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Auf der Suche nach einem guten Diabetologen verschlägt es Ben in eine Praxis in Erfurt, wo er Julia (Name von der Redaktion geändert) kennenlernt. Sie steht am Anfang ihrer Ausbildung zur Diabetesberaterin. Beide verlieben sich ineinander, meistern Diabetes und Ausbildung gemeinsam. Doch Julia hat ebenfalls gesundheitliche Probleme, leidet an einer psychischen Erkrankung. Im Oktober 2018 nimmt sich die junge Frau selbst das Leben. Ben hat mir seine bewegende Geschichte erzählt und zeigt eindrücklich, wie man den Diabetes auch bei schweren Schicksalsschlägen im Zaum halten kann.
Es war wie bei den meisten: Ich habe viel abgenommen und hatte unglaublichen Durst. Irgendwann ist mir dann sogar meine Arbeitshose runtergerutscht und die Löcher vom Gürtel reichten gar nicht mehr. Mir war auch die ganze Zeit schwindelig. Ich wollte die ganze Zeit nur Energy Drinks trinken und hatte schon so ein komisches Gefühl, dass es Diabetes sein könnte. Deswegen bin ich direkt an dem Montag, nachdem ich das erste Mal diesen Gedanken hatte, zum Hausarzt und habe darum gebeten, dass ein Blutzuckertest gemacht wird. Der Wert lag dann auch bei 26,9 mmol/l (490 mg/dl). Ich bekam sofort Insulin gespritzt, sollte etwas warten und dann hat man mich nach Hause geschickt, was ich bis heute nicht verstehe. Ich bekam noch den Rat, am nächsten Tag ins Krankenhaus zu gehen. Das war einfach nur seltsam.
Das war erst einmal wie eine Ohnmacht für mich. Ich wusste überhaupt nicht, was ich machen sollte. Ich bin nach Hause gegangen. Mein Sohn war zu dem Zeitpunkt gerade vier Wochen alt. Ich war gerade erst Vater geworden und erhalte dann so eine Diagnose. Das war im ersten Moment sehr überfordernd für mich. Ich bin am nächsten Tag ins Krankenhaus und dort wurde dann das erste HbA1c gemacht, das bei etwa 15% lag. Es hieß dann erst, dass ich im Krankenhaus bleiben müsste. Aber das war undenkbar, da ich meine Firma nicht alleinlassen konnte und noch weniger Frau und Kind.
Leider haben der Diabetes und mein Verhalten sehr an der damaligen Beziehung gerüttelt. In den folgenden Wochen, als ich versucht habe, damit dann klarzukommen, habe ich mich nicht verstanden und nicht unterstützt gefühlt. Im Nachhinein denke ich da ganz anders drüber und sehe auch wieder die Perspektive meiner damaligen Partnerin, die einen kleinen Säugling versorgen musste und ebenfalls viel zu stemmen hatte. Damals habe ich nicht wahrgenommen, dass sie dennoch versucht hat, mich mit meinem Diabetes zu unterstützen, und mir geholfen hat, wo sie nur konnte.
Ich bekam schon im Krankenhaus den Hinweis, dass es einen Diabetologen gebe, der dort mal gearbeitet hat und nun eine eigene Praxis hat. Ich wollte unbedingt ambulant eingestellt werden und man sagte mir, dass dieser Arzt dann die richtige Adresse sei. Eine Mitarbeiterin im Krankenhaus machte mir noch für denselben Tag einen Termin bei diesem Arzt aus, ich fuhr dorthin und ging alles an. Bei der ersten Blutentnahme lernte ich dann schon Julia kennen, die dort als medizinische Fachangestellte arbeitete. Zu dem Zeitpunkt konnte ich nicht ahnen, was alles passieren würde. Aber es war einer dieser seltsamen Momente, wo sich zwei Menschen begegnen und sofort etwas da ist. Eigentlich hatte ich ja ganz anderes im Kopf: Diabetes, Kind, Hochzeit, Firma. Deswegen habe ich das sofort beiseitegeschoben und mich erst einmal auf den Diabetes konzentriert. Deswegen war ich ja schließlich auch in der Praxis.
