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Menschen mit Diabetes können als dessen Folge Erkrankungen der Nerven bekommen. Sie äußern sich zum Beispiel in Kribbeln, Brennen, Schmerzen. Wer die Hintergründe kennt, lernt, diese Polyneuropathie zu verstehen oder gar zu verhindern.
Beim Arzt stellte sich heraus, dass Frau M. eine Wärmflasche, die ihr ihre Angehörigen zu Weihnachten geschenkt hatten, benutzt und offensichtlich mit zu heißem Wasser gefüllt hatte. Der Arzt wusste auch, warum Frau M. keine Schmerzen empfunden hatte – sie litt an einer diabetischen Polyneuropathie. Sie war schon mehrfach wegen nicht bemerkter kleinerer Geschwüre an den Füßen behandelt worden.
Die jetzige Verbrennung am Rücken durch eine zu heiße Wärmflasche war aber der bisher schlimmste Vorfall. Zum Glück konnte die Verbrennung doch noch durch tägliche Verbände und Antibiotika beim Hausarzt ambulant behandelt werden.
Wer Diabetes hat, dessen Nervensystem ist in vielfältiger Weise gefährdet. Nicht immer äußert sich ein beginnender Schaden erst bei einem fortgeschrittenen Diabetes: Eine Schädigung, meist in Form der diabetischen Polyneuropathie, kann auch schon in einem sehr frühen Stadium des Diabetes auftreten. Neben dem Diabetes gibt es weitere Risikofaktoren:
Andererseits lässt sich, so belegen Studien, durch eine rechtzeitige Normalisierung der Blutzuckerkonzentration eine Neuropathie verhindern oder hinauszögern. Schlecht eingestellte Typ-1-Diabetiker hatten in einer Studie über 24 Jahre dagegen in ⅔ aller Fälle Zeichen eines Schadens der Nerven. Dem frühzeitigen Erkennen einer diabetischen Polyneuropathie und deren Behandlung, besonders durch eine normnahe Blutzuckereinstellung, kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu.
Die typischen Beschwerden äußern sich meist in Ruhe bzw. nachts:
Die zuvor genannten Beschwerden bzw. Symptome nennt der Arzt auch Positiv-Symptome. Nicht, weil sie gut sind (positiv), sondern weil er sie bei der Untersuchung des Patienten nachweisen kann! Dies ist sehr wichtig für eine rechtzeitige Diagnose.
Es gibt aber auch Negativ-Symptome, d. h. bestimmte Fähigkeiten bzw. Empfindungen eines gesunden Nervensystems können bei diesen Patienten fehlen (negative Symptome). Das bedeutet: Durch das Fehlen bestimmter Fähigkeiten kann es bei den Patienten zu Verletzungen kommen, da frühzeitige Warnsymptome fehlen! Negativ-Symptome sind:
Eine der schwerwiegendsten Folgen einer diabetischen Nervenerkrankung ist das Diabetische Fußsyndrom mit der deutlich erhöhten Gefahr einer Amputation (Diabetes-Journal 2/2015). Mehr als 40 000 Amputationen bei Diabetikern pro Jahr sprechen eine deutliche Sprache.
Erhöhter Blutzucker schädigt die Nervenzellen teils auf direktem Weg über Stoffwechselzwischenprodukte wie Sorbitol und Fruchtzucker. Auch eine Schädigung der kleinen Blutgefäße, die die Nerven versorgen, kommt in Betracht. Jede noch so kleine Nervenzelle muss mit Blut versorgt werden – eine schlechte Blutzuckereinstellung, kombiniert mit zum Beispiel erhöhten Blutfetten und Rauchen, kann auf diese Weise bis in die letzten Winkel unseres Körpers direkt oder indirekt über eine schlechtere Durchblutung die Nervenzellen schädigen.
Polyneuropathie (poly: viel) bedeutet, dass in der Regel nicht ein einzelner Nerv, sondern oft gleichzeitig viele Nerven mit unterschiedlichen Aufgaben (wie Leitung des Schmerzes, Leitung des Warm-Kalt-Empfindens etc.) geschädigt sind. Während nur etwa 3 Prozent der gesamten Bevölkerung an einer Neuropathie leiden, haben davon ca. 30 Prozent einen Diabetes – weitere Ursachen sind Infektionskrankheiten, wie Borreliose (wird durch Zecken übertragen) und HIV-Infektionen, und vor allem der übermäßige Alkoholkonsum.
Das Nervensystem bildet vom Scheitel bis zur Sohle ein Netz von Nervenzellen (Neuronen), das nahezu jeden Teil unseres Körpers bedeckt – nicht nur die Oberfläche unserer Haut, die dadurch sehr empfindlich auf äußere Reize reagiert. Es bezieht seine Informationen aus dem zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark) und leitet sie an die Peripherie (z. B. Beine) weiter; es empfängt auch Empfindungen der Sinnesorgane (Auge, Ohren etc.).
Über außenliegende Nerven z. B. der Hände und Beine werden auch Reize wie Hitze, Kälte, Berührungen und Schmerz an Gehirn und Rückenmark weitergeleitet. Umgekehrt erregen periphere Nerven auch die Muskeln, die so in die Lage versetzt werden, sich zusammenzuziehen.
