Geschwisterkinder – Schattenkinder?

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Geschwisterkinder – Schattenkinder?

Im turbulenten Familienalltag ist es nicht immer leicht, den Bedürfnissen aller Familienmitglieder gerecht zu werden – insbesondere, wenn ein Kind Diabetes hat und viel Zuwendung benötigt. Eltern machen sich daher häufig Sorgen, dass die gesunden Geschwister zu kurz kommen. Psychologin Dr. Gundula Ernst gibt Tipps, wie Geschwister ohne Diabetes entlastet und ihre Sorgen und Ängste ernst genommen werden können.

Die chronische Krankheit oder Behinderung eines Kindes stellt eine Herausforderung für die gesamte Familie dar. Auch die Geschwister bleiben davon nicht unbeeinträchtigt. Der besondere Versorgungsbedarf fordert viel Zeit und Aufmerksamkeit von den Eltern und führt dazu, dass meist das kranke Kind im Mittelpunkt steht. Die gesunden Kinder akzeptieren das in der Regel und stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Sie wollen ihre Eltern nicht noch mehr belasten.

Auch sie machen sich Sorgen um ihr krankes Geschwister. Sie sind traurig, wenn es ihm schlecht geht und haben Angst, dass ihm etwas Schlimmes passieren könnte. Besonders jüngere Kinder haben häufig fehlerhafte oder übertriebene Vorstellungen von der Erkrankung, die ihnen Angst machen („Wenn die Zuckerwerte niedrig sind, stirbt meine Schwester.“). Wenn das Umfeld dies mitbekommt, versucht es häufig, das Kind zu beruhigen, ohne ernsthaft auf die Ängste einzugehen („Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.“).

Geschwisterkinder kommen oftmals zu kurz


Mia kommt begeistert zur Haustür hereingestürmt. Sie will ihrer Mutter sofort erzählen, dass sie eine Rolle beim Schultheaterstück bekommen hat. Aber die Mutter sitzt sorgenvoll am Küchentisch und sagt zu jemandem am Telefon: „Ich weiß nicht mehr weiter. Die Werte spielen völlig verrückt.“ Mia versteht sofort, dass es um ihre Schwester Leni geht, die Diabetes hat. Erst gestern hat sie ihre Eltern leise darüber reden hören, dass Lenis Werte so schlecht sind. Sie weiß, dass das gefährlich ist und hat Angst um Leni.

Ihre Mutter legt auf und sagt zu ihr: „Ich hole Leni gleich aus der Kita ab und fahre mit ihr zum Arzt. Ich mache dann später die Pfannkuchen, die ich dir versprochen habe.“ Während die Mutter ihre Sachen zusammensucht, will Mia von dem Theaterstück berichten. Ihre Mutter meint jedoch: „Erzähl es mir später, Schatz. Jetzt muss ich los.“ Als die Tür ins Schloss fällt, fühlt sich Mia sehr einsam.

Manchmal empfinden Geschwister auch Wut oder Eifersucht, wenn sie den Bruder bzw. die Schwester für die fehlende Verfügbarkeit der Eltern verantwortlich machen. Diese Emotionen werden oft vom Umfeld als falsch bewertet („So darfst du nicht über deine Schwester reden. Die Arme ist doch nicht extra krank.“) oder aus Scham verschwiegen. Das gesunde Kind lernt damit, seine Gefühle für sich zu behalten und zu unterdrücken.

Bei manchen Familien kommt es zu zusätzlichen Risikofaktoren: Wenn das Geschwisterkind beispielsweise einsam ist, weil es häufig allein gelassen wird. Wenn sich die Familie zurückzieht und sozial isoliert ist. Wenn dem Geschwister übermäßig Verantwortung für das erkrankte Kind übertragen wird. Oder wenn die Leistungserwartungen an das gesunde Kind besonders hoch sind. Wenn Krankheiten nach außen sichtbar sind, kann es auch zu Erfahrungen von Diskriminierung und Mobbing kommen.

