5 Minuten
Manchmal werden Geschwister von Kindern mit Diabetes als Schattenkinder bezeichnet, weil sich die Aufmerksamkeit der Erwachsenen stark auf das erkrankte Kind richtet. Wie lässt sich vermeiden, dass sich die Geschwister so fühlen, als stünden sie im Schatten?
Ihr Kind hat Diabetes Typ 1 … Dieser Satz trifft die meisten Familien aus heiterem Himmel und ist ein großer Schock. Es ist eine Diagnose, die die gesamte Familie betrifft und sie vor viele neue Anforderungen und Aufgaben stellt. Auch für die Geschwister von Kindern mit Diabetes kann die Manifestation ein kritisches Lebensereignis sein: Die Aufmerksamkeit der Erwachsenen richtet sich stark auf das erkrankte Kind. Wie lässt sich vermeiden, dass sich die Geschwister so fühlen, als stünden sie nun im Schatten?
Der erste Schritt dafür wird gemacht, wenn nach der Diagnose eine altersgerechte, ehrliche Erklärung zur Erkrankung des Geschwisters erfolgt. Dazu können Mediziner und psychologische Betreuung in der Klinik hinzugezogen werden. In Familien, in denen (zu) wenig miteinander gesprochen wird, entwickeln sich Wut und Aggression am häufigsten.
Gerade Kinder spüren unbewusst, dass etwas Schlimmes passiert ist. Werden sie nicht einbezogen, verunsichert sie das noch mehr. Darauf werden sie reagieren: entweder mit Rückzug, mit auffälligem Verhalten oder mit besonders angepassten, nicht altersgemäßen Verhaltensweisen, um die vermeintlich oder real überforderten Eltern zu schützen.
Für alle Gespräche gilt: Die Kinder werden ermutigt, über ihre Befürchtungen, Bedenken, Ängste, Sorgen, Wünsche und Gefühle zu reden. Es bleibt Raum, Fragen zu stellen. Die Antworten sind altersgerecht und offen. Wichtig dabei: nicht mehr erklären, als das Kind wissen möchte – aber auch nicht weniger, denn bei ausweichenden Antworten besteht die Gefahr, dass vor allem jüngere Kinder die “Wissenslücken” mit Phantasievorstellungen füllen.
Wie Geschwister mit der Diabeteserkrankung der Schwester bzw. des Bruders umgehen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Das Alter spielt dabei eine entscheidende Rolle:
Geschwister im Säuglingsalter (0 bis 12 Monate) sind nicht in der Lage, die Krankheit zu verstehen; dennoch nehmen schon die Kleinsten die physische oder emotionale Abwesenheit eines Elternteils wahr. Eine Trennung von vertrauten Bezugspersonen und/oder deren unzureichende emotionale Verfügbarkeit können im Säuglingsalter zu Trennungsängsten oder Unruhe führen.
Geschwister im Kleinkindalter (1 bis 3 Jahre) nehmen Krankheit schon als konkret beobachtbares Merkmal wahr, sie können aber noch keine Zusammenhänge herstellen. In diesem Alter können vor allem Veränderungen im Tagesablauf die Kinder stark verunsichern und zu zeitweiligen Entwicklungsrückschritten führen. Kinder in diesem Alter neigen zu generalisierten Erklärungskonzepten und können Ängste entwickeln, sich anzustecken, auch Blutzucker messen zu müssen, Insulin injiziert zu bekommen.
Im Kindergartenalter (4 bis 5 Jahre) spielt das “magische Denken” eine große Rolle: Eigene Phantasien werden häufig über die Realität gestellt. Eine Assoziation mit dem Ausbruch der Krankheit und negativen Gedanken (Wut, Rivalität, Eifersucht) ihren Geschwistern gegenüber ist daher keine Seltenheit. Dies kann zu Schuldgefühlen führen: Manches Geschwisterkind glaubt womöglich sogar, für die Erkrankung des Bruders oder der Schwester verantwortlich zu sein. Diese Vorstellung löst eventuell Angst und Schamgefühle aus. Typisch für dieses Alter ist zudem die Unfähigkeit der Perspektivübernahme. So werden der nachdenkliche Blick, die ernsthafte Mimik der Eltern auf das eigene Verhalten bezogen, obwohl sie die Sorge um das Geschwisterkind ausdrücken.
