9 Minuten
Seit zwei Jahren lebt Emilio Sanchez mit Typ-1-Diabetes. Der Start war nicht einfach, wie er und seine Mutter erzählen – aber heute gehen sie sehr positiv damit um.
Steht vor uns ein neuer Olympia-Teilnehmer im Tischtennis? Wenn es nach dem Wunsch von Emilio Sanchez aus Berlin geht, möglicherweise. Der Zehnjährige spielt aktiv im Verein und meint im Interview verschmitzt zu seiner Mutter Jennifer: „Besser als du bin ich schon.“ Was sie bestätigt. Auch „ein bisschen Basketball“ spielt er. Sein Typ-1-Diabetes, der vor zwei Jahren auftrat, hält Emilio nicht von sportlichen Aktivitäten ab. Und auch sonst ist er ein ganz normaler Junge – eben mit der Besonderheit der chronischen Erkrankung.
Die Diagnose hat Emilio, wie sich seine Mutter erinnert, direkt angenommen: „Okay, wenn das jetzt die einzige Möglichkeit ist, dass es mir wieder gut geht, dann mache ich das – auch wenn es nervig ist.“ Für Jennifer Sanchez war der Weg länger, auch, weil der Beginn der Erkrankung bis auf die Intensivstation geführt hatte und es Emilio mit einer starken Übersäuerung des Körpers, also einer Ketoazidose, wirklich schlecht ging.
Begonnen hatte es mit einem normalen Infekt. Der damals Achtjährige war erschöpft, hatte Husten und Schnupfen. Kurzzeitig hatte er sich etwas erholt – aber ein oder zwei Tage später ging es ihm abrupt schlechter. Nun erbrach er auch und wollte nichts mehr essen. Er lag nur noch im Bett und wurde immer schläfriger. Beim Kinderarzt wurde ihnen gesagt, wie Jennifer berichtet: „Noch ein bisschen mehr Zeit geben, das ist bestimmt noch vom Infekt.“
Heute weiß sie: Der Arzt hatte die Anzeichen nicht ernst genommen oder konnte sie vielleicht nicht zuordnen. So schickte er Mutter und Sohn mit einem Nasenspray zur Behandlung des Infekts wieder nach Hause. Emilios Zustand wurde aber deutlich schlechter einen Tag danach. „Da habe ich gedacht: In so einem schlechten Zustand habe ich ihn noch nie gesehen. Da muss etwas passieren. Wegen des Erbrechens hielten wir es für ein Magen-Darm-Virus.“
Bereits mit gepackter Tasche fürs Übernachten fuhr sie in die Notaufnahme des nahegelegenen Krankenhauses und bat um die Untersuchung ihres Sohns. Auch hier wurde alles auf einen Infekt geschoben: „Das ist bestimmt ein Magen-Darm-Virus. Hier ist eine Glukose-Elektrolyt-Lösung, der ist ja vollkommen dehydriert.“ Ein Fünftel seines Körpergewichts hatte Emilio bis dahin bereits verloren. Er war auch nur noch wenig ansprechbar. Trotzdem wurden sie auch hier wieder nach Hause geschickt – „und ich habe das medizinische Personal wirklich angefleht, uns dazubehalten und zu gucken, was los ist, einen Bluttest zu machen, irgendwas zu testen“.
Die Nacht war dann noch schlimmer als die vorherige. Als man sie bei einem Anruf in der Notaufnahme des Krankenhauses wegen fehlender Betten gar nicht erst kommen ließ, fuhr sie mit Emilio in ein anderes Krankenhaus. „Dort haben sie bei einer Routine-Urin-Untersuchung in der Notaufnahme sofort gemerkt, was da nicht stimmt, und unser Fall wurde direkt zu lebensgefährlich hochgestuft, sodass wir sofort zur Behandlung drankamen.“ So ging es auf die Intensivstation. Hier ging es schnell aufwärts: „Am nächsten Tag ging es ihm dann schon deutlich besser. Er war immer noch komplett schwach. Aber man konnte wieder mit ihm sprechen und er hat sogar gesagt, er hat Hunger.“
Emilios Diabetes hält Familie Sanchez von nichts mehr ab. Bei einer USA-Reise konnte der Zehnjährige auch mit einem Diabetes-Warnhund spazieren gehen.
