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Diabetes ist nicht nur ein ganz individuelles, sondern zugleich auch ein gesellschaftliches und damit politisches Thema. Das bringt es mit sich, dass im gleichen Atemzug, wie im Umgang mit Corona-Viren allen Menschen Verhaltensregeln an die Hand gegeben wurden, Menschen mit Diabetes als sogenannte Risikopatienten einsortiert wurden und damit besondere Regeln einhergingen.
Mal wieder waren Menschen mit Diabetes Typ 1 und Typ 2 über einen Kamm geschoren worden und mit Eigenschaften bedacht, die sie sich selbst nicht zuschreiben würden. Dafür wurden andere Eigenschaften vielleicht übersehen, die eher in die Kategorie Talente denn Schwächen passen. Welche könnten das sein?
Vor zwei Wochen, als Video-Konferenzen gerade en vogue kamen, lud ich zwei Freundinnen zum Google Hangout statt abendlicher Kneipentour. Eine davon hat auch Diabetes Typ 1 und während wir auf die Dritte warteten, erzählten wir uns gegenseitig den Status quo. Pumpe, Werte, Nächte – das Übliche und dann ganz schnell auch: Kommst du klar? Hast du alles? Wie empfindest du das Risiko?
Die Freundin arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten und war von ihrem Arbeitgeber zwei Tage zuvor bis auf Weiteres freigestellt worden. Die Begründung? Als Diabetikerin sei sie eine Person mit einem erhöhten Risiko für eine Ansteckung mit Corona und einer erhöhten Gefahr eines schwereren Krankheitsverlaufs bei einer Erkrankung an Covid-19.
Ergo Risikopatientin! Das Wort fällt bereits im zweiten Satz und ich höre ihrer Stimme an, wie sie sich damit nicht identifiziert. Sie schildert, wie sie sich mit der Freistellung zum ersten Mal durch ihren Diabetes gar bevorzugt behandelt fühlt. Wie ungewohnt diese Rolle ist und wie unwohl sie sich fühlt, fügt sie nach einem kurzen Schweigen und einem entschuldigenden Lächeln – Video! – hinzu.
Wir diskutieren nur kurz über gut versus gut gemeint und gehen dann dazu über, was es konkret für sie bedeutet und wie sie ihre Tage jetzt gestaltet.
Seitdem geht mir der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. In den vergangenen Tagen und Wochen wurde das Thema auch von Fachleuten und in den Medien diskutiert, Gut eingestellte Typ-1-Diabetiker*innen seien, so der Tenor mittlerweile, erstmal auch nicht mehr im Risiko als andere Menschen. Obgleich sowohl, was die Ansteckung als auch was die Krankheitsverläufe angeht, logischerweise noch keine verlässlichen Daten vorliegen, es passiert ja gerade alles live. Die Bezeichnung bleibt, stigmatisiert, verunsichert und frustriert. Man möchte kein*e Risikopatient*in sein, weder aus Alters- noch aus gesundheitlichen Gründen. Gesund sein und bleiben möchte man.
In den folgenden Tagen schubse ich den Gedanken schließlich in eine andere Richtung: Haben wir Menschen mit Diabetes, wir, die wir seit Jahren mit einer chronischen Krankheit leben, haben wir nicht gerade in diesen Zeiten anderen Menschen einiges voraus und somit jede Menge Hilfreiches anzubieten?
Zurzeit machen viele Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung, dass ihr Alltag massiv durch das Thema Gesundheit beeinflusst wird. Es scheint gar nur mehr dieses eine Thema zu geben. Ziemlich schnell war klar geworden, Covid-19 kann jede*n treffen und der Verlauf der Krankheit kann sehr unangenehm werden und zwar unabhängig davon, wie fit und gesund der/die Patient*in ist. Sie fühlen sich einem Risiko ausgesetzt, das sie nur sehr bedingt kontrollieren können. Sie können viele Dinge nicht mehr so spontan ausführen wie gewohnt, sondern müssen, zugunsten ihrer Gesundheit, Umwege gehen, Verabredungen und Pläne aufschieben oder ganz absagen. Sie müssen vor jeder Aktivität Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und wissen nicht, was die Zukunft bringt.
