6 Minuten
Flackerndes, grelles Licht, es schmerzt in den Augen. Ich öffne selbige langsam, es fällt mir sehr schwer. Der Raum ist viel zu steril und hell. Wo bin ich?! Stück für Stück kann ich meine Augen unter Anstrengung länger offenhalten.
Was tut da nur so weh auf meiner Brust? Ich registriere, dass da jemand steht. Dieser Schmerz; mein Körper, er tut einfach nur höllisch weh, jede Faser. Was ist denn hier los? Ich spüre, wie Panik in mir aufkommt.
Wer steht da? Ich konzentriere mich. Es ist meine Mutter. Sie sieht müde und gleichzeitig traurig aus. Jetzt erkenne ich es, diesen Raum, diesen ganz speziellen Geruch. Ich bin im Krankenhaus. Das Piepen, was ich die ganze Zeit nicht aus meinem Kopf und meinen Ohren bekomme, das ist der Herz-Monitor.
Meine Mutter streicht mir über die Wange.
Die Erinnerungen kommen zurück.
Der Zusammenbruch am Morgen, das Gefühl, das Erbrechen, die Fahrt hierher und dann nichts!
Mein Vater hat mich in das Auto getragen, weil ich nicht mehr gehen konnte. Bis dahin weiß ich es, doch dann nur ein hoher greller Ton mit dem dazu passenden Licht, gefolgt von sehr viel Leere.
Verzweifelt schaue ich zu meiner Mutter. Sie drückt meine Hand fest, umklammert sie schon beinahe. „Fast hätten wir dich verloren! Du warst 3 Minuten weg.“
Ich verstehe, was sie sagt. Verstehe jedes Wort, und mir wird auf einen Schlag klar, dass meine „erfolgreiche“ Reise hier ein jähes Ende fand.
Ich war 3 Minuten tot.
Seit ich denken kann, war ich die Dicke, die etwas zu gerne aß. Die Laute, die etwas zu wild war. Aber vor allem nicht die Beliebteste in der Schule. Ich war ein Sonderling, wie man sie aus Highschool-Filmen kennt.
Mit 11 Jahren kam dann noch der Diabetes dazu, was das Ganze nur noch mehr erschwerte. Nun stand ich noch mehr dabei und sah nur zu, weil man ja so vieles nicht durfte. Ich wurde ausgegrenzt, ohne dass es in meiner Macht stand, etwas dagegen zu tun. Und das ganze Gewicht, das ich vor der Diagnose verloren hatte, gelangte doppelt so schnell wieder auf meine Knochen.
Mein Gewicht war das präsenteste Thema in meinem Kopf. Meine Gedanken kreisten ständig um das Aussehen der anderen im Vergleich zu meinem. Diäten hielt ich aber nicht lange durch, denn Essen gab mir eine Art Sicherheit und Liebe. Ich konnte nicht damit aufhören, mich immer wieder in Fressanfällen zu verlieren, es war eine wichtige Konstante für mich.
Also wurde ich immer fülliger, und der Diabetes wuchs heran zur zusätzlichen Qual und Motivation, heimlich zu essen.
Mit 14 begann ich alles zu verweigern. Meine Umgebung, die Schule und auch alles, was mit dieser Krankheit zu tun hatte: Tagebuchführen, Essenabwiegen und auch das Insulinspritzen.
Einfach, weil ich allen zeigen wollte, wie stark ich bin. Dass ich so unabhängig von allem und jedem bin und man mich genau deshalb auch nicht mehr kleinhalten kann.
Das Weglassen des Insulins, hatte sich langsam eingeschlichen, zunächst habe ich den Bolus für die Mahlzeiten ausgelassen, dann die Basalrate abends oder morgens, mal beide, ich benutzte damals noch Pens.
Mir ging es dadurch nicht besser, mein Körper zeigte mir schnell, dass dies nicht gut sein kann, mir war ständig übel und ich war antriebslos.
Aber noch etwas geschah, und das weckte meine Aufmerksamkeit weitaus stärker: Meine Hosen und Shirts fingen an zu schlackern.
Ich verlor an Fülle im Gesicht und ich erinnerte mich daran, wie schön ich im Sommer vor meiner Diagnose abgenommen hatte. Ich zählte eins und eins zusammen und verstand, dass es an dem fehlenden Insulin lag. Aber so, wie es bis dahin lief, war das nicht sinnvoll, dahinter lag kein System, keine Kontrolle. Das wollte ich nicht. Ich wollte mich von niemandem kontrollieren lassen, auch nicht von meinem Diabetes.
Ich würde die Kontrolle übernehmen, das stand für mich fest.
Also begann ich, mich heranzutasten: Wie viel Insulin war am Tag nötig, um mir die Übelkeit weitestgehend vom Leib zu halten und trotzdem Gewicht zu verlieren? Was konnte ich gut essen, ohne dass es meine Übelkeit förderte? Ich passte jeden Tag die Stellschrauben an, notierte alles bis ins kleinste Detail und war mir spätestens nach den ersten Kommentaren über meine „bessere Figur“ sicher, alles richtig zu machen.
Jedes Kompliment, jedes neue Kleidungsstück motivierte mich nur mehr dazu, weiterzumachen und auch über meine Magen-Darm-Probleme, Schwächeanfälle und Denk-Aussetzer hinwegzusehen. Ich wollte einfach nur dünn sein, denn ich spürte ja, dass meine neue und „schönere“ Figur gleichzusetzen war mit Ansehen und Anerkennung. Endlich durfte ich dabei sein, gehörte zu einer Clique und das hatte ich mir alles selbst geschaffen. Ich wollte auf keinen Fall, dass es endet.