Risiken und Chancen durch die Geschwistersituation

Studien zeigen, dass Geschwister von chronisch kranken oder behinderten Kindern ein erhöhtes Risiko für psychische Beeinträchtigungen haben. Dabei stehen das Unterdrücken von Gefühlen, depressive Stimmung, Ängste und sozialer Rückzug im Vordergrund. Bei manchen Kindern kann es aber auch zu Aggressionen und Verhaltensauffälligkeiten kommen.

Auf der anderen Seite können Geschwister aber auch von dem engen familiären Zusammenhalt und dem Erleben sozialer Unterstützung profitieren. Häufig wird bei ihnen ein hohes Maß an Selbständigkeit, Reife, Empathie, Toleranz und sozialem Engagement beobachtet. Die Aussage, dass Geschwister von chronisch kranken oder behinderten Kindern generell „Schattenkinder“ sind, ist also falsch.

Bei ca. einem Drittel der Kinder findet man einen vermehrten Leidensdruck durch die Geschwistersituation. Dieser ist bei ca. 10 Prozent der Geschwister schwer und damit behandlungsbedürftig. Ob es dazu kommt, scheint einerseits von der Schwere der krankheitsbedingten Belastungen abzuhängen und andererseits davon, wie die Familie mit den Anforderungen umgeht und welche Ressourcen sie zur Verfügung hat. Dies kann eine persönliche Eigenschaft wie Gelassenheit in hektischen Situationen sein, ein funktionierendes soziales Netzwerk, das bei Bedarf einspringt, oder auch ausreichend finanzielle Mittel für zusätzliche Unterstützungsmöglichkeiten.

Unterstützung für Geschwisterkinder

Im Folgenden finden Sie Tipps, wie Sie Belastungen reduzieren und Ressourcen stärken können. Bei schwerwiegenden Problemen sollten Sie jedoch Ihren Kinder- und Jugendarzt kontaktieren. Rat und Unterstützung erhalten Sie auch bei Familien- und Erziehungsberatungsstellen.


❶ Wissen reduziert Angst

Um ihre Kinder zu schützen, sind manche Eltern sehr zurückhaltend mit Informationen zur Erkrankung. Dies nimmt den Kindern die Chance, die Erkrankung zu verstehen und angsterzeugende Vorstellungen, beispielsweise zu den Ursachen, zur Ansteckung oder zu den Risiken, zu korrigieren. Der offene Umgang mit Fragen und die altersgerechte Aufklärung wirken hingegen entlastend für Kinder. Auch anschauliche Bücher und Geschwister-Workshops, die es mancherorts gibt, können dabei helfen.


❷ Sie sind Vorbild

Ihr Umgang mit der Erkrankung beeinflusst maßgeblich, wie Ihre Kinder die Erkrankung erleben.


❸ Hören Sie Ihrem Kind zu

Durch aufmerksames Zuhören erfahren Sie mehr über die Ideenwelt, die Gefühlslage und die Bedürfnisse Ihres Kindes und können angemessen darauf reagieren.


❹ Umgang mit Gefühlen

Signalisieren Sie Ihrem Kind, dass Gefühle wie Ärger, Traurigkeit, Enttäuschung und Eifersucht im Zusammenhang mit dem kranken Geschwister normal und erlaubt sind. Ihr Kind darf sie zeigen und muss deswegen kein schlechtes Gewissen haben.


❺ Schützen Sie Ihre Kinder

Schützen Sie Ihre Kinder vor Überforderung. Übertragen Sie ihnen keine Verantwortung für die Versorgung, die sie nicht leisten können. Erarbeiten Sie bei Bedarf gemeinsam einen altersgerechten „Notfallplan“ (z. B. den Notruf 112 anrufen oder den Nachbarn Bescheid sagen).


