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Der dreijährige Sohn von Familie M. hat seit etwa einem Jahr Typ-1-Diabetes. Die Krankheit kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Eltern bemühen sich seit der Diagnose sehr, ihren Sohn mit Insulinpumpe und Glukosesensor gut zu behandeln. Aber wie bei vielen kleinen Kindern, machen die Glukosewerte manchmal, was sie wollen. Beide Eltern arbeiten in der Medizin und betreuen häufig ältere Menschen, die an schweren Folgen ihres Diabetes leiden.
Jedes Mal, wenn der Glukosewert des Sohnes 180 mg/dl übersteigt, ist es für sie wie ein Stich ins Herz. „Was soll aus unserem Kind werden, welches Schicksal erwartet ihn? Was können wir tun?“ Sicher überkommen auch andere Eltern ab und zu diese Sorgen um die Zukunft ihres Kindes mit Typ-1-Diabetes. Meist blicken sie jedoch trotzdem gelassen und hoffnungsvoll auf die nächsten Jahre und Jahrzehnte. Was hilft ihnen, sich nicht von der Zukunftsangst überrollen zu lassen?
Viele Ängste entstehen, wenn eine Situation unkontrollierbar erscheint, wenn man von Emotionen und einzelnen schlimmen Erfahrungen geleitet wird. Gegen diese Angst hilft es, genauer zu wissen, was Folgeerkrankungen des Diabetes sind und wie sie sich entwickeln. Fast alle Folgeerkrankungen betreffen kleine Blutgefäße (z. B. der Nieren, Augen oder Füße ), der große Blutgefäße ( z. B. Herz, Gehirn, Beine ) und auch Nerven.
Die Gefäße, und dabei vor allem ihre Gefäßwände, verändern sich, wenn der Blutzucker über lange Zeit, d. h. über Jahre, zu hoch ist. Bluthochdruck, zu hohe Blutfettwerte, Übergewicht und vor allem Nikotin schädigen die Blutgefäße ebenfalls. Insgesamt kann es durch alle diese Risiken zum Verschluss kleinster und großer Blutgefäße kommen. Das von den Blutgefäßen versorgte Gewebe geht unter. Es braucht viele Jahre, bis solche Schäden spürbar werden. Durch Kontrolluntersuchungen, wie sie heute regelmäßig in den Diabeteszentren stattfinden, kann man bereits sehr frühe Veränderungen erkennen, Risiken erfolgreich behandeln und das Fortschreiten der Schädigung stoppen.
Deshalb sind die typischen Folgeerkrankungen des Diabetes heute bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland extreme Ausnahmen. Viele Menschen haben heute nach mehr als 50 Jahren mit Typ-1-Diabetes gesunde Blutgefäße, obwohl ihre Glukosewerte nicht immer normal waren.
Die modernen Therapien der letzten Jahrzehnte haben zu diesen hoffnungsvoll stimmenden Ergebnissen beigetragen. Anfang der 1990er Jahre wurde in der DCCT (Diabetes Control and Complications Trial)-Studie (1, 2) gezeigt, dass Folgeerkrankungen des Diabetes bei HbA1c-Werten über 7 % auftraten, besonders schnell und häufig aber bei HbA1c-Werten über 9 %. Deswegen wird seitdem ein HbA1c-Wert um 7 % angestrebt, der heute einer Zeit im Zielbereich von etwa 70 % entspricht. Der kleine Sohn von Familie M. mit einer Zeit im Zielbereich von 75 % ohne schwere Hypoglykämien ist damit sehr gut behandelt. Die Eltern können sehr zufrieden sein.
Im Jahr 2018 berichteten schwedische Autoren (3), dass die Lebenserwartung von Menschen mit Typ-1-Diabetes in einer landesweiten Studie 16 Jahre kürzer sei als die der Allgemeinbevölkerung. Diese sorgfältig durchgeführte Analyse bezog sich auf Menschen, die vor vielen Jahren und Jahrzehnten an Diabetes erkrankt waren. Während ihrer ersten Jahrzehnte mit Typ-1-Diabetes gab es keine Blutzuckerselbstkontrolle, keine intensivierte Insulintherapie, keine Insulinpumpen und das HbA1c wurde auch erst in den 1980er Jahren eingeführt.
