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Diabetes als „Volksseuche“ bezeichnen – noch dazu noch vor einem Publikum, das zu einem großen Teil selbst aus Menschen mit Diabetes besteht? Das geht gar nicht, findet Diabetes-Journal-Chefredakteur Günter Nuber. Denn auch Worte haben Macht und beeinflussen uns und unser Handeln.
Auf der „Diabetes-Charity-Gala“, der großen jährlichen Spenden-Gala im Oktober in Berlin, ging ein Raunen durch die Menge (450 geladene Gäste): In einem eingespielten Filmbeitrag über ein Spendenprojekt war die Rede von der „Volksseuche Diabetes“.
Das gleiche Raunen hörte ich erneut bei der Eröffnung der Herbsttagung 2019 der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) am 8. November in Leipzig: Der Präsident der Sächsischen Landesärztekammer sprach vor über 1.000 Gästen von der „Volksseuche Diabetes“. Schwer vorstellbar, dass die Redner jeweils das meinten, was bei den Zuhörenden ankam.
Klar ist, dass sich die beiden Sprecher nicht im Ansatz auseinandergesetzt hatten mit der Wirkung, mit dem Gefühl, das ihre Worte erzeugten: Einem Menschen auf den Kopf zuzusagen, dass das, womit er lebt, Teil einer Seuche ist? Grässlich!
Auf derselben Eröffnungsfeier in Leipzig sprach Dr. h.c. Friedrich Schorlemmer, evangelischer Theologe, Bürgerrechtler, Autor („WORTmacht und MACHTworte“) am Rande auch über die Wortwahl. Es sei falsch, vom „Mauerfall“ vor 30 Jahren zu sprechen: „Die Mauer ist nicht gefallen, sie war noch ziemlich fest.“ Sie sei überwunden worden oder eingedrückt an manchen Stellen. „Maueröffnung“ sei das bessere Wort.
Konkreter an die im Raum versammelten Ärzte, Diabetesberaterinnen gerichtet – Diabetologen direkt benannt –, sagte er sinngemäß: Diabetologen wollen wertgeschätzt werden, also müssen sie auch dem Gegenüber Wertschätzung entgegenbringen. Das menschliche Klima muss stimmen, man muss aufeinander achten, dann wird man selbst auch beachtet.
Und: Die Perspektive soll immer wieder gewechselt werden, egal, auf welcher gesellschaftlichen Leistungsstufe man selbst steht. Das fachliche Miteinander muss stimmen – aber freilich auch das menschliche. Einfach stark!
Meine Verblüffung und das Gefühlsbad perfekt machte auf der Eröffnungsveranstaltung die Medienpreisverleihung der DDG: Der Preis in der Kategorie Online ging an Bloggerin Antje Thiel (suesshappyfit.blog) – und raten Sie, wie ihr ausgezeichneter Artikel lautet? „Schluss mit negativer Sprache …“ Kostprobe für Sie: Schlecht eingestellte Diabetiker, fehlende Therapietreue, Diabetiker einer Lebensstilintervention zuführen: „… wie Menschen mit Diabetes angesprochen werden, kann ihr Selbstbild und die Haltung zu ihrem Diabetes beeinflussen“.
Antje erklärt, inwiefern uns andere Länder hier voraus sind, sie bringt Beispiele und listet Unwörter in der Diabeteskommunikation auf – inklusive Verbesserungsvorschläge („mit Diabetes leben statt an Diabetes leiden“, „Diabetesmanagement statt Diabeteseinstellung“ …). Gut so!
Mir selbst stockte jeweils der Atem bei dem Wort Volksseuche. Aus meinem Blickwinkel ist aber vor allem das Raunen interessant, mit dem die jeweils große Zuhörerschar ihre Missbilligung ausdrückte: Viele der Anwesenden sind halt doch längst sprachsensibler. Oder nehmen wir die Vergabe des Medienpreises ihrer Fachgesellschaft DDG an eine Autorin, die genau jene Worte kritisiert, die viele der Mitglieder wohl noch immer verwenden – das zeigt auch Fähigkeit zur Selbstkritik.
Die Zeiten und die Sprache ändern sich, die Diabetologie hat sich auf den Weg gemacht. Unsere Zeiten, unsere Sprache ändern sich schnell. Darauf und aufeinander müssen wir achten. Interviewpartnerin Nicole Jäger sagt: „Ich hasse das Wort Diabetiker!“ Eine Diabetes-Journal-Umfrage des Jahres 2016 (880 Personen nahmen teil) ergab noch: 72 Prozent sagten: „Ich bezeichne mich als Diabetiker“, 21 Prozent nannten sich „Mensch mit Diabetes“.
von Günter Nuber
Chefredaktion Diabetes-Journal, Kirchheim-Verlag,
Wilhelm-Theodor-Römheld-Straße 14, 55130 Mainz,
Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90,
E-Mail: redaktion@diabetes-journal.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2019; 68 (12) Seite 35
5 Minuten
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