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Nervenerkrankungen verhindern, eindämmen, behandeln: Welche Therapien können bei der “peripheren diabetischen Polyneuropathie” den Betroffenen Linderung verschaffen? Im Folgenden geht es um Behandlung ohne Tabletten, um Behandlung mit Tabletten sowie um allgemeine Maßnahmen, um ein Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern.
Der chronische Schmerz ist nur vor dem Hintergrund eines bio-psycho-sozialen Krankheitskonzeptes zu verstehen (siehe Seite 22). Also spielt die Psychotherapie neben einem abgestimmten Konzept aus medikamentöser, Physio-, Ergo- und Sozialtherapie eine wichtige Rolle.
Psychotherapeutisch orientierte Behandlungsverfahren sind nicht als konkurrierende oder ausschließliche, sondern als ergänzende Therapieoptionen zu verstehen. Sie dienen primär dazu, eine rasche Chronifizierung mit oft sehr langem Krankheitsverlauf zu vermeiden. Die Rede ist von Schmerzbewältigungsstrategien, Verhaltenstraining, Entspannungstechniken, Achtsamkeitstraining, Hypnose etc.
Ziel ist es, Schmerzen zu lindern sowie eine Chronifizierung zu vermeiden, falsche Bewegungsabläufe zu kompensieren und eine adäquate Funktion zu erhalten – hierbei haben sich nichtmedikamentöse Therapieverfahren ergänzend sehr bewährt. Dazu gehören:
Manche empfehlen Wechselbäder, die die Durchblutung anregen sollen. Das Führen eines Schmerztagebuches durch die Betroffenen selbst sowie die Teilnahme an Treffen einer Selbsthilfegruppe haben sich ergänzend bewährt.
Bevor man zu Medikamenten greift, sollten die Risikofaktoren für die Entwicklung einer diabetischen Polyneuropathie angegangen werden:
Laut Studien hat nur etwa die Hälfte aller Menschen mit Polyneuropathien auch Schmerzen – und die Mechanismen des Entstehens neuropathischer Schmerzen unterscheiden sich grundlegend von Schmerzen z. B. bei Wunden/Verletzungen. Also sind andere Therapieansätze notwendig.
Besonders effektiv ist die Kombination von Antiepileptika mit Antidepressiva. Antidepressiva sind heute fester Bestandteil der Therapie neuropathischer Schmerzen, da sie die vom Gehirn kommenden schmerzhemmenden Bahnen im Rückenmarksystem verstärken und dadurch die Schmerzsymptomatik abschwächen – bezüglich des Schmerzes besonders z. B. das Amitriptylin.
Es sollte einschleichend und individuell begonnen werden, besonders bei älteren Diabetikern. Bei Patienten mit mehreren Erkrankungen sind Antidepressiva jedoch wegen der Nebenwirkungen problematisch (Sedierung, Mundtrockenheit, Beschwerden beim Wasserlassen, Herzrhythmusstörungen).
Duloxetin wirkt vor allem über eine Aktivierung absteigender hemmender serotoninerger und noradrenerger Bahnen. Pregabalin hat sich bei Beschwerden aufgrund einer diabetischen Polyneuropathie besonders bewährt. In ausreichend hoher Dosierung kommt es relativ rasch zu einem deutlich besseren Schlaf und zur Verbesserung des Allgemeinbefindens. Die Behandlung sollte mit 75 mg zur Nacht begonnen werden – das muss aber unbedingt mit dem behandelnden Arzt im Detail besprochen werden!
Die Dosis sollte bei älteren Patienten und Patienten mit mehreren Erkrankungen am Anfang niedriger gewählt werden. Entweder gleichzeitig, in Kombination oder auch als Versuch zuvor geben manche Ärzte noch immer Thioctazid-Infusionen (später Tabletten) mit teils guten Ergebnissen – die Krankenkassen übernehmen dafür aber in der Regel nicht die Kosten!
Opioide sind z. B. bei Patienten mit drohendem Nierenversagen (Niereninsuffizienz) Mittel der ersten Wahl. Sie werden heute grundsätzlich immer dann eingesetzt, wenn Schmerzen die Lebensqualität von Patienten so weit einschränken und das Funktionsniveau so stark beeinträchtigen, dass der tatsächliche Nutzen die Risiken der Therapie rechtfertigt.
Unerwünschte oder auch häufigere Begleitsymptome sollte man unbedingt kennen:
Wenn irgend möglich, sollten Opioide zunächst maximal 4 bis 12 Wochen verwendet werden.