❻ Exklusivzeiten planen

Planen Sie Exklusivzeiten für das gesunde Kind ein. Kleine, aber regelmäßige Dinge (z. B. 10 Minuten Kuschelzeit am Abend; aufmerksames Zuhören beim Mittagessen, wenn das Kind von seinen Erlebnissen in der Schule berichtet) sind dabei mehr wert als große, aber seltene Ereignisse. Vielleicht können zusätzlich andere nahestehende Personen (z. B. Großeltern, Paten) Exklusivzeit mit dem Geschwisterkind verbringen.


❼ Soziale Kontakte

Fördern Sie soziale Kontakte, Hobbys und “Energietankstellen” Ihres Kindes. Sie dienen dem Stressabbau und sind Quelle für Selbstvertrauen.


❽ Reden Sie mit Ihrem Kind

Reden Sie bei Bedarf mit Ihrem Kind über Diskriminierung und Mobbing. Überlegen Sie gemeinsam, wie man am besten in solchen Situationen reagiert.


❾ Hilfe in Anspruch nehmen

Nehmen Sie Hilfe in Anspruch. Sie müssen nicht alles alleine schaffen. Vielleicht kann jemand Sie entlasten, so dass Sie mehr Zeit für das Geschwisterkind haben.


❿ Am wichtigsten

Sagen und zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie es genauso lieben wie das Geschwisterkind auch!


Weiterführende Informationen


Weitere Informationen zum Geschwisterthema inklusive Fragebogen zur Belastungseinschätzung für Eltern und Kinder sowie einer ­Online-Suchfunktion für passende Geschwisterangebote bietet die Stiftung Familienbande unter www.stiftung-familienbande.de.

Autorin:

Dr. Gundula Ernst
Medizinische Psychologie
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover

Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2021; 12 (3) Seite 14-16

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  • Hallo Zusammen,
    ich reise seit meinem 10. Lebensjahr mit Diabetesequipment…
    Auf dem Segelboot mit meinen Eltern, auf Klassenfahrt in den Harz direkt nach meiner Diagnose 1984. Gerne war ich wandern, am liebsten an der Küste. Bretagne, Alentejo, Andalusien, Norwegen. Zum Leidwesen meiner Eltern dann auch mal ganz alleine durch Schottland… Seit einigen Jahren bin ich nun als Sozia mit meinem Mann auf dem Motorrad unterwegs. Neben Zelt und Kocher nimmt das Diabeteszeug (+weiterer Medis) einen Großteil unseres Gepäcks ein. Ich mag Sensor und Pumpe- aber das Reisen war „früher“ leichter. Im wahrsten Sinne es Wortes. Da eben nicht so viel Platz für Klamotten bleibt, bleiben wir (noch) gerne in wärmeren Regionen. Wo ist bei fast 40 Grad Sonnenschein der kühlste Platz an einem Motorrad? Und was veranstalten Katheter und Schlauch da schon wieder unter dem Nierengurt? Nach einem Starkregen knallgefüllte, aufgeplatzte Friotaschen auf den Motorradkoffern, bei den Reisevorbereitungen zurechtgeschnippelte Katheterverpackungen, damit einer mehr in die Tupperdose passt… Oft muss ich über so etwas lachen- und bin dankbar, dass mir noch nichts wirklich bedrohliches passiert ist.
    Im September waren wir auf Sardinien und auf dem Rückweg länger in Südtirol. Ein letztes Mal mit meiner guten, alten Accu-Check Combo. Jetzt bin ich AID´lerin und die Katheter sind noch größer verpackt… 😉
    Mein „Diabetesding“ in diesem Urlaub war eine sehr, sehr sehr große Sammlung von Zuckertütchen. Solche, die es in fast jedem Café gibt. Die waren überall an mir… in jeder Tasche, in der Pumpentache, überall ein- und zwischengeklemmt. Und liegen noch heute zahlreich im Küchenschrank. Nicht, weil sie so besonders hübsch sind und / oder eine Sammlereigenschaft befriedigen… Ich habe beim Packen zu Hause auf einen Teil der üblichen Traubenzuckerration verzichtet, da ich nach jedem Urlaub ausreichend davon wieder mit nach Hause schleppe.
    Da wollte ich wohl dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit sicherstellen, bei Unterzuckerungen trotzdem ausreichend „Stoff“ dabei zu haben…
    Ich freue mich auf den nächsten Urlaub und bin gespannt, was für eine Marotte dann vielleicht entsteht. Und, ob ich vom AID wieder in den „Basalratenhandbetrieb“ schalte.
    Die Marotte allerdings kündigt sich schon an. Da ich ja nun das Handy dringend benötige, habe ich bereits eine Sicherungsleine an Handy und Innentasche der Jacke befestigt. So kann ich das Handy zum Fotografieren oder für das Diabetesmanagement heraus nehmen -ohne dass es die Alpen hinunter- oder ins Wasser fällt. Diabetesbedingte Paranoia. 😉
    Wenn ´s weiter nichts ist… .
    Ich würde übrigens lieber ohne Erkrankungen reisen. Aber es hilft ja nichts… und mit Neugierde, Selbstverantwortung und ein bisschen Mut klappt es auch so.
    Lieben Gruß und viel Vorfreude auf die nächsten Urlaube
    Nina