Was sie sich heute, nach dieser Erfahrung, wünschen würde, wäre bundesweit eine frühere Aufklärung und die Möglichkeit des frühen Screenings: „Hätte man mir zum Beispiel bei früheren U-Untersuchungen oder nach der Geburt ein Screening zum Typ-1-Risiko angeboten, dann hätte ich vorab wenigstens schon einmal von Typ-1-Diabetes gehört. Und ganz egal, wie meine Entscheidung für oder gegen ein Screening ausgegangen wäre, allein das Angebot hätte mich dazu bewegt, mich über Diabetes zu informieren. Vielleicht hätte man mir auch einen Flyer mit den Symptomen mitgegeben oder ich hätte dazu online nachgelesen. Ich bin mir aber sicher, dass durch frühzeitige Aufklärung solch dramatische Manifestationen verringert werden können.“
Nach drei Tagen wurde Emilio in ein Krankenhaus verlegt, das unter anderem eine Abteilung hatte, die spezialisiert war auf Kinder mit Diabetes. Und hier lernte Familie Sanchez dann viel über Typ-1-Diabetes. Sie bekamen eine zweiwöchige Einzelschulung. Zusätzlich gab es täglich Aufgaben, die zu bearbeiten waren. Auch für Emilio war es informativ: „Ich bin kein Zuhörer, aber ich konnte es verstehen.“ Und ergänzt: „Rechnen fand ich cool.“ Selbst der dabei notwendige Dreisatz, der in der Schule zu diesem Zeitpunkt noch kein Thema gewesen war, brachte ihn nicht aus der Ruhe.
Mit einer intensivierten Insulintherapie (ICT) mit Insulinpen und einem Blutzucker-Messgerät wurden sie entlassen und konnten so in den neuen Alltag starten. „Damals kannte ich ja nichts anderes, also fand ich das okay. Aber jetzt fände ich es irgendwie cool, wenn die mir damals gleich einen Sensor gegeben hätten“, erklärt Emilio bedauernd. Bis er einen Sensor zum kontinuierlichen Messen der Glukosewerte bekam, dauerte es aber dann nicht allzu lange. Ein Rezept für den FreeStyle Libre hatten sie bereits im Krankenhaus bekommen, die Kostenübernahme der Krankenkasse kam nach etwa zwei bis zweieinhalb Wochen.
Klug, wie Emilio ist, hatte er schnell gemerkt, dass er kein Insulin brauchte, wenn er keine Kohlenhydrate aß. So konnte er sich das Spritzen sparen. Dass das auf Dauer keine Lösung sein konnte, war Jennifer Sanchez schnell klar. Auf der Suche nach Möglichkeiten stieß sie auf ein Hilfsmittel: „Ich habe über die Online-Community den i-Port Advanced gefunden und unsere Ärztin darauf angesprochen.“
Der runde i-Port des Anbieters Medtronic wird auf die Haut gesetzt, eine Soft-Kanüle reicht ins Unterhautfettgewebe. Durch eine Membran in der Mitte wird die Penkanüle eingestochen, ohne bis zur Haut zu gelangen. So muss nur etwa alle drei Tage, wenn der i-Port gewechselt wird, eine Kanüle in die Haut gestochen werden – jede weitere Injektion ist nicht zu spüren.
Hier fühlte sich Mutter Jennifer alleingelassen: „Ich hätte mir schon gewünscht, dass man mehr Sachen angeboten bekommt, weil die Problematik mit der Kohlenhydrat-Vermeidung den Ärzten bekannt war. Aber sie haben uns keine konkrete Lösung angeboten und das war dann für uns eine sehr gute Lösung.“ Sie ergänzt: „Natürlich wäre eine Pumpe einfacher, aber da waren wir noch nicht, an dem Punkt. Das steht jetzt erst im Raum.“
Emilio und seine Mutter sind ein tolles Team. Viel macht er schon allein, aber manchmal hilft sie ihm beim Setzen des Sensors oder des i-Ports.