Man kann davon ausgehen, dass ihre Blutzuckerwerte oft weit von normalen Werten entfernt waren. Bei genauer Betrachtung der Ergebnisse zeigte sich aber auch, dass nicht nur erhöhte Blutzuckerwerte mit Folgeerkrankungen verbunden waren, sondern auch andere Risiken für die Blutgefäße wie Übergewicht, Bluthochdruck, zu hohes LDL-Cholesterin und Nikotin. Ohne diese zusätzlichen Risiken war die Lebenserwartung der Menschen mit Typ-1-Diabetes nur wenig verkürzt gegenüber Menschen ohne Diabetes.
Eltern, die darauf achten, dass ihr Kind mit Diabetes Freude an Bewegung hat, normalgewichtig bleibt, nicht raucht und sich ausgewogen ernährt, machen bereits alles richtig – auch wenn die Glukosewerte mal wieder machen, was sie wollen. Das bestätigen auch die Menschen der "Goldenen Kohorte", einer großen Gruppe von Menschen mit mehr als 50 Jahren Typ-1-Diabetes, die sich in Boston an Forschungsprojekten zum Diabetes beteiligen (4). Sie zeigen eindrucksvoll, dass man mit Typ-1-Diabetes lange gesund und erfolgreich leben kann.
Heute nutzen fast alle Kinder und Jugendlichen mit Diabetes Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM), viele bereits ein System zur automatisierten Insulindosierung (AID). Das war noch vor fünf Jahren kaum vorstellbar. Auch in komplizierten Situationen gelingt es nun, die Glukosewerte viel stabiler zu halten als zuvor. Es sind bereits noch bessere Behandlungen am Horizont zu erkennen. In weiteren fünf oder zehn Jahren wird Diabetes noch einfacher erfolgreich zu behandeln sein. Der kleine Sohn der Familie M. wird sich dann vielleicht auf sein Abitur vorbereiten können, ohne sich große Sorgen um seinen Diabetes machen zu müssen.
Damit Kinder sich und ihren Diabetes in Zukunft als Erwachsene gut behandeln, sollten Eltern sie mit Hoffnung und Zutrauen darauf vorbereiten. Wie alle Kinder sollten sie selbstbewusst und seelisch stabil sein, sich für ihre Interessen und Bedürfnisse einsetzen können, und eine stabile Identität entwickeln, bei der Diabetes höchstens eine Nebenrolle spielt.
Wenn Kinder mit Diabetes altersgemäße Hobbys haben, sich für Ziele einsetzen und am sozialen Leben teilhaben, beim Sport, in der Musik oder anderem, ist der erste Schritt auf dem Weg der Persönlichkeitsentwicklung getan. Freunde sind wichtig, und das Vertrauen, dass man sich im Notfall gegenseitig hilft. Dazu gehört auch die Chance, selbstständig zu werden und nicht dauernd direkt oder aus der Ferne überwacht zu werden. Abhängig vom Entwicklungsstand sollten Kinder mit Diabetes schrittweise lernen, selbst Probleme zu lösen, aus Fehlern zu lernen und Misserfolge zu bewältigen.
Viele Eltern sind überrascht, wie gut sich ihr Kind selbst helfen kann, wenn sie es nur lassen – selbstverständlich ohne es ganz allein zu lassen. Versuchen Sie, Ihrem Kind Mut zu machen, statt zu schnell Hilfe anzubieten oder ungefragt dessen Aufgaben zu übernehmen. Nur Erfolge, die mit eigener Anstrengung erreicht wurden, machen stark.
Auch wenn Kinder nicht alles tun, was wir ihnen sagen, machen sie umso mehr von dem nach, was wir ihnen vorleben. Das gilt auch für Ängste. Je ängstlicher wir mit dem Diabetes umgehen, z. B. unglücklich oder verzweifelt bei zu hohen Glukosewerten reagieren, umso unsicherer werden auch Kinder, selbst wenn sie als Kleinkinder unsere Worte noch nicht richtig verstehen. Achten Sie einmal darauf, was sie automatisch denken oder fühlen, wenn das CGM einen zu hohen oder zu niedrigen Wert anzeigt. Ist es Trauer oder Resignation? Oder können Sie sagen: "Gut, dass ich den Wert sehe und weiß, was ich tun kann, um meinem Kind zu helfen."
Der Optimismus vieler Menschen, die heute mit Diabetes aufwachsen und leben, ist durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Fortschritte der letzten Jahre gut begründet.
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