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Sind Kinder oft vergesslich und unkonzentriert, sprunghaft und impulsiv, kann es sein, dass sie eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) haben. Diese Störung macht es schwierig, die für das Diabetesmanagement nötige Disziplin aufzubringen. Was kann helfen, wenn bei einem Kind mit Diabetes eine ADHS festgestellt wurde?
Der Alltag mit Typ-1-Diabetes ist anstrengend für Kinder, Jugendliche und deren Eltern – trotz aller neuen Technologien, die schon vieles erleichtern. Immer noch müssen die Kohlenhydrate gezählt, die Insulindosen berechnet und vor der Mahlzeit gegeben werden, nachts gibt es Alarme wegen zu hoher oder zu niedriger Glukosewerte, und ganz spontanes Naschen zeigt sich noch immer in rasant ansteigenden Kurven auf dem Display der Pumpe oder auf dem Handy. Gleichzeitig werden die Therapieziele immer anspruchsvoller, das HbA1c sollte unter 7 % sein und die Zeit im Zielbereich (TiR) möglichst deutlich über 70 %.
Das ist prinzipiell erreichbar, so zeigt eine aktuelle Studie der dpv-Initiative, dass ca. 27 % der Kinder und Jugendlichen mit Diabetes in Deutschland diese Ziele dauerhaft erreichen, für andere liegen diese Ziele jedoch oft weit entfernt.
Die Chance, das Ziel zu erreichen, ist hoch, wenn die ganze Familie an einem Strang zieht und das Kind mit Diabetes altersgemäß unterstützt. Und Kinder und Jugendliche selbst brauchen viel (Selbst-) Disziplin und Konzentrationsfähigkeit, um an all das zu denken, was der Diabetes gerade von ihnen fordert, neben Schule, Freunden und anderen Aufgaben. Gleichzeitig müssen sie sich selbst bremsen können – Fachleute nennen das „Impulskontrolle“ –, wenn etwas Attraktives angeboten wird, das aber ihrem Diabetes schadet. Das „Neinsagen“ fällt fast allen Kindern sehr schwer, sie sind altersgemäß spontan und können sich noch keine Gedanken über Folgen später machen. Entsprechend gibt es immer mal wieder Streit zwischen Eltern und Kindern um zu wenig Disziplin bei der Diabetesbehandlung oder auch keine Lust auf all die Regeln und Verbote. Das ist normal und gehört zum Aufwachsen mit einer chronischen Krankheit, es sollte aber keiner Dauerzustand sein.
Einigen Kindern und Jugendlichen fällt es jedoch ständig sehr schwer, an die notwendige Diabetestherapie zu denken. Auch im Schulalter essen und trinken sie noch ungesteuert, sie vergessen Insulinboli, finden ihren Traubenzucker nicht, ständig geht etwas schief. Sie können sich schwer konzentrieren, sind sehr sprunghaft, stören im Unterricht, und es fällt ihnen oft wegen ihrer hohen Impulsivität schwer, gute Freunde zu finden. Sie wirken oft gestresst, wegen der anderen, weil etwas nicht gelingt, aber auch, weil sie innerlich „unter Strom“ zu stehen scheinen. Sie selbst sind darüber oft unglücklich, wissen aber nicht, was sie tun können, um von den anderen gemocht zu werden.
Solche Verhaltensstörungen können bei Kindern und Jugendlichen verschiedene Ursachen haben. Manchmal sind es schwierige Lebensbedingungen der Familie, manchmal ist es eine Reaktion auf einen schweren Verlust, z. B. wenn ein Elternteil die Familie verlassen hat. Es kann sich aber auch um eine lange bekannte angeborene Störung der Aufmerksamkeit und Aktivität handeln, eine ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung). Die Hauptmerkmale sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, d. h. spontanes unüberlegtes Handeln. Bei etwa 5 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland wurde eine ADHS festgestellt, deutlich häufiger bei Jungen als bei Mädchen. Diese Rate trifft wahrscheinlich auch auf junge Menschen mit Typ-1-Diabetes zu.
Bereits als Kleinkinder fallen Betroffen durch Unruhe und Einschlafprobleme auf, während der Kindergartenzeit kommt es oft zum Streit mit Gleichaltrigen und Problemen, den Regeln der Gruppe zu folgen. In der Schule stehen Konzentrationsprobleme, Störungen im Unterricht und ständige motorische Unruhe im Vordergrund. Diese setzen sich bei Jugendlichen entsprechend fort und führen zu großen Schwierigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen, Leistungsminderung in der Schule und riskanten Verhaltensweisen. Stellt man diese Symptome den Anforderungen der heutigen Diabetestherapie gegenüber, wird sofort deutlich, wie schwer es für junge Menschen mit ADHS und Diabetes gleichzeitig sein kann.
Die typischen Anzeichen der ADHS können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und müssen nicht alle gleichzeitig auftreten. Und nicht jedes unruhige oder verträumte Kind hat gleich eine ADHS. Deshalb sollten sich Eltern mit ihrem betroffenen Kind bei Fachleuten für Verhaltensauffälligkeiten vorstellen und klären, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt. Ihr Diabetesteam in der Kinderklinik kann den Kontakt, z. B. zu einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) herstellen. Dabei sollten sich die Auffälligkeiten mindestens sechs Monate in verschiedenen Lebensbereichen (Zuhause, Schule, Freizeit, Diabetesbehandlung) gezeigt haben.