Die ersten Monate mit dem Diabetes von Emilio waren, anders als für ihn, für seine Mutter alles andere als leicht. „Für mich war das deutlich schwieriger anzunehmen als für dich“, sagt sie und sieht ihren Sohn an. „Erstmal natürlich, weil es mir ja nicht schlecht ging, sondern ich habe es bei meinem Kind gesehen. Da waren natürlich viele Gefühle gleichzeitig da zwischen Trauer und Kontrollverlust, dieses Ausgeliefertsein an eine Krankheit, von der man keine Ahnung hatte und von der man eben auch wusste, dass sie nicht weggeht.“
Schuldgefühle begleiteten sie zuerst, „obwohl die natürlich da gar nichts zu suchen haben, wie ich jetzt weiß“. Etwa vier bis fünf Monate war sie aus dem Arbeitsalltag raus: „Es hat so alles eingenommen, es war eine sehr intensive Trauerphase.“
Mit professioneller Hilfe durch eine Coachin gelang es ihr, mit dieser Trauer ein bisschen abzuschließen und die Situation anzunehmen. „Was dann noch mal sehr emotional war, war der erste Jahrestag, der Diaversary.“ Den verlebte Familie Sanchez bei der Veranstaltung „Meilensteine der modernen Diabetologie“ der Organisation diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe.
„Das hat ganz viel ins Positive gekehrt, zu spüren, dass da eine wirklich riesige Community ist und so viele Menschen dort draußen sind, die sich gegenseitig unterstützen und helfen.“
Jennifer und Emilio Sanchez an Emilios erstem Diaversary bei „Meilensteine der modernen Diabetologie“ 2023
„Das war für uns das erste Event, wo wir Austausch mit Gleichgesinnten hatten und Emilio auch andere Menschen mit Diabetes getroffen hat. Das hat noch mal ganz viel ins Positive gekehrt, zu spüren, dass da eine riesige Community ist und so viele Menschen dort draußen sind, die sich gegenseitig unterstützen und helfen und die das Gleiche durchmachen und die die Gefühle verstehen, die damit kommen, und die Kämpfe, die man da im Unsichtbaren führt.“
Das war auch der Moment, als ihr Instagram-Kanal zum Thema Diabetes geboren wurde: www.instagram.com/dia_typ1. Hier posten die beiden über unterschiedliche Themen, erzählt Jennifer Sanchez: „Das Thema Familie ist auf jeden Fall ein großer Teil. Genauso wie mentale Gesundheit. Darüber spreche ich sehr offen, weil es ja sonst eher ein Thema ist, das viel tabuisiert wird. Man muss ja immer funktionieren, es soll immer alles top sein – so ist es aber im wahren Leben nicht. Ich glaube, wenn man den Mut hat, das offen auszusprechen, dass dies auch anderen Menschen helfen kann.“
Auch die Sichtbarkeit des Diabetes thematisieren sie, weil er auch oft mit Stigmatisierung behaftet ist. So wollen sie Vorurteilen entgegenwirken und aufklären – und auch zeigen, was für ein Arbeitsaufwand hinter dem Management eines Typ-1-Diabetes steht. Mit dem Kanal erreichen sie nicht nur Menschen in der Diabetes-Bubble, sondern zum Beispiel auch die Klassenkameraden von Emilio und deren Eltern und die Arbeitskollegen von Jennifer Sanchez.
Gefragt, was Emilio beim Diabetes-Management schon allein schafft und wobei er seine Mutter noch braucht, antwortet er grinsend selbstbewusst: „Ich schaffe theoretisch eigentlich alles, aber natürlich nehme ich jede Hilfe an.“ Seine Mutter konkretisiert: Die Eltern erinnern ihn an eine zweite Insulin-Injektion bei Mahlzeiten mit verzögerter Aufnahme der Kohlenhydrate oder an die Injektion seines langwirksamen Insulins.
