Deprescribing– wenn weniger mehr sein kann

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Deprescribing– wenn weniger mehr sein kann

Ungefähr ein Zehntel der Menschen in Deutschland nimmt ab einem Alter von 65 Jahren täglich fünf oder sogar mehr verordnete Arzneimittel ein. Bei den 75- bis 80-Jährigen werden von einem Drittel sogar mehr als acht verschriebene Medikamente angewendet. Nicht wenige Patienten und Patientinnen stellen sich da die Frage: “Muss das denn alles sein?”

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert das dauerhafte Anwenden von fünf und mehr Arzneimitteln als Polypharmazie. Diese Polypharmazie ist nicht grundsätzlich negativ; die Verordnungen erfolgen mit dem Ziel, Erkrankungen und Symptome zu behandeln, zu heilen oder das Leben zu verlängern. Für die Behandlung von Krankheiten gibt es entsprechende Therapieempfehlungen, die Leitlinien genannt werden. Betrachtet man zum Beispiel die Leitlinie zur Therapie der Schwäche der linken Herzkammer (Linksherz-Insuffizienz), entspricht die gleichzeitige Verordnung von vier Medikamenten dem modernen Standard. Kommt nun noch eine weitere Erkrankung wie Diabetes dazu, erhöht sich die Anzahl der anzuwendenden Arzneimittel schnell auf sieben oder acht notwendige Arzneien.

Warum “Deprescribing”?

Ohne Frage sind viele Verordnungen zum Teil lebensnotwendig. Doch nicht immer sind die Einsatzgebiete der Medikamente ganz eindeutig oder die zu behandelnde Grunderkrankung besteht nicht mehr. Manchmal werden auch Arzneimittel eingesetzt, die Nebenwirkungen verursachen, die wiederum behandelt werden müssen. Manchmal kann eine Tablette auch mehr unerwünschte Wirkungen haben als Nutzen zur Behandlung einer Erkrankung. So haben Untersuchungen aus Dänemark gezeigt, dass es mehr “unangemessene” Verschreibungen bei denjenigen gibt, die am wenigsten davon profitieren.

Was bedeutet “Deprescribing”?

Leider herrscht im Zusammenhang mit Deprescribing ein gewisses Durcheinander der Begrifflichkeiten. Häufig wird es gleichgesetzt mit Absetzen von Arzneimitteln, Beenden von Therapien, Stoppen von Behandlungen oder De-Intensivieren. Gibt man es in Übersetzungs-Programme ein, findet man auch dort kein entsprechendes deutsches Wort. Man muss sich also ein wenig behelfen.

Die Vorsilbe “de” kommt aus dem Lateinischen und kann mit “ab-, ent-, weg-, von …” übersetzt werden. “Prescribing” ist aus dem Englischen und bedeutet nichts anderes als “Verordnen”. So könnte man Deprescribing auch mit “Wegverordnen” übersetzen, was jedoch recht holperig klingt und es auch nicht wirklich zufriedenstellend beschreibt. Eine mögliche Definition lautet daher: “Deprescribing ist ein geplanter, mit dem Patienten abgestimmter und überwachter Prozess, bei dem Arzneimittel, die potenziell unangemessen, schädlich, nicht mehr indiziert oder ohne Nutzen für die aktuelle Therapie sind, schrittweise reduziert oder sicher abgesetzt werden.”

Wie geht man beim Deprescribing vor?

Deprescribing ist kein einmaliger Vorgang, sondern ein Prozess, der aus mehreren Schritten besteht und in dessen Mittelpunkt grundsätzlich die Patientinnen und Patienten stehen. Der erste Schritt ist ein Gespräch, in dem alle Informationen zu den Medikamenten erfasst werden: die Arzneimittel-Anamnese. Dort werden alle Arzneimittel erfasst, aber auch Diagnosen und Laborwerte. Dazu ist auch wichtig, die Therapietreue zu betrachten, also, wie gut man die verordneten Maßnahmen anwenden bzw. umsetzen kann. Es handelt sich hier also um eine generelle Bestandsaufnahme.

Danach folgt die Definition von Therapiezielen. Hier gilt es, Überlegungen hinsichtlich der Ziele anzustellen, die mithilfe von Arzneimitteln erreicht werden sollen oder können, und diese Ziele mit den Wünschen und Zielen der Patientin oder des Patienten abzugleichen. Hier kann zum Beispiel besprochen werden, welche Zielbereiche für Blutzucker, HbA1c oder Blutdruck zu erreichen sind, ohne dass es zu Unterzuckerungen, Schwindel oder anderen nicht akzeptablen Nebenwirkungen kommt.

