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Was bedeutet es für eine Familie, wenn der Sohn im Alter von drei Jahren einen Typ-1-Diabetes bekommt? Wie geht die kleine einjährige Schwester damit um? Wie läuft das Leben weiter? Und dann bekommt die kleine Schwester als Erwachsene auch Typ-1-Diabetes … Lena Schuster berichtet, wie sie und ihre Familie mit der Situation umgegangen sind.
Viele machen ganz große Augen, wenn ich ihnen erzähle, dass mein Bruder Dirk im Alter von drei Jahren Typ-1-Diabetes bekommen hat. So früh schon? Aber da war er doch noch ganz klein? Und die Einschränkungen mit dem Essen versteht doch ein Kleinkind gar nicht? Und hat er Unterzuckerungen selbst bemerkt? Ganz viele Fragen, die meinen Eltern bei der Diagnose mit Sicherheit auch durch den Kopf geschossen sind.
Ich bin zwei Jahre jünger als mein Bruder und mit einem Jahr habe ich damals erst recht nicht verstanden, was auf uns zukommt. Die Diagnose ist ein Einschnitt nicht nur für das betroffene Kind, sondern für die ganze Familie. Man muss dazu sagen, dass vor 27 Jahren die Therapie noch anders verlaufen ist. Es wurde zu festgesetzten Zeiten eine bestimmte Menge Insulin gespritzt und ebenfalls zu festen Zeitpunkten wurde die entsprechende Menge an Kohlenhydraten gegessen. Doch wie erklärt man einem kleinen Kind, das keinen Hunger mehr hat, dass es noch das ganze Brot essen muss? Es wurde von meinen Eltern viel Geduld und Einfühlungs-Vermögen verlangt. Jede Nacht sind entweder meine Mutter oder mein Vater aufgestanden, um meinem Bruder den Blutzucker zu messen und ihm dann eventuell Biskuit in den Mund zu schieben.
Mit Sicherheit machten sich meine Eltern mehr Sorgen im Vergleich zu anderen Eltern, oder zumindest andere Sorgen. Gleichzeitig merkten sie, dass sie die Erkrankung spielerisch verpacken mussten. Mein Vater und mein Bruder machten am Esstisch stets einen Wettbewerb daraus, wie viele Gramm zum Beispiel die Scheibe Brot wiegt. “Das sind doch 40 Gramm!”, meinte Dirk. “Nein, das sind auf jeden Fall mehr. Ich sage 45 Gramm”, erwiderte mein Vater. Und dann freute sich der kleine Dirk und strahlte, wenn er recht hatte. So brachten meine Eltern spielerisch meinem Bruder bei, das Essen abzuschätzen, und er wurde darin immer besser. Das ermöglichte ihm auch, außerhalb des Hauses freier zu sein und auch ohne Waage einschätzen zu können, wie viele Gramm Kohlenhydrate das Essen hatte. Ich als kleine Schwester war immer fasziniert von dem Wettbewerb.
Abends vor dem Schlafengehen wurde mein Bruder dann gespritzt. Dass das Spritzen nicht immer schmerzfrei ist, muss keinem Diabetiker erklärt werden. Dirk war meist brav, weil er die Belohnung schon kannte: der Schuster’sche Spritzen-Weitwurf. Dabei saßen mein Vater und mein Bruder auf dem Bett und der Mülleimer stand am Schreibtisch an der Tür. Und dann ging es auch schon los: Der kleine Dirk war zuerst dran und zack flog die Spritze durchs Zimmer. Mist, daneben! Schon raste der Kleine los, um die Spritze zu holen. Dann war mein Vater dran. “Das ist gar nicht so einfach”, meinte er, als er lachend die Spritze auf dem Schreibtisch landen sah. Das Ganze ging so lange, bis einer getroffen hatte. Und jeden Abend wanderte der Mülleimer ein Stück in eine andere Richtung, um immer einen neuen Wettbewerb zu haben.
Diese täglichen kleinen Freuden machten es für meinen Bruder aushaltbar. Doch mein Bruder wurde von Jahr zu Jahr größer, selbstständiger und hatte seinen eigenen Kopf. Als er 10 Jahre alt war, erfolgte der Wechsel zur intensivierten Insulintherapie (ICT). Mein Bruder konnte sich zu dem Zeitpunkt selbst spritzen und das brachte ihm viel Freiheit und meinen Eltern Entspannung. In der Pubertät mussten sich meine Eltern schließlich davon lösen, für ihn mitzudenken und den Diabetes zu kontrollieren. Zum Glück war mein Bruder verantwortungsbewusst und regelte die Blutzuckerwerte gut allein.
Ich hatte bis zum Alter von 20 Jahren nur von außen die Auswirkungen von Diabetes auf das alltägliche Leben betrachtet. Dann hieß es plötzlich für mich: “Du hast auch Diabetes.” Zu dem Zeitpunkt wohnte ich nicht mehr zu Hause, war in einer fremden Stadt, meine Eltern und mein Bruder waren weit weg. Das hat unsere Familie noch einmal anders beeinflusst. Dieses Mal hatte nicht ein kleines Kind, sondern eine Erwachsene die Erkrankung bekommen. Gleichzeitig wussten alle, was das bedeutet – für jetzt und für später. Jetzt ist später und ich kann sagen, dass uns unsere Geschichte als Familie nahe zusammengebracht hat. Diabetes ist eine Erkrankung, die ständig präsent ist, und damit hatte sie auch einen Einfluss auf unser Familienleben. Es zeigte uns allen in besonderem Maß, dass wir aufeinander achtgeben müssen. Ich habe natürlich keinen Vergleich, wie sich mein Leben oder unsere Familie ohne Diabetes entwickelt hätte. Aber ich kann mir vorstellen, dass es uns enger zusammengeschweißt hat. Wir wissen, wie sehr Gesundheit zu schätzen ist, und wir passen aufeinander auf. Mein Bruder und ich haben ein enges Verhältnis und ich bin sehr froh, mich mit meinem Bruder austauschen zu können über alle Themen, die der Diabetes mit sich bringt. Das ist ein besonderes Band zwischen uns beiden.
Jeder Mensch geht anders mit einer Krankheit um und wie unsere Geschichte zeigt, ist auch der Zeitpunkt der Diagnose wichtig. Die Lebens-Situation, in der jemand steckt, ist ganz entscheidend. Ein Kind kann eine chronische Erkrankung nicht so einfach fassen und benötigt andere Unterstützung als ein Erwachsener.
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2022; 71 (10) Seite 28-29
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