Typ 1 trifft Typ 2 – ein Kulturschock

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Typ 1 trifft Typ 2 – ein Kulturschock

Wie gestaltet sich das Leben mit Typ-1- im Unterschied zu Typ-2-Diabetes? Was sind Gemeinsamkeiten und wie können wir uns gegenseitig helfen? Mit diesen Fragen habe ich mich mit Gabi getroffen, die seit 2017 Typ-2-Diabetes hat. Wir saßen in ihrem Wohnzimmer und unterhielten uns über unsere Diagnosen, über unsere Erlebnisse mit unseren Krankheiten, über unseren Alltag.

Gabi im Sommer 2018 mit 20 kg weniger Gewicht, ich im Jahr 2018 nach etwa 19,5 Jahren Diabetes / Quelle: Stephanie Hill

Grundverschieden

Unsere Unterhaltung glich einem Austausch zweier völlig unterschiedlicher Kulturen. Staunend sitzen wir nebeneinander. Dass wir so verschieden sind, hatten wir nicht gedacht. Sie zählt Fettpunkte zum Abnehmen, ich berechne anhand von Kohlenhydraten und Broteinheiten meine Insulineingabe. Sie nimmt Tabletten, ich habe eine Insulinpumpe. Sie meidet Zucker, ich akzeptiere ihn in meinem Essen. Sie hat Typ-2-Diabetes, ich habe Typ-1-Diabetes. Unsere Krankheiten haben den gemeinsamen Familiennamen Diabetes. Doch wir sind überrascht nach unserem Austausch, dass wir im Grunde völlig verschiedene Krankheiten haben, die abgesehen von dem Familiennamen nur auf den zweiten oder sogar erst dritten Blick etwas miteinander zu tun haben. Die ein oder andere Gemeinsamkeit und Möglichkeit, uns gegenseitig zu unterstützen, entdeckten wir dann aber doch noch.

Diagnose mit und ohne Sofortmaßnahmen

Doch beginnen wir von vorn: „Wir müssen reden“, sagte die Hausärztin zu Gabi, als sie feststellte, dass das HbA1c deutlich zu hoch war. Gabi verstand nicht, schließlich verspürte sie lediglich etwas mehr Durst als sonst, hatte aber keine weiteren Symptome. Ihre Werte waren damals etwa 400 mg/dl (22,2 mmol/l) hoch. „Sie haben Altersdiabetes“, sagte ein Diabetologe. Gabi fiel aus allen Wolken, denn sie war doch erst 47 Jahre alt.

Meine Diagnose verlief deutlich anders. Ich bekam Diabetes Typ 1 im Jahr 1999. Damals war ich neun Jahre alt. Mein Blutzucker war nicht mehr messbar, ich kam sofort ins Kinderkrankenhaus. Dort erhielt ich Infusionen und nach einigen Stunden informierten mich die Ärzte, dass sie nun alles im Griff hätten und mein Blutzucker 612 mg/dl (34,0 mmol/l) sei.

Gabi im Sommer 2017 vor ihrer Diagnose, ich 1997 zwei Jahre vor meiner Diagnose / Quelle: Stephanie Hill

Zwei Körper, zwei Probleme

Ob 612 mg/dl (34,0 mmol/l) oder 400 mg/dl (22,2 mmol/l) – es wunderte mich zunächst, dass Gabi bei ihrer Diagnose keine Sofort-Maßnahmen wie eine Spritze Insulin erhielt. Schließlich ist auch ein Wert von 400 mg/dl (22,2 mmol/l) deutlich zu hoch. Doch Insulin hätte Gabi voraussichtlich gar nicht geholfen. Denn während ich kein Insulin mehr produzieren kann, stellt ihr Körper genügend Insulin her. Ihre Zellen sind jedoch resistent gegen das Insulin geworden und daher können die Insulinmoleküle nicht ihrem Job nachgehen, die Zellen für die Zuckermoleküle zu öffnen.

Die Angst vor Folgeerkrankungen als Therapiemotor

Nach der Diagnose wurde Gabi auf Metformin eingestellt und muss künftig davon eine Tablette nehmen. Was Diabetes Typ 2 für Gabi sonst noch in ihrem Alltag bedeutet, hat sie erst in einem Kurs erfahren, den sie wenige Tage nach ihrer Diagnose besuchen musste. Ihre Krankenkasse gibt den Kurs als Pflicht vor, den Gabi in der Praxis ihres Diabetologen besuchte. Als sie dort das Thema Folgeerkrankungen besprachen, war Gabi schockiert. Darüber hinaus kannte sie jemanden, der aufgrund von Diabetes erblindete. An diesem Tag entschied sie, sich strikt an die Therapie und Ernährungsvorgaben zu halten.

Während ihre Therapie hauptsächlich aus einem neuen Ernährungsplan bestand, spritzte ich nach meiner Diagnose künftig mindestens fünf Mal am Tag. Dabei verwendete ich zwei verschiedene Insuline. Mein Ehrgeiz für beste Blutzuckerwerte ist seither ebenso groß. Denn ich finde es wichtig, eine gute Lebensqualität mit bestem Wohlbefinden zu genießen und zudem Folgeerkrankungen zu vermeiden.

