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Sicher ist es völlig realitätsfern, den Diabetes als Glück oder positives Lebensereignis erleben zu wollen. In den vielen Jahren der Begegnungen mit Menschen mit Diabetes aller Altersgruppen hat mir noch nie jemand berichtet, dass sein Leben allein durch den Diabetes eine positive Wendung genommen hat. Akzeptanz ist also sicher etwas ganz anderes, als den Diabetes gutzuheißen. Trotz großer Fortschritte in der Diabetestherapie und der Diabetestechnologie ist die Stoffwechselstörung immer noch ein "Fulltime-Job", der keinen Urlaub von den vielen täglichen Aufgaben zulässt.
Auch Frustrationen gehören dazu, wenn die Gewebeglukosewerte mal wieder den Zielbereich verlassen, obwohl alle Therapieregeln genau eingehalten und sogar die Mahlzeiten abgewogen wurden. Das kennen Eltern von Kleinkindern mit Diabetes nur zu gut – es gibt Tage, da kann man machen, was man will, die Glukosewerte sind einfach nicht im Zielbereich zu halten.
Intensive Emotionen von Kleinkindern und damit verbundene hormonelle Reaktionen lassen sich weder vorhersehen noch steuern. Freude, Aufregung und Trotzanfälle gehören zum Alltag von Kindern und spiegeln sich in den Schwankungen der Glukosewerte wider.
Aber auch in den folgenden Jahren und Jahrzehnten werden die Glukosewerte nicht immer so sein wie eigentlich berechnet, weil das wahre Leben komplizierter und komplexer ist als die gegenwärtigen Modelle zur Berechnung von Insulindosierungen. Dies sollten Betroffene und Angehörige akzeptieren, ohne sich deshalb unbegründet Vorwürfe zu machen oder gar Schuldgefühle zu entwickeln.
Inzwischen gibt es immer mehr Menschen, die sehr lange, oft über 50 Jahre, und ohne körperliche Beeinträchtigungen mit Typ-1-Diabetes leben. Fragt man sie nach ihrer Form der Akzeptanz, antworten sie oft, dass der Diabetes schon immer zu ihrem Leben gehört hat und die Behandlung eben Teil ihres Alltags ist.
Sie machen sich keinen Kopf darüber, dass der Sensor oder der Katheter schon wieder gewechselt werden muss, es ist wie Haarpflege oder Geschirrabwaschen: macht keinen Spaß, muss aber sein. Gleichzeitig haben sie sich Routinen angewöhnt, über die sie nicht mehr nachdenken, z. B. nie ohne Traubenzucker unterwegs zu sein.
Und diejenigen, bei denen der Diabetes schon im Kleinkindalter aufgetreten ist, finden ihr Leben normal, weil sie sich bewusst an kein anderes erinnern. In der Rückschau sind sie ihren Eltern sehr dankbar für die engagierte Behandlung, die bei weitem nicht so gut möglich war wie heute, vor allem aber für eine normale Kindheit mit und nicht "für" den Diabetes. Besonders geholfen haben ihnen eine altersgemäße Erziehung zur Selbständigkeit sowie der Verzicht auf übertriebenes Mitleid und "in Watte packen".
Und trotz der eingespielten Routine haben auch diese "Diabetes-Profis" ab zu Phasen, in denen der Diabetes einfach nur nervt. Das ist auch für sie normal.
Es gibt ebenso viele gute Gründe, den Diabetes nicht zu akzeptieren, wie es unterschiedliche Menschen gibt. Besonders häufig sind es Gedanken und Ansprüche an sich selbst, die man mit dem Diabetes und seiner Behandlung verbindet. Der griechische Philosoph Epiktet (um 50 – 138 n. Chr.) formulierte dazu: "Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen."
Ein typisches Beispiel dafür sind Schuldgefühle, weil Eltern meinen, zum Diabetes ihres Kindes beigetragen zu haben. Wir wissen heute, dass Eltern nichts falsch gemacht haben können, was zum Diabetes ihres Kindes geführt haben könnte. Weder besondere Ernährungsgewohnheiten, belastende Lebensereignisse oder Stress im Kindesalter spielen eine Rolle, wenn es um die Diabetesmanifestation geht.