Im Schulkindalter (6 bis 11 Jahre) wird eine Krankheit auch bezüglich ihrer Entstehung und Prognose beurteilt; in dem Alter ist eine Perspektivübernahme möglich, so dass Geschwister sich um ihre erkrankten Geschwister und eventuell um die belasteten Eltern sorgen. Manche in dieser Altersgruppe nehmen dann eigene Bedürfnisse und Gefühle zurück, um keine zusätzliche Belastung zu sein. Meist ist das für die Eltern nicht sofort erkennbar und erst über den Umweg von Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen oder Schlafproblemen zu bemerken.
Geschwister in Jugend und Pubertät (12 bis 17 Jahre) möchten häufig Verantwortung für die erkrankte Schwester/den erkrankten Bruder, Eltern übernehmen. Dazu sind Jugendliche in dem Alter teils auch in der Lage; ein Konflikt zwischen dem Wunsch der Verantwortungsübernahme und dem Wunsch nach Autonomie und Loslösung von der Familie ist naheliegend. In dem Alter ist zudem die Reflexion über die Ursache der Erkrankung ausgeprägt – mit Folgen wie Ängsten und/oder Schuldgefühlen.
Neben dem Alter spielen Geschwisterfolge und Altersabstand eine Rolle: Je geringer der Altersunterschied zwischen den Geschwistern ist, umso größer kann der Leidensdruck des gesunden Geschwisterkindes ausfallen. Einfluss hat auch das Geschlecht: Die Rivalität zwischen gleichgeschlechtlichen Geschwistern ist meist größer als zwischen Bruder und Schwester; andersgeschlechtliche Geschwister sind meist eher bereit, sich dem chronisch kranken Kind zuzuwenden und es zu verstehen.
Ältere Kinder erleben durch die Geburt eines Geschwisters meist eine “Entthronung”. Diese Verunsicherung kann noch größer werden, wenn das Geschwisterkind relativ zeitnah krank wird. Ob ältere oder jüngere Geschwisterkinder stärker durch die Erkrankung betroffen sind, ist wissenschaftlich nicht eindeutig: Einerseits haben ältere Geschwister ihre Eltern ein paar Jahre für sich allein gehabt, das kann sie gestärkt haben.
Andererseits erleben sie eventuell stärker, wie betroffen die Eltern von der Diagnose sind und welche Veränderungen in der Familie notwendig geworden sind. Kinder, die erst auf die Welt kommen, wenn bereits ein Kind mit Diabetes in der Familie lebt, arrangieren sich leichter.
Das größte Problem von Geschwisterkindern könnte sich hinter einem augenscheinlich problemlosen Funktionieren im Alltag verstecken. Sie fühlen sich oft gezwungen, mehr das “wir” und weniger das “ich” zu leben. Das kann Geschwisterkinder stärken, aber auch zu widersprüchlichen Gefühlen führen.
Geschwister von Kindern mit Diabetes können von der Situation sogar profitieren und haben gute Chancen, zu sozial engagierten und verantwortungsvollen Menschen heranzuwachsen: Weil sie früh lernen, Rücksicht zu nehmen, ohne eigene Bedürfnisse zu vergessen, werden sie häufig sozial sehr kompetent. Hilfreich für eine solch positive Entwicklung ist, wenn Erwachsene sie aufmerksam begleiten und gegensteuern, wenn sich die Kinder schuldbeladen und zu kurz gekommen fühlen, wenige soziale Kontakte und Schulprobleme haben.
Herausforderungen machen Kinder stark, wenn sie sie nicht überfordern; so können Geschwister von Kindern mit Diabetes offener, empathischer, reifer und toleranter sein als Gleichaltrige. Oft zeigen sie mehr soziales Engagement und Selbständigkeit.
von Dipl.-Psych. Laura Galuschka
Psychologin, Kinder- und Jugendkrankenhaus AUF DER BULT
Janusz-Korczak-Allee 12, 30173 Hannover
E-Mail: galuschka@hka.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (2) Seite 25-27
2 Minuten
Geschichten, Gemeinschaft, Gesundheit: Der Diabetes-Anker ist das neue Angebot für alle Menschen mit Diabetes – live, gedruckt und digital. Der Diabetes-Anker und die Community sind immer da, wo du sie brauchst. Für alle Höhen und Tiefen.
Alle wichtigen Infos und Events für Menschen mit Diabetes – kostenlos und direkt in deinem Postfach. Mit unserem Newsletter verpasst du nichts mehr.
Beliebte Themen
Ernährung
Aus der Community
Push-Benachrichtigungen