Eine frühzeitige und gute Behandlung der ADHS ist gerade bei Diabetes wichtig, weil der Glukosestoffwechsel bei diesen Kindern besonders schwankt, sie häufiger sehr spontan handeln und sich z. B. bei der Insulindosisberechnung schlecht konzentrieren können. Entsprechend weisen Kinder und Jugendliche mit ADHS und Diabetes in internationalen Studien höhere HbA1c-Werte und mehr Ketoazidosen auf als Gleichaltrige nur mit Diabetes. Gleichzeitig gibt es Hinweise, dass sich eine qualifizierte ADHS-Therapie günstig auf den Diabetes, aber auch die Schule und den Umgang mit Gleichaltrigen auswirkt.
Die Behandlung von ADHS setzt sich heute aus mehreren Elementen zusammen: Passend zur individuellen Situation einer Familie geht es zunächst um gute Informationen darüber, was ADHS wirklich ist und wie sie das Erleben und Verhalten beeinflusst; hinzu kommen Elterntrainings zum Umgang mit dem Kind, eine Verhaltenstherapie für das Kind und bei Bedarf auch eine medikamentöse Therapie. Bei der Verhaltenstherapie lernen Kinder beispielsweise, wie sie sich in stressigen Situationen beruhigen können, wie sie mit Ärger und Frustration besser umgehen und freundlichen Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen können.
Bleibt die ADHS dagegen unbehandelt, kann dies ernsthafte Folgen haben, z. B. Schulversagen, Familienprobleme, eine erhöhte Suchtgefahr und ein langfristig zu hohes HbA1c. In den meisten Fällen kann Kindern und Jugendlichen durch intensive Betreuung und eine gezielte Behandlung eine weitgehend normale Entwicklung ermöglicht werden. Inzwischen gibt es die Informationen und Elterntrainings nicht nur als Gruppenkurse, sondern auch als Trainings im Internet, z. B. der ADHS-Elterntrainer der AOK (unter adhs.aok.de/zum-adhs-elterntrainer) oder die Seite www.adhs.info. Hier finden alle Eltern bewährte Tipps, wie sie mit Verhaltensproblemen bei ihren Kindern besser umgehen und ihre liebevolle Beziehung zum Kind stärken können. Auch geht es darum, wie Eltern selbst bei schwierigen Erziehungsaufgaben seelisch und körperlich gesund bleiben können. Mit etwas Kreativität lassen sich mit diesen Tipps auch Konflikte um den Diabetes im Alltag vermeiden oder zumindest reduzieren. Solche Tipps finden sich auch im Elternprogamm DELFIN, mehr dazu lesen Sie unter dem Kurzlink bit.ly/3I52erW).
Eine zusätzliche medikamentöse Therapie kann hilfreich sein, sie ist aber bei ADHS nicht immer notwendig. Chancen und Risiken sollten gemeinsam mit den Fachleuten und dem betroffenen Kind sorgfältig abgewogen werden. Sie sollte nur dann erfolgen, wenn die Symptome sehr stark ausgeprägt sind und andere Therapien nicht ausreichen.
Alle Medikamente zur Behandlung von ADHS wirken im Gehirn, indem sie die Übertragung von Informationen beeinflussen. Am häufigsten werden dabei sogenannte „Psychostimulanzien“ eingesetzt, dabei handelt es sich oft um den Wirkstoff Methylphenidat oder den Wirkstoff Amphetamin. Sie haben eine anregende Wirkung und können die Konzentrationsfähigkeit erhöhen. Wichtig: Diese Substanzen haben keine heilende Wirkung. Wie auch das Insulin bei Diabetes müssen sie bei ADHS regelmäßig gegeben werden, um die Konzentration und Impulsivität anhaltend zu beeinflussen. Die Wirkung der Tabletten tritt etwa 30 Minuten nach Einnahme ein und hält dann zwischen einigen Stunden (kurze Wirkdauer) bis über den ganzen Tag hinweg an (längere Tageswirkdauer). Diese Medikamente können nach Absprache mit dem Diabetesteam auch von Kindern mit Typ-1-Diabetes eingenommen werden, bewährt haben sich diejenigen Medikamente mit einer längeren Wirkdauer – denn der Diabetes fordert ein Kind oder Jugendlichen den ganzen Tag.
Das Wichtigste zuerst: ADHS wird nicht durch falsche Erziehung verursacht. Eltern haben hier nichts falsch gemacht. Aktuell geht die Wissenschaft davon aus, dass erbliche Faktoren die wichtigste Ursache der ADHS darstellen. Oft berichten auch Eltern von Kindern mit ADHS, dass sie selbst in der Kindheit sehr unter Konzentrationsproblemen und Konflikten mit anderen gelitten haben. Nur wurde darauf damals nicht eingegangen, und niemand hat ihnen bei ihren Schwierigkeiten geholfen.
Die erblichen Faktoren führen dazu, dass die Informationen zwischen den vielen Nervenzellen des Gehirns anders fortgeleitet und verarbeitet werden als bei Menschen ohne ADHS. Dabei kann ein Kind stärker oder auch schwächer durch ADHS beeinträchtigt sein. Heute weiß man aber auch, dass die Ausprägung einer ADHS durch ein gutes Erziehungsverhalten der Eltern, der anderen Betreuer und Lehrkräfte günstig beeinflusst werden kann. Und diese Chance sollten Familien nutzen, es lohnt sich nicht nur für das Kind, sondern auch für das Wohlbefinden der ganzen Familie.
Autorin:
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Erschienen in: Diabetes-Eltern-Journal, 2022; 13 (1) Seite 16-18
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