Selbst wenn ein Elternteil selbst Diabetes hat und dessen Kind deshalb ein etwas erhöhtes Risiko hat, sind Schuldgefühle nicht angebracht. Die meisten Kinder von Menschen mit Diabetes entwickeln selbst nie einen Diabetes. Es ist auch hier ein Zufall, wenn ein Kind Diabetes bekommt.
Einige wenige Eltern erleben die Erkrankung ihres Kindes in übertragenem Sinn als ("göttliche") Strafe für irgendein Fehlverhalten. Zum Glück gehören diese – oft religiösen – Vorstellungen heute weitestgehend der Vergangenheit an. Eltern, die sich kaum von solchen Schuldgefühlen lösen können, sollten ihre Diabetesteams zunächst um Informationen über die Ursachen des Typ-1-Diabetes und psychologischen Rat dazu bitten, wie sie sich von solchen Gefühlen lösen können.
Ein anderes typisches Beispiel für ungünstige Gedanken sind Gefühle der Minderwertigkeit, weil das Kind nun nicht mehr so perfekt ist wie bei der Geburt erträumt. Die Vergleiche mit gesunden Gleichaltrigen und das Mitleid der anderen Mütter tun weh. Wenn man aber etwas genauer hinsieht, ist kaum ein Kind so perfekt, wie es uns die Medien gerne vermitteln.
Eltern kann es helfen, auf die Stärken des eigenen Kindes zu schauen, die Freundlichkeit, den Entdeckergeist, die Kreativität, die Lebensfreude. Der Diabetes ist da, aber er steht im Hintergrund. Und gegen unangemessen mitleidige Kommentare helfen Selbstbewusstsein und etwas Vorbereitung: Überlegen Sie sich schon einmal eine gute Reaktion darauf, wenn andere Eltern "das arme Kind mit dem schweren Zucker" von oben herab bemitleiden. Ihr Kind wird heute mit den modernsten Technologien behandelt, die Sie als Eltern sicher beherrschen, sodass Ihr Kind ganz normal aufwachsen kann.
Ein weiteres Beispiel für ungünstige Gedanken sind eigene Ansprüche an Perfektion. Wenn Sie jeden zu hohen oder zu niedrigen Glukosewert bei Ihrem Kind vermeiden wollen, können sie nur scheitern, selbst wenn Ihr Kind gar keinen Diabetes hat. Schwankungen sind normal und ein Time in Range von 70 Prozent wird als sehr gute Stoffwechseleinstellung beschrieben.
Dies bedeutet, dass auch bei einer sehr guten Behandlung etwa 30 Prozent der Werte eines Tages zu hoch oder etwas zu niedrig sein können. Bereits bei diesen Werten geht man davon aus, dass Kinder vor Komplikationen in der Zukunft geschützt sind.
Schauen Sie gelassen auf die zu hohen und zu niedrigen Werte, und besprechen Sie in Ruhe und ohne schlechtes Gewissen mit Ihrem Diabetesteam, was gegebenenfalls verbessert werden kann. Hektische Reaktion auf jeden erhöhten Wert helfen dagegen wenig, sie führen oft zu noch größeren Schwankungen und beunruhigen Ihr Kind unnötig.
Einige Eltern werden durch große Ängste um die Zukunft ihres Kindes und besonders vor Folgeerkrankungen belastet. Vielleicht haben sie in ihrem Umfeld auch Personen kennengelernt, die durch den Diabetes dialysepflichtig oder blind geworden sind. Diese Schicksale lassen niemanden kalt, jedoch sind sie oft die Folge der unzureichenden Therapien vor 30 und mehr Jahren.
