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Auch in diesem Jahr waren die #dedoc° voices wieder auf dem Diabetes Kongress in Berlin. Wie Menschen mit Diabetes eine solche Fachtagung erleben, berichten sie hier aus ihrer Perspektive.
Vom 8. bis 11. Mai fand in Berlin der Diabetes Kongress, die 58. Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), statt. Auch in diesem Jahr waren die #dedoc° voices wieder mit dabei – Stipendiatinnen und Stipendiaten der #dedoc° Diabetes Online Community (siehe Kasten). Wie erleben Menschen mit Diabetes eine solche Fachtagung, bei der Patienten zwar thematisiert, aber selten involviert werden? Das Diabetes-Journal und der #dedoc° Blog lassen die #dedoc° voices aus ihrer eigenen Perspektive berichten.
➤ zum zweiten Teil der Berichte der #dedoc° voices vom Diabetes Kongress
#dedoc° ist ein internationales Netzwerk von und für Menschen mit Diabetes, gegründet 2012 in Berlin. Zu unseren wichtigsten Projekten zählen der Virtuelle Weltdiabetestag am 14. November, unsere #dedoc°-Symposien und #docdays° und unser #dedoc° voices-Stipendienprogramm: Seit 2020 hat dieses bereits mehr als 300 engagierten Menschen mit Diabetes aus aller Welt die Teilnahme an wissenschaftlichen Kongressen von ADA, ATTD, DDG, DUK, EASD und ISPAD ermöglicht. „Es ist gut und wichtig, dass wir das #dedoc° voices-Stipendienprogramm auch in diesem Jahr wieder beim Diabetes Kongress etablieren konnten!”, so Bastian Hauck, Gründer von #dedoc°.
Das biologische Geschlecht hat einen Einfluss auf die Physiologie des Körpers. Menschen mit Typ-1-Diabetes machen jeden Monat die Erfahrung, dass Geschlechtshormone die Insulin-Empfindlichkeit enorm beeinflussen – die Pubertät verläuft für Mädchen und Jungen unterschiedlich turbulent. Die Menopause der Frauen gerät erst so langsam in den Blick der Forschung – aber auf dem Diabetes Kongress dieses Jahr gab es gleich ein ganzes Symposium rund um das Thema Geschlechts-spezifische Unterschiede. Es ist also Bewegung im Thema.
Um Bewegung ging es auch in einem Vortrag: Die Muskulatur von (genetisch) männlichen und weiblichen Menschen reagiert initial unterschiedlich auf Training. Nach mehreren Wochen sind aber für beide Gruppen ähnliche Effekte sichtbar. Ein Vortrag war dem Thema Insulin-Empfindlichkeit über den Zyklus hinweg gewidmet – hier könnten Geschlechts-spezifische Therapien helfen. Das gilt auch fürs Fettgewebe: Frauen haben tendenziell mehr, aber dafür auch mehr “gutes” Fett. Gut, dass die Geschlechter-sensible Medizin auch in der Diabetologie ankommt!
Unter dem Motto “Perspektiven aus allen Blickwinkeln” habe ich mich auf dem Diabetes Kongress 2024 auf eine spannende Reise begeben. Mein Fokus lag dabei auf der Technik, die uns umgibt. Die Zukunft von AID-Systemen und neue Technologien standen im Mittelpunkt der Diskussionen. Die Wichtigkeit von Benutzer-Freundlichkeit, Zulassungsverfahren und Barriere-Freiheit wurde hervorgehoben.
Es war faszinierend, die individuellen Systeme für Menschen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes zu betrachten – von Insulinpumpen bis hin zu Smart-Pens. Auch die Rolle von Wearable-Technologien in der Altenpflege wurde beleuchtet. In der Diabetologie stehen wir vor Herausforderungen wie Liefer-Engpässen, Schulungs-Anforderungen und dem Umgang mit Technologie in Notfall-Situationen. Es wurde deutlich, dass das Überwinden von Barrieren bei der Nutzung von Diabetes-Technologien in den Praxen klare Einführungs- und Schulungsprozesse erfordert.
Darüber hinaus wurden psychosoziale Aspekte beleuchtet, einschließlich des Potenzials von AID-Systemen zur Verbesserung der Lebensqualität. Allerdings wurde auch auf die potenziellen Stress-Faktoren durch ihre Komplexität und mögliche Fehlfunktionen hingewiesen. Die Akzeptanz von Technologie durch die Anwender wurde als entscheidender Faktor identifiziert. Es war eine Reise mit vielen Blickwinkeln auf ein komplexes Thema, die mir neue Perspektiven eröffnet hat!
Besonders relevant fand ich das Symposium “Diabetestechnologie für alle Menschen mit Diabetes”. Für kleine Kinder sind viele Beschränkungen zu beachten. Von den kurz wirksamen Insulinanaloga ist nur Insulin lispro (nicht in der ultraschnellen Variante) für Kinder unter einem Jahr zugelassen und unter sechs Jahren sind wegen der erforderlichen Insulinpumpen und Glukosesensoren nur zwei AID-Systeme verfügbar. So eine geringe Auswahl ermöglicht es oft nicht, den Bedürfnissen gerecht zu werden.