    • Hallo Nina,

      als unser Kind noch kleiner war, fand ich es schon immer spannend für 2 Typ1 Dias alles zusammen zu packen,alles kam in eine große Klappbox.
      Und dann stand man am Auto schaute in den Kofferraum und dachte sich oki wohin mit dem Zuckermonster,es war also Tetris spielen im Auto ;). Für die Fahrten packen wir uns genug Gummibärchen ein und der Rest wird zur Not dann vor Ort gehohlt.
      Unsere letzte weite Fahrt war bis nach Venedig

  • gingergirl postete ein Update vor 2 Wochen, 3 Tagen

    Hallo zusammen meine name ist chiara und ich bin seit knapp 3 monaten mit der diagnose diabetes typ 1 diagnostiziert. Eigentlich habe ich es recht gut im griff nach der diagnose die zweite woche waren meine werte schon im ehner normalen bereich und die ärzte waren beeindruckt das es so schnell ging da ich aber alles durch die ernährung verändert habe und strickt mich daran halte war es einfach und man sah es sofort.
    Ich habe ein paar Fragen kann man überall am oberarm den sensor ansetzten( da ich ihn jetzt eher etwas hoch habe beim muskel) und muss man jeden dexcom g7 sensor kalibrieren am anfang beim wechseln? .
    Und ich habe bei den overpatch pflastern immer so viel kleberesten am arm kann das am pflaster liegen? Weil es ist ein transparentes und ich habe das gefühl es kriegt wie keine luft… Ich hab mir jetzt nur mal neue pflaster bestellt aber bei einem ist kein loch wo der dexcom ein löchli hat
    Und wie ist das bei euch wegen abnehmen funktioniert das oder nicht?
    Und wie spritzt ihr wenn ihr ihn der Öffentlichkeit seit an einem fest /Messe oder so?
    Da ich nicht immer auf die Toilette renne kann?
    Danke schonmal im Voraus

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    • Hallo,

      Als ich noch die ICT Methode hatte habe ich bei Konzerten oder Messen mir das Kurzzeitinsulin in den Bauch gespritzt und das Langzeit oben am Gesäß.Hat meist keiner mitbekommen.
      Meinen Sensor setzte ich oben am Arm,ist für mich angenehmer 🙂
      Ich bin froh das die Technik so gut ist und nicht mehr so Steinzeitmäßig wie vor 42 Jahren *lach*

      LG Sndra

    • Hallo Chiara! Mit dem Spritzen habe ich es wie Sandra gemacht. Abnehmen ist echt schwierig – ich komme da nicht gut weiter, ich muss aber auch für zwei weitere Leute kochen und deren Essenswünsche sind da nicht unbedingt hilfreich. LG

  • hexle postete ein Update vor 2 Wochen, 4 Tagen

    Hat jemand Tipps bei einer Pfalsterallergie gegen dexcom g6. Ich muss die vorhandenen Sensoren noch verwenden, bis die Umstellung auf g7 durch ist.

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