Das hat noch sehr lang gedauert. Ich habe sie seit der Diagnose ja regelmäßig gesehen. Immer bei den Kontrolluntersuchungen. Es hat aber noch ein Jahr lang gedauert, bis aus diesem einen Blitzeinschlag am Anfang mehr wurde. Ich bin im August 2017 in die Praxis gefahren und war davon überzeugt, einen Termin zu haben. Es stellte sich aber heraus, dass ich mich im Monat geirrt hatte und zu früh dran war. Sie saß an der Anmeldung und schaute nach meinem Termin. Ich habe mir da ihren Namen gemerkt, der auf dem Namensschild stand. Darüber habe ich sie bei Instagram gefunden und angeschrieben. So kamen wir auch privat ins Gespräch. Aber erst Ende 2017 sind wir das erste Mal zusammen ausgegangen – aber als Freunde. Ab da ging es dann doch plötzlich ganz schnell. Meine damalige Verlobte ist mit unserem Sohn ausgezogen und wir haben uns getrennt. Das war unfassbar hart für mich. Ich wollte meine Ex-Partnerin nie verletzen, und dass mein Sohn mit ihr ging, hat mir das Herz zerrissen. Es war eine schlimme Zeit, in der Julia dann für mich da war. Erst in der folgenden Karnevalszeit wurden wir dann ein Paar.
Erstaunlich gut, was auch an Julia lag. Sie hatte sich sehr in diesem Bereich belesen und unterstützte mich, wo es nur ging. Heute sehe ich das kritischer. Im Nachhinein weiß ich, dass es bei psychisch Kranken nicht ungewöhnlich ist, dass sie sich so sehr um andere kümmern und dabei sich selbst vergessen. Sie hat mich durch die komplette Trennungsphase begleitet, gab mir Halt und achtete darauf, dass ich auf mich achte.
Der nahm eine große Rolle ein. Eigentlich wollte ich es nicht zum Thema machen, sie hat sich aber sehr engagiert. Julia hatte sich so viel Wissen angeeignet und ich profitierte davon. Wir sprachen über die Kohlenhydrate, ob es schnell oder langsam wirkende waren, was wie zu berechnen war und was man verbessern konnte. Wir waren beide begeistert bei der Sache, wenn wir etwas besonders gut berechnet hatten, wie zum Beispiel den Ess-Spritz-Abstand. Sogar über eine eigene App hatten wir nachgedacht. Mein HbA1c lag immer um 6%. Wir haben uns in dem Sinne gegenseitig unterstützt, weil sie gleichzeitig auch viel für ihren Beruf lernte. Sie hat auch das Spritzen an mir geübt. Durch mich hat sie dann auch mehr gefallen an ihrem Job gefunden, denn ursprünglich war sie mit dem Fachgebiet Diabetologie nicht so glücklich.
Generell zeichnete sich schnell ab, dass es Probleme in der Beziehung gab. Schon nach einigen Wochen. Wieder im Nachhinein betrachtet, weiß ich, dass das ihre Erkrankung war. Konflikte eskalierten schnell und sie reagierte heftig. Sie wollte dann auch immer die Flucht ergreifen – also im wahrsten Sinne des Wortes. Mitten in der Nacht wollte sie einmal die 20 km zu Fuß nach Hause laufen. Sie schwankte immer zwischen Extremen hin und her. Zusätzlich provozierte sie viele Konflikte und drehte viele Dinge immer so, dass es Streit gab. Kam sie mit zu einem Familienbesuch, fühlte sie sich gezwungen. Ging ich das nächste Mal ohne sie, schloss ich sie aus. Ich konnte nie etwas richtig machen. Und ehrlich gesagt hat mich das sehr belastet und der Stress schlug auf meine Werte.
Ja, und auch die waren nicht immer logisch oder fair. Wenn mein Blutzucker mal hoch war, warf sie mir sofort vor, dass ich nur Scheiße gefressen hätte. Julia hielt sich da nicht mit scharfen Worten zurück. Dass manchmal der Stress mit ihr der Auslöser war, konnte ich ihr nicht sagen. Nach und nach wurde mir auch bewusst, dass sie keine gesunde Haltung zum Essen hatte und auch da nur in Extremen dachte. Sie zeigte Symptome einer Magersucht. Sie kontrollierte dann aber nicht nur ihr eigenes Essen, sondern eigentlich auch meins. Andererseits gab es dann auch Fressanfälle. Immer mittendrin mein Diabetes. Es waren wieder diese Extreme. Mich ärgert es sehr, dass ich nicht verstanden habe, dass sie psychologische Hilfe braucht. Es war aber nicht abzusehen, dass sie sich selbst etwas antun würde.