Im folgenden Schritt werden Arzneimittel identifiziert, die abgesetzt oder reduziert werden können. Dabei sollte in einem Schritt immer nur ein Medikament betroffen sein. Beginnen kann man mit den Arzneistoffen, die ein hohes Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen haben.

Hat man “Kandidaten” identifiziert, werden Strategien zum Absetzen bzw. Ausschleichen festgelegt. Viele Medikamente kann man nicht direkt absetzen, sondern sie müssen Schritt für Schritt “ausgeschlichen” werden, da es sonst zu ungewollten Problemen kommt. Zu diesen Arzneimitteln gehören unter anderem die als Magenschutz eingesetzten Protonenpumpen-Hemmer wie Pantoprazol, Mittel gegen Depressionen oder gegen Alzheimer-Demenz. Während der Reduktion kann es notwendig sein, häufiger zu prüfen, ob es dadurch zu körperlichen Reaktionen kommt. Auch Kontrollen der Laborwerte können notwendig sein. Niemals sollten jedoch Arzneimittel ohne Rücksprache mit der verordnenden Ärztin bzw. dem verordnenden Arzt abgesetzt werden. Zu diesem Schritt gehört ein mit Patienten oder Angehörigen abgesprochener Plan. Dieser Plan sollte die einzelnen Vorgehensweisen enthalten und auch Maßnahmen für den Fall, dass sich das Befinden verschlechtert.

Ein Beispiel mit 16 Medikamenten …

B. S. ist eine 74-jährige Patientin mit einem Body-Mass-Index (BMI) von 27,5 kg/m², die 16 Medikamente einnimmt. Sie hat Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Vorhofflimmern, chronische Bronchitis (COPD), eine Unterfunktion der Schilddrüse und eine Hauterkrankung. Ihre Nierenfunktion ist leicht eingeschränkt. Beim Überprüfen fällt auf:

  • Vitamin D sollte wegen eines zu hohen Kalzium-Spiegels mindestens pausiert werden. Ohne eine Indikation wie Osteoporose oder zu niedrigen Vitamin-D-Spiegeln kann es ganz abgesetzt werden.
  • Prednisolon wurde während eines Klinikaufenthalts vor drei Jahren wegen einer Verschlechterung der COPD angesetzt. Eine dauerhafte Gabe ist nicht sinnvoll und führt zu erhöhten Blutzuckerwerten. Dadurch kann ggf. nach dem Ausschleichen auch auf Pantoprazol als Magenschutz verzichtet werden.
  • Lactulose und Macrogol werden gegen Verstopfung eingesetzt. Lactulose führt häufiger zu Blähungen, daher sollte nur Macrogol bei Bedarf angewendet werden.
  • Metformin und Sitagliptin wegen des Diabetes können als Kombi-Präparat eingesetzt werden. Metformin sollte unbedingt mit den letzten Bissen einer Mahlzeit eingenommen werden. Durch diese Umstellung kann hoffentlich auf die regelmäßige Einnahme von Simeticon und Buscopan gegen Blähungen und Bauchschmerzen verzichtet werden.
  • Statt wegen der COPD mit Tiotropiumbromid und Formoterol zwei Sprays zu verwenden, kann auch hier auf ein Kombi-Präparat umgestellt werden.
  • Ramipril könnte statt 2-mal täglich 2,5 mg auf 1-mal täglich 5 mg morgens verändert werden.

Der Vorschlag zum Deprescribing wurde vollständig umgesetzt und die Anzahl der Medikamente von 16 dauerhaft und 4 bedarfsweise angesetzten Arzneimitteln auf 6 Dauermedikamente reduziert.

Ausblick

Wichtig ist beim Deprescribing, dass es nicht “mal eben” gemacht ist. Es braucht Zeit, benötigt eine Auseinandersetzung mit der Therapie, ein überprüftes Vorgehen – und auch manchmal die Bereitschaft, sich von liebgewonnenen Medikamenten zu trennen, die oft keinen Nutzen mehr haben. Mögliche Kandidaten sind die erwähnten Protonenpumpen-Hemmer, Hormone oder pflanzliche Präparate bei Frauen über 70 Jahren, für Ältere ungeeignete Arzneimittel wie Diphenhydramin oder Medikamente, die an eine veränderte Nierenfunktion angepasst werden müssen, wie Metformin.

Auch wenn Deprescribing so einfach klingt, ist es keine simple Lösung. Aber es hat das Potenzial, die Therapie mit Arzneimitteln zu vereinfachen und die Lebensqualität zu erhöhen.



Kontakt:
© privat
Dr. Isabell Waltering

Fachapothekerin für Arzneimittelinformation, geriatrische Pharmazie, Infektiologie; ATHINA-Koordinatorin

Erschienen in: Diabetes-Journal, 2023; 72 (10) Seite 18-20

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