Außerdem wird die Inklusion in Kitas und Schulen unterschiedlich geregelt. Allzu oft sind die Eltern stark eingebunden und reduzieren ihre Arbeit, um ihren Kindern einen geregelten Alltag zu ermöglichen. Deshalb wird in der neuen Leitlinie “Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter” eine Schulgesundheitsfachkraft gefordert.
Ähnlich ergeht es auch älteren Menschen ab dem 65. Lebensjahr. Diese werden häufig von den neuen technischen Fortschritten in der Diabetestherapie ausgenommen. Ein Aspekt ist die Anwendbarkeit: Wie gut können die Systeme genutzt werden? Auch Diskriminierung spielt eine Rolle. Die Stoffwechsel-Parameter können aber durch AID und CGM verbessert werden, was die Hypoglykämie- und damit Sturz-Gefahr senkt.
Depressivität und Diabetes-Disstress sind häufige Begleit-Erscheinungen bei Menschen mit Diabetes. Diabetes begünstige das Entstehen einer Depression. Patienten, bei denen sowohl Diabetes als auch eine Depression vorliegt, haben oft eine unbefriedigende Blutzucker-Einstellung und geringe Lebensqualität.
Diabetes-Disstress beinhaltet Ängste, Sorgen und Bedenken im Zusammenhang mit der chronischen, sehr aufwendigen, Lebens-einschneidenden und fortschreitenden Erkrankung. Vorrangig geht es um die “Time in Range” (TIR, Zeit im Zielbereich) und den HbA1c- Wert sowie die Angst vor Folgeerkrankungen und Hypoglykämien. Auch Misserfolge trotz Bemühens um eine gute Therapie und Schuldgefühle bei Nichteinhalten der Therapie verstärken Diabetes-Disstress. Ebenso gehören zwischenmenschliche Probleme wie Ausgrenzung und Mobbing dazu.
Diabetologen haben oft zu wenig Zeit, mitunter auch zu wenig Einfühlungsvermögen, sich intensiv mit der psychischen Situation der Patienten zu beschäftigen. Offenere und ganzheitlichere Gespräche würden eventuelle Probleme zeitiger zum Vorschein bringen, so auch das Fazit im Vortrag von Dipl.-Psych. Susan Clever aus Hamburg. So wären sicher schon viele Lösungen für Probleme auf den Weg zu bringen.
Als #dedoc° voice bin ich Teil einer Gruppe von Menschen mit Diabetes, die intrinsisch motiviert bei Vorträgen oder in den sozialen Medien über das Diabetes-Universum berichten. Das beginnt mit Wissenswertem aus der Wissenschaft und führt bis hin zu den eigenen und persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen im Umgang mit Diabetes.
Im Rahmen des Diabetes Kongresses nahm ich an verschiedenen Vorträgen zu einer modernen Diabetestherapie und deren Voraussetzungen und Zielen teil. Die Zielwerte HbA1c und Time in Range (TIR, Zeit im Zielbereich) sind dabei nach wie vor wichtig und auch Bestandteil der aktuellen Leitlinien und Empfehlungen zur Therapie des Typ-1-Diabetes. Als grundsätzlich gut gilt hiernach ein HbA1c unter 7,5 %.
Doch neben den Zielwerten ist auch die “Time in Happiness” ganz entscheidend. Ich, als Mensch mit Diabetes, sollte mich mit dem, was ich im Rahmen meiner eigenen Diabetestherapie tue oder nicht tue, vor allem wohlfühlen. Auch dies ist ein immer wieder wiederholter, aber nicht in offiziellen Leitlinien stehender Punkt in der Diabetestherapie.
Auf dem Diabetes Kongress wurde für mich deutlich, dass der Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Smart-Pens, Insulinpumpen und CGM-Systemen nachweislich die Diabetes-Akzeptanz von Menschen mit Diabetes verbessert. Die positiven Aspekte wie weniger Angst vor Hypoglykämien, besserer Schlaf und weniger Diabetes-spezifische Belastungen führen zu einer hohen Zufriedenheit beim Einsatz von Diabetes-Technik. Auch Menschen über 65 Jahren können deutlich profitieren – vorausgesetzt, sie erhalten Zugang zu den Hilfsmitteln.
Hier schließt sich das wichtige Thema an, wie eine selbstbestimmte Diabetestherapie bis ins hohe Alter sichergestellt werden kann. Die durch Technik erworbene Akzeptanz des Diabetes darf nicht verloren gehen. Hier braucht es gut bedienbare Diabetes-Technik, die auch bei eingeschränkter Motorik und für sehbehinderte und blinde Menschen bedienbar ist und bleibt.