Das war im Herbst 2018. Wir hatten wieder eine unserer Streitereien und es ging darum, dass ich wieder zurückstecke und an jenem Wochenende darauf verzichten sollte, meinen Sohn zu sehen. Ich konnte das aber nicht. Ich habe oft den Kürzeren gezogen, um sie zu besänftigen, aber da ging es um meinen Sohn. Also fuhr ich Julia nach Hause und verbrachte Zeit mit meinem Kind. Am nächsten Tag fand ich sie bewusstlos in ihrem Bett. Ein Anblick, der mir durch Mark und Bein ging. Es war traumatisierend. Ich rief den Notarzt. Sie kam ins Krankenhaus. Erst hieß es noch, dass sie wieder gesund werden könnte. Aber ihr Zustand wurde immer schlimmer, das Gehirn war zu sehr geschädigt. Unter Freunden tätowierten wir uns spontan gegenseitig 3 Punkte, wie bei einem unvollendeten Satz. Als Symbol dafür, dass es immer irgendwie weitergeht. Am nächsten Tag habe ich dann erfahren, dass sie gestorben war.
Ich habe einen Menschen verloren, den ich sehr geliebt habe. Ich sehe heute Fehler, die ich nicht rückgängig machen kann. Sie war ständig von medizinischem Fachpersonal umgeben und von denen hat es ebenfalls niemand geahnt oder gedacht, sie könne sich etwas antun. Das muss ich mir immer wieder bewusst machen. In den Wochen nach ihrem Tod fiel ich selbst in ein Loch und es war auch schwer für mich, mich um meinen Diabetes zu kümmern. Vieles erinnerte mich an Julia. Wir hatten nur wenige gemeinsame Monate, die waren sehr intensiv. Essen war ganz schwierig. Ich dachte an ihre Probleme damit, daran, wie wir alles berechnet haben. Einmal brach ich in einem Restaurant in Tränen aus, weil mich die Situation zu sehr an Julia erinnerte. Ich gehe aber immer noch zum selben Diabetologen. Dem muss ich mich stellen, weil es der richtige Arzt für mich ist.
Auch ich hatte Suizidgedanken. Ich wusste aber, welche Lücke man hinterlässt, wenn man das macht. Diesen Schmerz spüre ich ja gerade selbst. Ich hätte das auch nie meinem Sohn antun können. Der Verarbeitungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. An manchen Tagen geht es mir wieder normal, dann kommt der Schmerz aber plötzlich und heftig zurück. Ich kümmere mich um ihr Grab und habe es sehr persönlich gestaltet. Ich versuche, den Verlust durch Kunst zu verarbeiten. Das ist auch mein Weg, mich mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen auseinanderzusetzen, um es irgendwie zu verstehen. Aber ich muss mich auch wieder mehr mit meiner eigenen Erkrankung beschäftigen. Es war zwar kein HbA1c über 7,5%, aber das muss auch wieder besser werden. Alles ist eben ein Schritt vor dem anderen. Jeden Tag aufs Neue.
Ich muss langsam wieder besser auf die Qualität meines Essens achten. Vollkornbrot, Fisch, Gemüse, alles frisch zubereitet – das war eben Julias und meine Sache. Das konnte ich die letzten Monate nicht mehr. Das muss ich angehen. Mittlerweile schaue ich wieder positiver in die Zukunft. Generell ist meine Einstellung gut, ich weiß, was ich machen muss und wie meine üblichen Fehler aussehen. Irgendwann werde ich über eine Pumpe nachdenken, dafür muss die Technik aber noch etwas vorankommen, damit es eine Pumpe gibt, die zu mir passt.
Du hast Selbstmordgedanken? Dann rede darüber! Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr unter 0800/1110111 und 0800/1110222 erreichbar.
Eine Liste mit Beratungsstellen in ganz Deutschland findest Du auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: https://www.suizidprophylaxe.de/
Diabetes hält Dich nicht auf? Auch Du hast eine bewegende Geschichte, die Du mit anderen teilen möchtest? Dann schreibe eine Mail an: contact@diapolitan.com
Mehr Interviews aus der Reihe „Mein Diabetes, meine Geschichte“ von Kathy findet ihr hier.
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