Sie nimmt Tabletten (Metformin), ich musste erstmal spritzen nach meiner Diagnose / Quelle: Stephanie Hill

Von Kohlenhydraten und Fetten

In ihrer Schulung lernte Gabi, wie sie ihre Ernährung gestalten sollte. Das bedeutet wenig Fett, viel Gemüse, keinen Zucker und vor allem Vollkornprodukte zu sich zu nehmen. „Du musst gar nicht wissen, wie viele Kohlenhydrate du isst? Kommt es da nicht auch darauf an, dass du nicht zu viele Nudeln zu dir nimmst?“, fragte ich verblüfft. Gabi verneinte. Statt Kohlenhydrate zusammenzuzählen und in Broteinheiten umzurechnen, achtet sie darauf, wenig Fett und keinen Zucker zu essen. Sie experimentiert mit Kokosblütenzucker sowie anderen Alternativen und gönnt sich nur in seltenen Fällen ein kleines Stück Schokolade zum Kaffee.

Der Freifahrtschein für ungesundes Essen

Ein Leben fast ohne Schokolade finde ich sehr schade und bin froh, dass ich im Grunde essen kann, was ich möchte, zumindest wenn ich es will. Andererseits haben Menschen mit Typ-1-Diabetes dadurch eine Art Freifahrtschein für ungesundes Essen. Sie können sich dank Pumpe so viel Insulin per Knopfdruck eingeben, wie sie wollen, und können damit stark zuckerhaltige Lebensmittel rechtfertigen. Doch gesunde Ernährung ist für jeden wichtig, ob Diabetes Typ 1 oder 2. Zugleich bewundere ich Gabis Wissen über Lebensmittel und ihre Disziplin und Motivation, dank der sie ihre Ernährung umgekrempelt hat. Als ich Gabi erzählte, wie ich meine Insulindosis berechne, war sie hingegen froh, auf das Rechnen verzichten zu können.

Gabi vermeidet Zucker und isst viel Gemüse, ich darf Zucker essen / Quelle: Stephanie Hill

Messen, optimieren und damit sogar motivieren

Lange Zeit führte Gabi ein Ernährungsprotokoll. Zudem hat Gabi in der Apotheke ein Messgerät gratis bekommen. Die Teststreifen bezahlt sie hingegen selbst. Damit misst sie sich vor und nach dem Essen am Morgen und fand so heraus, welche Lebensmittel ihr guttun und was sie besser meiden sollte. Diesem Protokoll verdankt es Gabi, dass ihr Blutzucker heute dem eines Gesunden gleicht. Ohne die tägliche Messung hätte Gabi ihren Blutzuckerspiegel nicht optimieren können. Zudem beschreibt sie, wie sie die nach und nach besser werdenden Werte motiviert haben, weiterhin auf einen gesunden Lebensstil zu achten.

Mangelnde Motivation für die Therapie bei Typ-2-Diabetes? Kein Wunder!

Für mich als Typ-1-Diabetikerin ist es unvorstellbar, nur einmal am Tag zu messen oder Teststreifen selbst zahlen zu müssen. Ich bin dankbar, die ständige Kontrolle zu haben, und das ist im Unterschied zu Gabi bei mir auch notwendig. Gleichzeitig wird mir klar: Auch bei Diabetes Typ 2 ist der Therapieerfolg maßgeblich von der Motivation abhängig. Abgesehen von der Änderung des eigenen Lebensstils hin zu einem gesünderen ist es eine Kostenfrage, sich Teststreifen gönnen zu können. Nicht jeder kann sich Teststreifen leisten und selbst wenn, sind die zusätzlichen Kosten vielleicht eine Motivationshürde für den einen oder anderen.

Das ist zwar nicht Gabis Messgerät, sondern meins, aber sie misst mit selbstbezahlten Teststreifen, während ich den freeStyle Libre nutze und das bezahlt bekomme / Quelle: Stephanie Hill

Sport für sich entdeckt

Zu einem gesunden Lebensstil gehört auch Sport und Gabi begann deshalb nach ihrer Diagnose mit dem Laufen. „Durch das Laufen mit dem Lauftreff habe ich viele interessante Menschen kennen gelernt. Wir lachen viel zusammen und ich habe auf diese Weise festgestellt, dass mir Bewegung guttut und sogar richtig Spaß machen kann“, erzählt sie. So stellen wir fest, dass ihre Diagnose sie zu einem gesünderen Leben gebracht hat, und darüber hinaus hat sie Freunde gewonnen und Momente voller Spaß und Freude erlebt.

Hat Diabetes was Gutes?

Selbstverständlich ist jede Diagnose erstmal negativ, doch an dieser Stelle kann man ihr auch viel Positives abgewinnen. Hier haben wir trotz der großen Unterschiede unseres Diabetes-Managements eine Gemeinsamkeit: Durch den Diabetes leben wir beide bewusster, achten auf unseren Körper und nehmen ihn besser wahr.

Gemeinsam motiviert bleiben

Mein Fazit aus unserem Gespräch: Auf den ersten Blick sind Diabetes Typ 2 und Typ 1 zwei grundlegend unterschiedliche Erkrankungen. Während Gabi im Grunde gar nicht merkt, dass sie eine Diabetes-Erkrankung hat, spüre ich das deutlich und zwar jeden Tag. Das, was uns jedoch wirklich zusammenschweißt, sind der gemeinsame Name Diabetes, unsere Angst vor Folgeschäden, die Selbstwahrnehmung und Liebe zu unserem Körper, unsere Motivation, die wir ständig versuchen aufrechtzuerhalten, und unser Ziel, perfekte Blutzuckerwerte zu erreichen.

Ich bin dankbar für dieses Gespräch, beeindruckt von Gabis Lebensfreude und Motivation und zugleich hoffnungsvoll, dass wir trotz der unterschiedlichen Erkrankungen uns gegenseitig motivieren können und vielleicht sogar voneinander profitieren können.


In der Februar-Monatsaktion „#TypenTalk“ fördern wir aktiv die Kommunikation zwischen verschiedenen Diabetes-Typen.

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