Ab dem Moment der Diagnose, bzw. spätestens bei der Entlassung aus dem Krankenhaus, müssen wir plötzlich die komplette Verantwortung für unser tägliches Überleben mit Diabetes übernehmen. Wir müssen uns 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche selbst behandeln. Damit ist das Erreichen unserer Therapieziele nicht nur abhängig von vielen körperlichen Faktoren, sondern auch von unserer eigenen Kapazität und Motivation, die nötigen Entscheidungen zu treffen und Schritte zu unternehmen, um eben diese Ziele zu erreichen.
Susan Clever aus Hamburg hat in ihrem Vortrag “Diabetes Distress und hilfreiche Kommunikation” einen Selbstwirksamkeit-Loop vorgestellt, der beschreibt, welch starken Einfluss unsere Gedanken auf unsere Gefühle und weitergehend auf unser Verhalten, also auch auf unsere Selbstbehandlung haben. Unsere daraus resultierenden subjektiven Therapie-Erfolge oder auch -Misserfolge beeinflussen wiederum unsere Gedanken. So können Ängste vor Folgeerkrankungen oder die Überzeugung, dass man sowieso nichts ändern kann, Diabetes-Disstress auslösen, der es uns erschwert, uns selbst entsprechend zu behandeln.
Meine Diagnose ist fünf Jahre her und seitdem merke ich verstärkt die psychischen Belastungen. Viele Jugendliche und junge Erwachsene leiden täglich an den Folgen der Erkrankung. Der ganze Stress, Druck und die Angst vor Komplikationen und Isolation sind Risikofaktoren für eine hohe psychische Belastung. Im Vortrag von PD Dr. Simone von Sengbusch (Lübeck) habe ich erfahren, dass das Risiko für einen Selbstmord laut einer Studie mehr als 2,5-fach höher ist als bei Menschen ohne Typ-1-Diabetes.
Doch was können Betroffene oder auch Nahestehende in solch einer Situation tun? Wichtig ist, sich mit Gleichgesinnten oder medizinischem Personal auszutauschen. Das kann helfen, Druck herauszunehmen und ein Gefühl von Akzeptanz zu schaffen. Verschiedene Plattformen wie die Telefonseelsorge (erreichbar unter 08 00/1 11 03 33) oder Vereine und Selbsthilfegruppen können erste Anlaufstellen sein. Auch die Kommunikation mit Diabetesberaterinnen und -beratern ist wichtig.
Schlussendlich ist es von großer Bedeutung, dass psychische Belastungen kein Tabuthema bleiben und jeder erkrankte Mensch die Chance hat, über sein Leid sprechen zu können. Und merke: Du bist nicht allein!
Bei meinem ersten Diabetes Kongress durfte ich viele spannende Vorträge besuchen, die mir noch einmal ganz neue Impulse für den Umgang mit meinem eigenen Diabetes gegeben haben.
Besonders begeistert hat mich der Vortrag von Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin Susan Clever (Hamburg) zum Thema “Diabetes Distress und hilfreiche Kommunikation”. Sie charakterisiert Diabetes – und chronische Krankheit generell – als “Verlust der prämorbiden Identität”, bei dem Betroffene ihr Gesundheits-Management selbst in die Hand nehmen und, im Bestreben, wieder ein Stück Normalität zurückzugewinnen, oftmals Belastung empfinden. Wie auch viele andere spricht sie damit über den Diabetes-Disstress und betont, dass Menschen mit Diabetes, die Therapieziele nicht erreichen (können), nicht einfach als “non-compliant” abgestempelt werden sollten und immer gute Gründe haben für das, was sie tun oder lassen.
Sie plädiert nicht nur für einfühlsamere Kommunikation und mehr Verständnis von Seiten der Behandelnden, sondern auch für eine gesamtheitliche Betrachtung des Diabetes und zeigt, dass bei der Behandlung chronischer Krankheiten immer ein komplexes Zusammenspiel aus geistigen, emotionalen, Verhaltens- und körperlichen Aspekten besteht.
Diabetes. Umwelt. Leben – Perspektiven aus allen Blickwinkeln”: Dies war das Motto des Diabetes Kongresses 2024. Die Patientenstimme war auch dieses Jahr wieder dabei und erfreulich lauter. In den Leitlinien stehen Menschen mit Diabetes im Mittelpunkt und entscheiden mit ihrem Diabetesteam über Therapieziele und Behandlung. Maßgeblich hierfür sind Empowerment und Wissens-Vermittlung einerseits.
Für Forschung und Versorgung ist andererseits die Kenntnis der Bedürfnisse der Patienten Voraussetzung für gute Prävention und Behandlung. Der Diabetes Kongress schafft hier eine Plattform für den Austausch zwischen Betroffenen und Behandlungsteams. Auch politisch bekommt die Patientenstimme mehr Gehör. Die jahrelange Zusammenarbeit mit #dedoc° war auch in diesem Jahr erfolgreich und bringt die gemeinsamen Ziele weiter.
von Redaktion Diabetes-Anker
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