Die Zukunftschancen der Kinder, die heute an Diabetes erkranken, sind dank neuer Technologien deutlich besser. Noch vor fünf Jahren hat kaum ein Diabetesprofi damit gerechnet, dass heute fast alle Kinder und Jugendlichen mit Diabetes mit einem CGM-System ausgestattet sein werden.
Und der schnelle Fortschritt auf dem Weg zum Closed-Loop, d. h. einer automatisch gesteuerten bedarfsgerechten Insulinabgabe über eine Insulinpumpe, wird weitere Erleichterungen und Verbesserungen bringen. Es gibt also allen Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen. Bleiben Sie auch hier am Ball, und nehmen die guten Chancen wahr.
Der Austausch mit anderen Eltern, deren Kinder auch an Diabetes erkrankt sind, kann sehr entlastend und humorvoll sein. Die Briefe an Nadine auch in diesem Heft auf Seite 30 sind wunderbare Beispiele dafür, wie Eltern den Tücken des Alltags mit Diabetes mit einem Lächeln begegnen können.
Demgegenüber gibt es in manchen Foren im Netz immer wieder Eltern, die anderen vermitteln, dass sie nicht genug oder das Falsche tun. Man hat fast den Eindruck, dass es um Wettkämpfe in den Disziplinen "Time in Range" oder "HbA1-Wert" geht. Dabei wird vergessen, dass jedes Kind seinen individuellen Diabetes hat und erfahrene Diabetesteams die passende Behandlung für jedes Kind auswählen. Das ist wie bei Jeans, es gibt nicht das eine, für alle optimale Modell, sondern sehr viele verschiedene Modelle und Größen.
Kurz nach der Diabetesdiagnose kommt vielen Eltern der Gedanke, dass alles nur ein böser Traum gewesen sei. Sie hoffen, dass der Albtraum bald vorbei ist und das Leben wie zuvor laufen kann. Auch das ist völlig normal – jeder Mensch braucht Zeit, um sich von alten Gewohnheiten und Zielen zu lösen. Auf Dauer werden solche Wünsche und Ziele aber zu einer wachsenden Belastung, weil sie nie erreicht werden können.
Was kann helfen? Schauen Sie zunächst auf das, was bleibt – die Freunde, die Hobbys, die Schule, der Sport und viele andere Dinge, die Ihr gutes Leben ausmachen. Und dann schauen Sie ohne Groll auf das, was wegen des Diabetes notwendig ist, und bauen dies möglich gut in den Alltag ein. Regelmäßige, ausgewogene Mahlzeiten, etwas weniger Snacken, das tut allen Familienmitgliedern gut.
Andere Therapieschritte, z. B. Sensor- oder Katheterwechsel, Insulindosisberechnung oder KE-Schätzen, sollten zur Routine werden, d. h. einfach machen, ohne sich darüber jedes Mal zu ärgern, zu grämen oder das Kind übertrieben zu bemitleiden.
Die Integration des Diabetes als selbstverständlichen Teil des bisherigen Lebens ist ein hilfreicher Weg, um so hoffnungsvoll mit dem Diabetes umzugehen, wie die Menschen, denen es nach 50 Jahren mit Diabetes körperlich und psychisch sehr gut geht. Diese Form der Akzeptanz entspricht der letzten Stufe im Vier-Phasen-Modell der Bewältigung chronischer Krankheit (der Integration), das die Psychologin Patricia M. Fennell (2003) vorgestellt und zur Grundlage eines anerkannten therapeutischen Konzepts zur Bewältigung schwerer Erkrankungen gemacht hat.
Vielleicht konnte dieser Beitrag Ihnen ein paar Anregungen dazu geben, welche persönliche Form der Diabetesakzeptanz gut zu Ihnen und Ihrer Familie passt. Und dazu gehört auch, dass es immer einmal wieder Phasen gibt, in denen der Diabetes richtig nervt. Sollten Sie aber ständig das Gefühl haben, vom Diabetes beherrscht und überfordert zu werden, dann scheuen Sie sich nicht, Ihr Diabetesteam um Unterstützung zu bitten.
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