Gegen die Tyrannei der Ungeduld in der Medizin

4 Minuten

© Kirchheim-Verlag
Gegen die Tyrannei der Ungeduld in der Medizin

Ein Arzt, der einen wirklich ansieht, wirklich sieht, der einfühlsam ist und nachfragt, sich Zeit nimmt – und sich nicht nur in die Laborwerte vertieft und danach eine Entscheidung trifft: Wünschen sich das nicht alle Patienten? Natürlich. Aber die Realität ist oft eine andere. Wie sich die Medizin in den letzten Jahren zur „Gesundheitsdienstleistung“ entwickelt hat, wie es aber auch anders gehen kann und gehen müsste, beschreibt Dr. Victoria Sweet in ihrem neuen Buch „Slow Medicine“. Was steckt hinter dem Konzept der „langsamen Medizin“? Und wie hat Dr. Sweet eine Patientin mit Typ-2-Diabetes “slow” behandelt?

Die Zeit ist oft knapp, das spüren die Ärzte, das spüren die Patienten. Was herauskommt, wenn die Zeit knapp ist, ist „Fast Medicine“, schnelle Medizin, die nicht mehr den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit im Blick hat, sondern den Körper als Maschine sieht, die wiederum aus vielen kleinen Maschinen besteht. Ist eine dieser Maschinen kaputt, muss sie repariert werden, und das möglichst schnell – aber ist das nicht eine sehr einseitige Sicht auf unseren Körper auf uns Menschen?

Die Tyrannei der Ungeduld

Oft aber ist es besser, abzuwarten, geduldig zu sein, den dem Körper innewohnenden Kräften zu vertrauen. Diese Auffassung von Medizin aber passt nicht mehr in einen Medizinbetrieb, der zu großen Teilen zum Wirtschaftsbetrieb geworden ist. „Allen Heilberufen wird sozusagen die Geduld ausgetrieben, weil man denkt, dass man nur durch die Tyrannei der Ungeduld genügend sparen kann“, schreibt Professor Giovanni Maio, der an der Universität Freiburg eine Professur für Bioethik/Medizinethik innehat, im Vorwort von „Slow Medicine“.

© Dennis Calahan; Screenshot: Kirchheim-Verlag Ɩ Dr. Victoria Sweet, Autorin von “Slow Medicine” – und Verfechterin der “langsamen Medizin”.

„Slow Medicine“ ist das neue Buch von Dr. Victoria Sweet, einer US-amerikanischen Ärztin, die 20 Jahre lang selbst ärztlich tätig war und inzwischen an der University of California lehrt. Anhand von vielen Beispielen und persönlichen Geschichten legt sie dar, was sie an der Medizin, wie sie heute oft betrieben wird, stört – und was nötig ist, um es besser zu machen, und das in einem sehr lebendigen, unterhaltsamen Stil. Einige Zitate aus ihrem Buch machen klar, worum es ihr geht.


Über einen Krankenhausaufenthalt ihres Vaters:

»Auf dem Computerbildschirm sah alles so gut aus. Und doch – was mein Vater bekommen hatte, war keine Medizin, sondern Gesundheitsversorgung. Medizin ohne Seele. Was meine ich mit Seele? Ich meine das, was mein Vater nicht bekommen hatte. Präsenz, Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen. Freundlichkeit. Und vor allem: Verantwortung. Niemand übernahm die Verantwortung für die Geschichte. Das Kernstück der Medizin ist die Geschichte. Es geht darum, die richtige Geschichte zu finden, die wahre Geschichte zu verstehen – unzufrieden zu sein mit einer Geschichte, die keinen Sinn ergibt. Die Gesundheitsversorgung dagegen zerlegt die Geschichte in Tausende winzige Einzelteile, Hunderte von Seiten mit angekreuzten Kästchen und Häkchen, für die niemand verantwortlich ist. Ebenso gut hätte sich ein Roboter-Arzt um meinen Vater kümmern können.«


Über das Ineinandergreifen von Slow Medicine und Fast Medicine:

»Im Nachhinein könnte man sagen, dass Dr. Miller Fast Medicine und Slow Medicine gleichzeitig praktizierte. Er kannte die Fast Medicine so gut, dass er sich Zeit lassen konnte. Und schließlich war da noch die Wirkung der Zeit selbst. Das Elixier der Zeit, wie man sagt, und genau diese Zeit hatten wir bei unserer Gesundheitsversorgung nicht einkalkuliert. (…) Der Körper ist erstaunlich. Es gibt so viel, was wir nicht über ihn und seine Heilungsfähigkeiten wissen. Ich glauben nicht, dass das Leben von Joey Canaan unter den heutigen Bedingungen gerettet worden wäre.«


Über Individualität:

»Es kommt nicht so sehr darauf an, welche Krankheit ein Patient hat, schrieb Hippokrates, sondern darauf, welcher Patient die Krankheit hat. Ich würde hinzufügen: und welchen Arzt der Patient hat.“
Welches Tempo sie während ihrer langen ärztlichen Tätigkeit gewählt hat und welche Methoden sie sich mit der Zeit erschlossen hat, beschreibt sie in zeitlicher Reihenfolge, so dass man ihre Entwicklung hin zur Slow Medicine nachvollziehen kann. Gleichzeitig zeichnet sie die Entwicklung des US-amerikanischen Gesundheitssystems nach, zeigt auf, wie alles immer schneller und effizienter wurde, um vermeintlich Zeit und Geld zu sparen.«

Diabetes? Auch ein Thema in „Slow Medicine“. Außerdem: Hildegard von Bingen

Auch die Behandlung einer Patientin mit Typ-2-Diabetes schildert Victoria Sweet eingehend in ihrem Buch. Sie beschreibt die Krankheit und legt auf mehreren Seiten die Überlegungen für ihre Therapieentscheidung dar. Statt immer mehr Insulin zu geben, begleitet sie Mrs. Quinones beim Abnehmen – eine Strategie, die zu dieser Zeit bei Typ-2-Diabetes anscheinend nicht in Betracht gezogen wurde.


»Ich hatte oft mit dem Gedanken gespielt, die zweite Strategie – Gewichtsverlust – zu testen, da sie das Problem (den hohen Blutzucker) auf natürliche Weise bei der Wurzel packen könnte. Inzwischen war ich eine von der Ärztekammer geprüfte Internistin, eine Meisterin, obschon eine junge, und ich konnte es ausprobieren. (…) Da mehr Insulin offenbar nicht funktionierte, warum sollten wir es nicht weniger probieren? Warum sollten wir uns bei der Behandlung nicht die natürliche Reaktion des Körpers auf Diabetes zunutze machen, nämliche den Gewichtsverlust? Die anderen Symptome der Hyperglykämie hatte Mrs. Quinones ohnehin. Wenn sie ihre Flüssigkeitszufuhr aufrechterhielt und nicht austrocknete, würde sich ihr Körpergewicht allmählich verringern, bis es der geringeren Insulinmenge entsprach, die ihre Bauchspeicheldrüse selbst produzierte. Vielleicht würde sie dann gar kein zusätzliches Insulin mehr brauchen. Es war ein radikaler Ansatz, aber einen Versuch war es wert.«

Faszinierend liest sich auch, wie Victoria Sweet den Lehren von Hildegard von Bingen begegnet, ihre Werke studiert, wegen ihr Medizingeschichte studiert und ihre Schlüsse aus Hildegards Überlegungen zieht.

((In Kasten))

Video
Wer einen Eindruck von Dr. Victoria Sweet bekommen und einiges über Slow Medicine erfahren möchte, kann sich auf Youtube ein Video anschauen.

Victoria Sweet kommt nach Deutschland

Um ihr Buch vorzustellen, kommt Dr. Victoria Sweet im Februar und März nach Deutschland. Für einige der Termine findet man schon die genauen Veranstaltungsorte:


von Nicole Finkenauer
Kirchheim-Verlag, Wilhelm-Theodor-Römheld-Straße 14, 55130 Mainz,
Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90,
E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

  • gingergirl postete ein Update vor 2 Wochen, 3 Tagen

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

    Uploaded Image
    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 2 Wochen, 4 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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