Auch beim Berechnen von Mahlzeiten unterstützen sie ihn, um ihm den Alltag zu erleichtern: „Wir bereiten das Essen im Hort vor, indem wir vom Caterer, der das Essen in der Schule zur Verfügung stellt, uns vorher eine Nährwertangabe und den Speiseplan zuschicken lassen. Dann schreiben wir Portionen auf, von denen wir wissen, dass es so ungefähr den Portionen entspricht, die er isst. Da rechnen wir schon die Kohlenhydrate aus, schreiben sie auf einen Zettel, für jeden einzelnen Bestandteil des Essens, zum Beispiel: die Gramm Kohlenhydrate für die Kartoffeln oder für die Nachspeise. Dann muss er, wenn er irgendwas davon nicht essen möchte, sich das nicht auseinanderrechnen, sondern sieht, wie viel für jeden Teil.“
Beim Essen hat Emilio nämlich spezielle Gewohnheiten. So isst er zum Frühstück am liebsten einfach nur Eier in unterschiedlicher Zubereitung, was ihm Glukose-Spitzen und Sensor-Alarme in der Schule erspart. Das stößt, wie Jennifer Sanchez berichtet, nicht überall auf Verständnis, dass er ohne Kohlenhydrate startet, aber es funktioniert für ihn, wie sie beobachtet haben.
Emilio liebt Eier zum Frühstück, das spart ihm eine Insulingabe. Noch nutzt er Insulinpens, aber die Insulinpumpe steht schon in den Startlöchern.
Damit auch seine Klassenkameradinnen und -kameraden Bescheid wissen, spielte Emilio mit ihnen ein Quiz. Er zeigte ihnen Bilder von unterschiedlichen Lebensmitteln und fragte sie: „Darf ich das essen?“ Im nächsten Schritt kam die Frage: „Muss ich dafür spritzen?“ So erklärte er ihnen, was es bedeutet, mit Typ-1-Diabetes zu leben, und, dass er weiterhin alles essen darf.
Seine Insulinpens und sein Blutzucker-Messgerät zeigte er ihnen auch – nur, als er sich zum Messen in die Fingerkuppe stach, mussten manche wegen des Bluts wegsehen. Jennifer Sanchez erklärt: „So haben wir sofort, nachdem er wieder in die Schule kam, das Ganze ein bisschen entmystifiziert. Da ist also nichts heimlich abgelaufen.“
Auch, dass er bei einer Unterzuckerung im Unterricht etwas essen muss und darf, ist so für die anderen in der Klasse kein Problem: „Wenn er es jetzt rausholt, ist es fast schon so, als würde es die anderen gar nicht interessieren. Das gehört dazu, die Klassenkameraden hinterfragen das nicht.“
Und in den Ferien traut sich die Familie inzwischen auch wieder, auf Reisen zu gehen. Anfang dieses Jahres ging es für sechs Wochen in die USA. „Das war unsere allererste Reise mit dem Diabetes. Das war eine große Herausforderung – und für uns war das ein schöner Lerneffekt.“
Eineinhalb Jahre hatten sie sich nicht getraut, weil es ihnen als zu großes Hindernis erschien. „Wir sind dann ins kalte Wasser gesprungen und haben gemerkt, dass es viel besser ging, als wir vorher erwartet hätten. Auch mit dem fremden Essen hat es viel besser geklappt.“
Jennifer Sanchez zieht den Schluss: „Das hat uns auch auf jeden Fall noch mal Mut gegeben, dass man trotzdem alles machen kann, verreisen kann und in der Situation immer was dazulernt. Man sollte eben nur gut vorbereitet sein.“
Erschienen in: Diabetes-Anker, 2024; 72 (11) Seite 54-57
2 Minuten
Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.
Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.
Beliebte Themen
Ernährung
Aus der Community
Push-Benachrichtigungen