Aber meine Reise endete nach anderthalb Jahren, in einer lebensbedrohenden Situation im Schockraum eines Krankenhauses.
Als mir im Krankenhaus erklärt wurde, was mit mir im Schockraum geschah, und mir die Schwester sagte, sie hätte nicht gedacht, dass ich das schaffe, bekam meine Reise auch einen Namen: Diabulimie*.
Ich hatte davon noch nie gehört und eigentlich war es mir auch egal, ich wollte nur wissen, wie ich mein Gewicht halten konnte. Mir war damals bewusst, dass ich im Krankenhaus kein Insulin weglassen könne, da ich auf der Intensivstation lag und unter anderem angeschlossen an einen Insulin-Perfusor war. In meinen Augen wurde mir das gefährlichste Elixier in die Venen gepumpt. Also vermied ich es zu essen, so lange, bis es mich überkam oder die Schwestern nicht mehr glaubten, dass ich an Bauchschmerzen oder Übelkeit litt. Wenn ich dann etwas aß, folgte umgehend das Erbrechen, weil mich das schlechte Gewissen überkam.
Es dauerte nicht lange, bis Ärzte und Schwestern dahinterkamen und ich, nach mehrmaliger Aufforderung zur Nahrungsaufnahme, über eine Sonde zwangsernährt wurde. Denn neben den Auswirkungen des Diabetes auf meinen Körper war ich mit 42 kg bei einer Körpergröße von 1,77 m auch durch meine körperlichen Gegebenheiten in Lebensgefahr.
Nach vier Monaten durfte ich das Krankenhaus dann verlassen und nichts war mehr wie vorher. Man hatte mich zwar wiederbelebt und dadurch zurück ins Leben geholt, aber innerlich war ich tot. Ich hatte mein Gewicht mittlerweile verdoppelt und hatte das Gefühl, alles verloren zu haben, was ich je besaß. Für mich hatte mein Leben so absolut keinen Sinn mehr.
Ich musste wieder zurück in die Schule, wieder als eine, die nicht dazugehörte. Für mich wurde jeder Tag zur Qual. Ich wollte nur wieder dünn sein und hätte alles dafür getan, auch das Insulin-Purging hätte ich dafür wieder in Kauf genommen, aber ich wurde zu Hause nun auf Schritt und Tritt kontrolliert. Mir bleib keine Möglichkeit, mir wurde jede Kontrolle entrissen und so blieb nichts, als mich Nacht für Nacht in den Schlaf zu weinen und zu hoffen, dass es einfach alles aufhört.
Das Krankenhaus hatte bei der Entlassung dringend zu einer Therapie für mich geraten und meinen Eltern einige Therapeuten empfohlen. Und so saß ich vier Wochen nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus mit meinen Eltern im Auto auf dem Weg zu einem Therapeuten, der mir helfen sollte.
Und mit dem ersten Termin bei dem Therapeuten setzte ich den ersten Fuß auf den Weg meiner neuen Reise, die jedoch bedeutend länger dauern sollte als die davor vermeintlich erfolgreiche.
Ich bin heute 32 Jahre alt und würde mich als sehr stabil betiteln, was ich nicht nur mir und meiner harten Arbeit, sondern vor allem verschiedenen Therapeutinnen und Therapeuten sowie unterschiedlichen Therapien zu verdanken habe. Es war eine Reise voller Regentage und Gewitter, aber auch voller Sonne und toller Orte. Ich bin des Öfteren hingefallen und davon habe ich tiefe Narben – vor allem auf meiner Seele. Aber genau diese erinnern mich daran, dass ich es geschafft habe. Auch heute gibt es Tage, an denen ich mich im Spiegel betrachte und mir nicht gefällt, was ich sehe. Tage, an denen mich Essen anwidert. Aber ich lasse sie zu, gebe ihnen Raum, weil all diese Gedanken auch ein Teil von mir, meiner Geschichte, meiner Reisen sind. Jedoch behalte ich die Kontrolle, auf gute Art und Weise. Ich versuche immer, jeden Moment voll auszunutzen und zu genießen, und dazu gehört auch tolles Essen.
Ich weiß, ich bin mit meiner Geschichte nicht alleine. Diabetikerinnen und Diabetiker sind doppelt so häufig von Essstörungen betroffen wie Nicht-Diabetiker. Wir sind es gewohnt, diszipliniert zu sein und unser Essen im Blick zu haben, uns zu kontrollieren in jeglichen Situationen. Wir stehen unter ständigem Druck und Kontrolle.
Und wenn Du das gerade liest und dich angesprochen fühlst, denke daran: Mir ging es auch so. Ich habe meine Reise gemacht, als ich bereit dazu war. Und ich habe es überlebt. Denn wir sind Überlebende.
*Diabulimie ist eine Wortkombination aus „Diabetes“ und „Bulimie“ (Ess-Brech-Sucht). Bei dieser Essstörung haben die Betroffenen Angst, durch die regelmäßigen Insulingaben zuzunehmen. Sie lassen deshalb notwendige Insulininjektionen aus oder spritzen gezielt zu wenig vom Blutzuckersenker. Dieses bewusste Weglassen von Insulin wird auch als „Insulin-Purging“ bezeichnet. (Quelle: https://www.tk.de/techniker/gesundheit-und-medizin/behandlungen-und- medizin/diabetes/tk-plus-bei-diabetes-mellitus/diabulimie-essstoerung-mit-ernsten- folgen-2071302)
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