(Quelle: Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2015)
Das Nervengewebe besteht aus verschiedenen Zellen mit unterschiedlichen Aufgaben:
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Neben dem zentralen Nervensystem, sprich Gehirn und Rückenmark, spielt vor allem das periphere Nervensystem im Zusammenhang mit Diabetes eine entscheidende Rolle. Es besteht aus:
Die peripheren Nervenzellen und -bahnen verbinden alle Körperorgane und die Peripherie (Beine, Arme) mit dem zentralen Nervensystem (Rückenmark, Gehirn).
Nervenzellen besitzen die gleichen Grundstrukturen wie jede menschliche Zelle. Damit die allein im Gehirn vorhandenen 100 Mrd. Nervenzellen Informationen übertragen und weiterverarbeiten können, müssen sie bestimmte Fähigkeiten besitzen:
Damit ein Neuron (Nervenzelle) überhaupt Informationen in elektrische Impulse übersetzen kann, gibt es wie bei einem elektrischen Schalter den Zustand “ein” oder “aus”. Wie bei jeder menschlichen Zelle besteht zwischen dem Äußeren der Zelle und dem Inneren eine elektrische Spannung (Membranpotential), das auf der unterschiedlichen Verteilung von Blutsalzen (Kalium, Natrium) zwischen innen und außen beruht.
Im Ruhezustand ist in der Zelle 40-mal mehr Kalium enthalten als außen – das Innere der Zelle ist negativ geladen. Natrium ist dagegen außen 12-mal höher konzentriert als innen. Dieser Zustand wird aktiv durch eine Art Pumpe (Natrium-Kalium-Pumpe, aktiver, energieverbrauchender Prozess) aufrechterhalten, damit eine Zelle immer wieder erneut erregt werden kann.
Wenn ein Reiz auf eine Zelle auftrifft, dann geht dieses Gleichgewicht zwischen Innen und Außen verloren und ein Strom fließt (Aktionspotential) – anschließend muss alles wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden (Natrium-Kalium-Pumpe), damit eine weitere Erregung nach Reizung erfolgen kann.
Damit die Nervenzelle diesen Funktionen gerecht werden kann, hat sie folgenden Aufbau:
Ein Neuron besteht aus einem Zellkörper und Zellfortsätzen (Dendriten). Über bestimmte Dendriten, die baumartig verzweigt sind, werden Erregungen (Reize) aufgenommen und über das Axon in Endverzweigungen fortgeleitet, wo sie über unzählige Synapsen an Dendriten der nächsten Nervenzelle weitergegeben werden. Die Übertragung an den Synapsen erfolgt über bestimmte Überträgerstoffe (z. B. Serotonin) auf die nächste Nervenzelle, wo ein neuer elektrischer Impuls ausgelöst und fortgeleitet wird.
Ein Mangel an Überträgerstoffen in den Synapsen kann z. B. im Gehirn Depressionen, Morbus Parkinson oder auch eine Schizophrenie mit verursachen oder verstärken.
Große, dicke Nervenfasern haben eine Art Fett-Eiweiß-Scheide (Myelin), die sie schützt und eine schnellere Erregungsleitung ermöglicht. Die Erregung springt quasi von Abschnitt zu Abschnitt und ermöglicht so eine viel schnellere Leitung als bei einer kontinuierlichen, gleichmäßigen Leitung in Nervenfasern ohne diese Hülle.
Vergleich:
Damit alle diese elektrischen Vorgänge funktionieren können, muss beim Menschen immer eine bestimmte Menge an Kalium, aber auch Natrium (Bestandteil von Kochsalz) im Blut vorhanden sein. Die Myelinscheide von Nerven kann im Rahmen eines schlecht eingestellten Diabetes direkt oder indirekt geschädigt werden – eine Verlangsamung der Erregungsleitung kann so die Folge sein.
Nervenerkrankungen insbesondere in Form einer “peripheren Polyneuropathie” bei Diabetes sind häufig. Ursache ist in der Regel ein über längere Zeit schlecht eingestellter Diabetes. Hohe Zuckerwerte schädigen direkt über eine schlechte Diabeteseinstellung und indirekt (durch eine schlechte Durchblutung) oft gemeinsam mit anderen Ursachen (z. B. Rauchen, Fettstoffwechselstörungen, Alkohol) die Nervenzellen.
Eine rechtzeitige gute Blutzuckereinstellung kann, wie auch Studien zeigen, die Funktion der Nerven normalisieren mit Besserung der Beschwerden. So lassen sich auch schwerwiegende Komplikationen wie Amputationen entweder ganz vermeiden oder zumindest hinauszögern.
von Dr. Gerhard-W. Schmeisl
Internist/Angiologe/Diabetologe, Chefarzt Deegenbergklinik sowie Chefarzt Diabetologie Klinik Saale (DRV-Bund)
Kontakt:
Deegenbergklinik, Burgstraße 21, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71/8 21-0
sowie Klinik Saale, Pfaffstraße 10, 97688 Bad Kissingen, Tel.: 09 71/8 5-01
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2015; 64 (3) Seite 32-35
5 Minuten
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