichen oder Erwachsenen kommt. Wenn man vor lauter Sorgen oder Angst vor der Zukunft nicht mehr schlafen kann. Wenn das ständige Kümmern um stabile Blutzuckerwerte die letzte Kraft und Energie rauben und man einfach nicht mehr weiter weiß. Schuldgefühle, Hilflosigkeit und Verunsicherung gehören zu den am meisten beschriebenen Problemen in meiner Praxis. Da setzt meine Unterstützung an.

Sandra Neumann: „Es geht darum, dass der Diabetes nicht die Kontrolle über das eigene Leben übernimmt.“

DJ: Ersetzt dein Angebot eine klassische Diabetesschulung?
Neumann:
Auf gar keinen Fall! Diabetesschulungen sind unverzichtbar, doch sie sind in erster Linie fachliche Anleitungen. Die Betroffenen bekommen dort enorm viel Input, sie müssen erst einmal funktionieren. Ihnen bleibt anfangs gar keine Zeit zu verarbeiten, dass sie selbst oder ihr Kind auf einmal für den Rest des Lebens schwerkrank sind. Diese Dinge kommen dann später hoch, wenn der Alltag wieder beginnt.

Ich kenne diese Ängste und Gefühle aus eigenem Erleben, denn mit meinen beiden Kindern habe ich mittlerweile selbst fast 12 Jahre praktische Erfahrung mit Diabetes. Es klingt vielleicht banal, aber es geht in meiner Praxis vor allem um Zuhören und Reden. Gemeinsam überlegen wir, welche Schritte man gehen kann, damit der Dia­be­tes nicht die Kontrolle über das eigene Leben übernimmt. Und selbst wenn er sie schon übernommen hat – es gibt viele Wege, das Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

DJ: Was beobachtest du im Kontakt mit deinen Patienten?
Neumann:
Der alltägliche Umgang mit einer schweren Erkrankung wie dem Diabetes stellt für die meisten Menschen eine besondere Herausforderung dar. Wenn z. B. ein Kind Typ-1-Diabetes hat, bleibt die Verantwortung für das Diabetesmanagement häufig allein an den Müttern hängen.

Viele Mütter glauben, dass sie alles perfekt hinkriegen müssen – und suchen die Fehler bei sich, wenn die Glukosewerte trotz moderner Technik aus der Reihe tanzen oder das Kind sich verweigert. Typisch Frau irgendwie. Aber Menschen sind halt keine Maschinen. Der Diabetes verlangt wirklich sehr viel von uns. Und wenn etwas schiefläuft, liegt das auch oft am Umfeld.

Trotz moderner Technik – Menschen funktionieren nicht wie Maschinen; so auch Sandra Neumanns Tochter Emily

DJ: Woran hakt es denn im Umfeld der Betroffenen?
Neumann:
Es ist für die Angehörigen sehr belastend, sich im Alltag ständig mit dem gefährlichen Halbwissen ihrer Umgebung auseinandersetzen zu müssen. Jedes Kind mit Diabetes musste sich in Kita oder Schule wohl schon mindestens einmal einen blöden Spruch anhören: „Du hast wohl zu viel Zucker gegessen“ oder. „Meine Oma hatte auch Diabetes, die ist schon gestorben“ (…). Ständig kämpft man gegen Vorurteile, muss trösten oder sich rechtfertigen. Das verletzt und kostet Kraft.

DJ: Wie läuft eine Behandlung bzw. Beratung bei dir konkret ab?
Neumann:
Menschen mit Typ-1-Diabetes und ihre Angehörigen können Einzel-, Paar- oder Familiensitzungen mit mir vereinbaren. (…). Leider übernimmt die gesetzliche Krankenkasse die Kosten für die Behandlung nicht, bei privaten Krankenversicherungen oder Zusatzversicherungen lohnt es sich nachzufragen. Daneben biete ich in der Praxis zweimal im Monat eine kostenlose Selbsthilfegruppe für Angehörige an.

Außerdem habe ich zahlreiche Anfragen aus ganz Deutschland erhalten, so dass ich Onlineberatung per Videokonferenz in mein Angebot mit aufgenommen habe. Weitere Informationen dazu findet man auf meiner Internetseite. Damit können sich auch Patienten, die nicht in der Nähe der Praxis wohnen, jederzeit gern an mich wenden. Und Mütter müssen nicht für jeden Termin einen Babysitter organisieren.

In guten wie in schlechten Werten

Sandra Neumann und ihre beiden Kinder sind eine der insgesamt 15 Familien und Paare, deren Geschichte das Mutmach-Buch „In guten wie in schlechten Werten“ erzählt. Es lässt vor allem die Lebenspartnerinnen und -partner, Kinder und Eltern von Menschen mit Diabetes zu Wort kommen.

Sie berichten, wie schwankende Glukosewerte auf einmal ihre Beziehung prägen, worüber es Streit gibt und welche Herausforderungen sich im Umgang mit Diabetes auftun. Aber auch, wie die Erkrankung sie zum Teil näher zusammengeführt und gestärkt hat. Für Sandra Neumann war die Mitarbeit an dem Buch ein wichtiger Impuls, ebenfalls ein Angebot mit einem Fokus auf Menschen mit „Diabetes Typ F“ aufzubauen und auf diese Weise eine Lücke zu schließen.

Das Buch ist erschienen im Kirchheim-Verlag und bestellbar über www.kirchheim-shop.de


Interview: Antje Thiel
E-Mail: info@antje-thiel.de

Website: www.antje-thiel.de
Blog: suesshappyfit.blog

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (9) Seite 48-49

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