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In meiner Zeit in der Diabetes-Klinik habe ich zahlreiche Blutzuckerkurven gesehen und konnte schon vorher die Persönlichkeit des Patienten nennen. Insgeheim machte ich ein Spiel draus und schaute mir vor dem Patienten seine Blutzuckertagebücher an. Ich konnte den Menschen anhand seiner Blutzuckerkurve analysieren.
Ein Beispiel eines 18-jährigen Mädchens: Ihr Blutzucker war wochenlang tagsüber im Normbereich, aber nachts in katastrophalen Höhen.
Beim Vorbeigehen lächelte sie mich flüchtig an und mein Fokus lag auf ihren Zähnen. Sie war recht dünn und ich wusste: Ihrer Blutzuckerkurve nach zu urteilen hatte sie eine Essstörung. Ihre Zähne sahen angegriffen aus. Die Ärzte meinten, dass nachts ein Insulinmangel bestehe und sie nachts einfach mehr Insulin benötige. Aber im Krankenhaus hatte sie Werte nachts im Normbereich. Warum stimmte also ihre Kurve nicht?
Die Meinung der Ärzte vertrat ich nicht, dass dies einfach nur das Resultat eines regelmäßigen Tagesablaufs sei. Ich wusste: Dies ist eine Essstörung. Ich versuchte, mich mit dem Mädchen anzufreunden und ihr Vertrauen zu gewinnen. Ich nahm mir die Zeit für sie und sie erzählte mir nach einigen Tagen, dass sie tagsüber nichts esse, weil sie Angst hätte zuzunehmen, und nachts, wenn ihre Eltern schliefen, schlich sie sich in die Küche und aß bis zum Erbrechen. Natürlich steckte sie sich auch den Finger in den Hals – was den Zustand ihrer Zähne erklärte – und den Rest spritzte sie sich nicht weg. Eine gefährliche Mischung, Insulin-Purging und Binge-Eating.
Ich schaute ihr in die Augen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Warum tat sie das? Jede Nacht schwor sie sich, damit aufzuhören, und doch wiederholte sie dies jeden Tag aufs Neue. Jeder neuer Morgen brachte ihr einen Neubeginn und jede Nacht verfiel sie ihrer Sucht.
Warum sie das tat, wusste sie nicht, meinte sie. Ich wusste nur, dass dieses Mädchen Hilfe benötigt, und hoffte, sie würde diese annehmen.
Eine andere Blutzuckerkurve zeigte mir eine außergewöhnliche Regelmäßigkeit auf. Dieser Mensch aß zu geregelten Zeiten und spritzte sich zu regelmäßigen Zeiten. Mir fiel jedoch noch auf, dass er sich ungewöhnlich oft maß. 20-mal täglich.
Zunächst dachte ich, dass dieser Mensch ein ängstlicher Mensch sei, der verzweifelt versuchte, die Kontrolle über seine Erkrankung zu gewinnen. Es könnte auch eine Angst vor Folgeerkrankungen sein. An manchen Tagen jedoch, an denen Blutzuckerschwankungen auftraten, maß er sich gar nicht. Bei hohen Werten nur dreimal täglich. Warum?
Nach längerem Überlegen war ich mir sicher, dass dieser Mensch ein Perfektionist ist. Perfektionismus – ein übertriebenes Streben nach möglichster Fehlervermeidung. Was sich selbstzerstörerisch auswirken kann, wenn sich dies bei der Therapie einer solchen Erkrankung abspielt. Eine Blutzuckerschwankung ist kein Fehler und sollte zwar analysiert werden, aber man sollte sich keine Vorwürfe machen, denn das bringt nur Selbsthass und Selbstverachtung mit sich. Meine Überlegungen hatten sich bestätigt.
Dieser Mann saß weinend vor mir und fasste sich an den Kopf, schaute auf den Boden und ich sah nur Tränen auf den Boden tropfen. Er flüsterte nur diesen einen Satz: „Was mache ich denn falsch? Ich versuche doch alles Erdenkliche, um es richtig zu machen.“
Das brach mir fast das Herz, doch habe ich die Professionalität eines Psychologen nicht und maße mir nicht an, ihm bei seinem Problem helfen zu können. Jedoch tat ich das, was ich für richtig hielt, und nahm ihn in den Arm. Auch wenn eine gewisse Distanz zum Patienten gehalten werden sollte, entschied ich für mich, dass dieser Mensch das jetzt braucht, und als ich das tat, brach er komplett in Tränen aus und erzählte mir, dass er nur noch seine Krankheit sieht und nichts anderes mehr. Dass er an Tagen, an denen er gute Werte hätte, sich psychisch gut fühle, und was an den anderen Tagen ist, könnt ihr euch sicher denken.
Die dritte Blutzuckerkurve, die ich sah, war konstant hoch. Keine regelmäßigen Messungen, nur waren die Werte, die gemessen wurden, hoch. Konstant hoch. Die Frau hatte ein FreeStyle Libre und ich betrachtete nur die Werte und die Kurve auf dem Gerät im Dienstzimmer.
Ich vermutete, dass es diesem Menschen an Selbstliebe mangelte, und dachte mir, dass diese Person entweder durch eine schwere Zeit ging und an einer depressiven Episode litt, oder aber, dass dieser Mensch generell an einer Depression litt. Es stellte sich heraus, dass diese Frau ihren Mann verloren und ihre Mutter vor kurzem einen Schlaganfall erlitten hatte. Diese Menschen benötigten zwar Hilfe, aber hatten keine neue Einstellung nötig.
Es ist wichtig, den Kern des Problems zu erkennen. Denn aus eigener Erfahrung weiß ich, wie höchst intim es ist, wenn ein Arzt einen fragt, was an dem Tag passiert sei, wenn der Blutzucker mal in die Höhe zischte. Sei es Insulin-Purging, Depressionen, ein schlechter Tag, ein Krankheitsfall oder gar Todesfall in der Familie – die Gefühle und das Leben spiegeln sich in der Kurve wider. Ein glücklicher Tag und ein schlechter Tag. Alles spiegelt sich in der Blutzuckerkurve wider. Jedes Mal versucht man, sich zu rechtfertigen und traut sich oft nicht, über das eigentliche Problem zu sprechen. Dann wird die Diagnose gestellt – „schwer einstellbarer Diabetes mellitus Typ 1“.
Liebe Familenangehörige, Freunde, Bekannte, Ärzte, Schwestern, bitte bedenkt all dies. Ein schlechter Blutzuckerverlauf kann auch andere Ursachen als einen verstopften Katheter oder eine vergessene Injektion haben. Ein tiefer sitzendes Problem, was gelöst werden kann, wenn es erkannt wird und somit auch Folgeerkrankungen vermieden werden können.
Am Ende war es kein Spiel mehr für mich, nur das Bedürfnis, das eigentliche Problem mittels einer Analyse zu erkennen und an die geeigneten Therapeuten zu vermitteln.
Liebe Grüße,
Eure Bilge
Wie analysieren Diabetologen Blutzuckerverläufe? Antje hat beim DDG-Kongress genau hingehört.
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