Grundsätzlich ist die Therapie von Nervenschmerzen extrem schwierig und langwierig – und es gibt bis heute keine Patentrezepte, sondern Ärzte müssen mit allen anderen Therapeuten nach dem Prinzip Versuch und Irrtum Behandlungsstrategien ausprobieren. Man braucht Geduld, da jeder Patient unterschiedlich auf die unterschiedlichen Medikamente und Therapien reagiert. Bei schätzungsweise 30 bis 50 Prozent der Patienten, in manchen Patientengruppen sogar 80 Prozent, lässt sich bei frühzeitiger Therapie und guter Blutzuckereinstellung eine Reduktion der Schmerzen erreichen.
Völlige Schmerzfreiheit ist jedoch nicht garantiert. Selbst 10 Prozent Schmerzreduktion sind ein Erfolg!
Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) wie Diclofenac, Ibuprofen oder auch Naproxen ebenso wie Paracetamol und Metamizol helfen in der Regel bei Nervenschmerzen nicht oder nur sehr wenig. Außerdem sollten die Nebenwirkungen beachtet werden.
Eine Stimulation der Nerven der betroffenen Hautregion kann die Schmerzen der Polyneuropathie bessern. Es gibt sogar entsprechende Socken, die dem Fuß übergestreift werden und so die Stimulation mit Strom erleichtern. Es gibt Einzeluntersuchungen zur Effektivität – wissenschaftlich basiert ist die Methode noch nicht.
Eine weitere Möglichkeit ist die elektrische Nervenstimulation des Rückenmarks mit einer im Rücken eingepflanzten Mikroelektrode, die mit einem Impulsgenerator verbunden ist und dessen Stärke und Dauer der Impulse programmiert werden kann. So kann mit winzigen Stromimpulsen über bestimmte Nervenfasern die Schmerzweiterleitung zum Gehirn blockiert werden.
Unabhängig davon helfen auch bei manchen Patienten interventionelle Verfahren wie Nervenblockaden, bei denen der Nervenschmerz durch wiederholte Spritzen in bestimmte Nervenknoten (Sympathikus) blockiert wird.
Inwieweit komplementäre Verfahren wie Thermo- oder Atemtherapie oder Qigong, Homöopathie, Akupressur oder Yoga Besserung bringen, ist nicht systematisch untersucht.
Verhaltenmedizinisches Training genauso wie körperliches Training sollten ebenso einbezogen werden, denn der chronisch anhaltende Schmerz ist das Ergebnis eines dynamischen Prozesses, an dem Körper und Seele gleichermaßen beteiligt sind – weshalb die Psyche in die Behandlung chronischer Schmerzen unbedingt mit einbezogen werden muss, ebenso das soziale Umfeld und Angehörige. Belastende Situationen etc. sollten mit berücksichtigt werden. Operative Verfahren, bei denen Teile des schmerzverarbeitenden oder -leitenden Nervensystems zerstört werden, sind in der Regel nicht sinnvoll.
Trotz einer aktuellen und umfangreichen Literatur-Recherche bezüglich des neuropathischen Schmerzes habe ich nichts sensationell Neues bezüglich des Entstehens und insbesondere der Therapie gefunden – auch nicht bei der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (“Diabetes Kongress” ) in Berlin vor drei Monaten!
Nachdem ich verschiedene Therapeuten um ihre Meinung gebeten hatte, musste ich feststellen, dass neben den oben beschriebenen Methoden keine wissenschaftlich belegten neuen Therapien existieren und dass die verschiedenen möglichen Methoden sehr subjektiv bewertet wurden.
Wichtig aber scheint, dass bei jedem Betroffenen individuell und so früh wie möglich Therapien nach dem Prinzip “Versuch und Irrtum” angewendet werden. Da aber gerade die langfristige medikamentöse Therapie auch Gefahren beinhaltet, sollte die Behandlung immer in Absprache mit einem erfahrenen Therapeuten (Arzt, Schmerztherapeut, Psychologe) durchgeführt werden.
Eine Schmerzreduktion, nicht Schmerzfreiheit, ist ein realistisches Ziel. Wenn Schmerzfreiheit erreicht wird, ist dies wunderbar – aber auch eine Schmerzreduktion von nur wenigen Prozent kann das Leben der Betroffenen grundlegend verbessern! Gerade weil es aktuell keine “großen Neuerungen” bezüglich der Therapie gibt, muss die Therapie mit den möglichen Mitteln und Methoden individuell ausprobiert werden.
von Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Internist/Angiologie/Diabetologie/ Sozialmedizin,
Lehrbeauftragter der Universität Würzburg,
Chefarzt Deegenbergklinik,
Burgstraße 21, 97688 Bad Kissingen,
Tel.: 09 71/8 21-0, E-Mail: schmeisl@deegenberg.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2018; 67 (8) Seite 26-29
5 Minuten
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