Menschen mit chronischen Krankheiten wie Diabetiker*innen hingegen sind es gewohnt, ihr Leben einer gesundheitlichen Pflicht unterzuordnen und jede Entscheidung aus der Perspektive des Diabetes auszuleuchten, bevor sie reinbeißen/rausgehen/Ausflüge planen. Sie sind zeitlebens Patient*in.
Idee: Gelassenheit ist Trumpf. Was kann ich mir jetzt Gutes tun? Lässt sich das Eis zu Hause essen? Oder kommt es auf eine Liste mit den Dingen, die ich mir mal gönnen möchte?
Idee: Deine Aufmerksamkeit kuratieren. Der Angst Raum geben, zum Beispiel ein konkretes Zeitfenster. Und gleichzeitig die Realität ins Zentrum stellen: Was ist jetzt gerade? Was kann ich gerade tun, damit es mir gut geht?
Idee: Du sorgst für dich. Das ist aktive Selbstliebe. Spüre, wie gut es dir tut, wie sicher du dich fühlst, wie stolz du auf dich bist. Du bist nicht allein, tausche dich aus, wie machen es andere? Wo kannst du dir Tipps und Tricks holen, wo dich mal anlehnen? Vielleicht ist es einfacher, zu zweit, mit dem Partner oder einer Freundin?
Idee: Sich Gesundheit zu wünschen, ist das eine. Es hat aber einen guten Grund, denn ohne Gesundheit ist vieles im Leben viel schwerer. Du musstest dir bisher keine Gedanken um deine Gesundheit machen? Zeit, dankbar zu sein. Ein funktionierender Körper ist keine Selbstverständlichkeit.
Idee: Das Leben ist kein Ponyhof und wir sind keine Maschinen. Wir haben vieles nicht unter Kontrolle und können nur bedingt die Folgen abschätzen. Urteile und Bewertungen sind häufig fehl am Platz, um Schuld geht es sowieso nicht. Umso wichtiger sind Gelassenheit und das Unterscheiden zwischen Fakten und Glauben. Wir glauben so gern, es gäbe für alles ein Rezept und dann einfach Copy und Paste, so einfach ist es leider nicht. Das klingt erstmal ernüchternd, ist aber zugleich eine Einladung zum Ausprobieren und Sichkennenlernen.
Die Einladung zum Ausprobieren, zum Sichkennenlernen gilt in Tagen wie diesen ganz besonders. Vielleicht gibt es eine*n DiabetikerIn in eurem Bekanntenkreis, den man kennen lernen und fragen könnte, wie er sich damit arrangiert hat und ob er einen guten Tipp am Start hat? Vielleicht lohnt es, sich als Mensch mit Diabetes mal in die Rolle des Gebenden und nicht des Belastenden und des Opfers reinzudenken? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht, die gerade hilfreich sein könnten?
Ich will es wissen, denn meine Ideen sind ja nur meine spontanen Ideen und Ansatzpunkte, die sich sicherlich noch ergänzen lassen. Fest steht: Mit Diabetes lässt sich leben. Wir leben seit Jahren damit und wir sind ganz normale und ganz unnormale, unterschiedliche Menschen mit Ängsten und Talenten, mit Vorlieben und Abneigungen, die gelernt haben, sich zu arrangieren und sich täglich zu spritzen oder alle paar Tage eine Kanüle zu setzen. Ja, das kann auch mal wehtun, unerträglich schwer scheinen, frustrieren und es bietet Raum für den ein oder anderen Perspektivwechsel.
Welcher Perspektivwechsel hat euch in den letzten Wochen die Augen geöffnet? Welche Tipps habt ihr?
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