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Ein Rundschreiben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW, LV Rheinland-Pfalz, Landesfachgruppe Grundschulen) sorgt für Empörung (siehe DJ 8, Blickwinkel): Darin wird den Gewerkschaftsmitgliedern nahegelegt, medizinische Hilfsmaßnahmen für Kinder mit Diabetes abzulehnen. Oliver Ebert mit einer Einordnung.
Der Diabetes bringt bei Kindern oft auch in Kindergarten und Schule große Probleme mit sich. Wenn das Kind noch nicht den Blutzucker messen bzw. Insulin spritzen kann, stehen Eltern vor einem Dilemma: Sie können bei Krankenkasse oder Integrationsamt eine Begleitperson beantragen. Aber selbst mit einer solchen Unterstützung ist kaum eine optimale Betreuung möglich, denn oft stehen Begleitperson oder Pflegedienst nur zeitweise zur Verfügung.
Vielerorts ist es schwierig, überhaupt qualifizierte Personen zu finden. Hinzu kommt: Wenn ein Pflegedienst am Tag mehrmals in eine Schule fahren soll zum Blutzuckermessen etc., steht der Zeitaufwand selten in angemessenem Verhältnis zu den Gebührensätzen der Krankenkassen.
Meist sind Lehrer engagiert und übernehmen Überwachungs- und Hilfsaufgaben. Sie ermöglichen so praktische Inklusion (Eingliederung) und übernehmen die Aufgabe des Staates: Denn nach der UN-Behindertenrechtskonvention haben Kinder und Jugendliche das Recht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu einer ortsnahen Regelschule.
Für Empörung sorgtdaher ein Rundschreiben der GEW, Landesverband Rheinland-Pfalz, Landesfachgruppe Grundschulen. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte Lehrer zuvor aufgefordert, sich im Umgang mit Kindern mit Diabetes weiterzubilden. Betroffenenverbände, ehrenamtlich engagierte Ärzte bzw. Diabetesberaterinnen oder Krankenkassen bieten den Pädagogen hierzu vielerorts kostenlose Schulungen an.
Mit einem Rundschreiben wendete sich die GEW dagegen, solche “zusätzlichen Aufgaben, für die Fachkräfte erforderlich sind, auf Lehrkräfte abzuwälzen”. Die Gewerkschaft weist darauf hin, dass Lehrer nicht dazu verpflichtet seien, “medizinische Hilfsmaßnahmen an den betroffenen Kindern durchzuführen”.
Statt das Engagement vieler Lehrer zu loben, die freiwillige Aufgaben übernehmen, bzw. auch weitere Lehrer zu entsprechender Unterstützung zu motivieren, legt die GEW nahe, solche freiwilligen Tätigkeiten einzustellen: Hierbei handele es sich um eine fachfremde Leistung – auch nach erfolgter Anleitung und schriftlicher Vereinbarung.
Für die Erstversorgung sei die Teilnahme an Erste-Hilfe-Kursen ausreichend; Eltern von Kindern mit Diabetes sollten bei ihren Krankenkassen Pflegekräfte beantragen, da eine sichere medizinische Versorgung durch die Lehrkräfte nicht gewährleistet sei. Es folgt ein klarer Handlungsaufruf: “Wir empfehlen: Mut zum Ablehnen einer fachfremden Tätigkeit!”
Es ist zwar legitim, dafür zu kämpfen, dass von Lehrern zusätzlich übernommene Aufgaben angemessen vergütet werden bzw. die Lehrer hierbei hinreichend abgesichert sind. Wenn die GEW aber dazu aufruft, ihre Interessen auf dem Rücken behinderter Menschen durchzusetzen, dann ist das schlicht empörend. Allerdings – ohne dass ich dabei Verständnis für die GEW habe – könnte es neben den berufspolitischen Interessen vielleicht doch auch noch andere Gründe für deren Schreiben geben:
Lehrer sind keine Pflegekräfte und haben keine medizinische Ausbildung. Auch ein paar Stunden Schulung ersetzen nicht die mehrjährige Ausbildung, die in medizinischen Berufen vorausgesetzt wird. Wenn ein Lehrer freiwillig das Spritzen von Insulin übernommen hat, er dabei jedoch versehentlich einen Fehler macht und das Kind zu Schaden kommt, dann dürften die wenigsten Eltern Verständnis und Nachsicht zeigen. Womöglich muss der Lehrer sogar auch mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen, selbst wenn die Eltern im Vorfeld eine “Haftungsverzichtserklärung” unterzeichnet haben.
Betrüblicherweise ist es oft so,dass Eltern eine übertriebene Fürsorge an den Tag legen bzw. überzogene Forderungen stellen und von Schule und Lehrer erwarten, dass ihr Kind wegen des Diabetes bevorzugt behandelt wird. Oft wird gegenüber den Lehrern auch jegliches Maß an Höflichkeit und Respekt außer Acht gelassen; dazu wird leider selten versucht,den Lehrern deren ja gar nicht so unbegründete Ängste zu nehmen.
Dagegen wird vielfach überdramatisiert, was alles passieren kann, wenn der Blutzucker nicht rechtzeitig gemessen, nicht die richtige Insulinmenge gespritzt, zu viel oder zu wenig gegessen oder Sport gemacht wird. Auch ich habe häufig mit wirklich unangenehmen Eltern zu tun und kann mir gut vorstellen, warum die Lehrer bzw. die Schule dann mauern. Man braucht sich unter solchen Vorzeichen nicht zu sehr zu wundern, wenn Lehrer zögern, freiwillig irgendwelche zusätzlichen Risiken zu übernehmen.
Besonders schlimm fand ich den Fall einer Mutter, die “aus Prinzip” nicht die von der Schule erbetene Haftungsverzichtserklärung unterzeichnen wollte. Schule und Lehrer hätten sich um das Kind gekümmert; man wollte sich aber gegen Regressansprüche absichern, falls durch dieses freiwillige “Kümmern” etwas passieren sollte. Ich riet der Mutter, dies im Interesse des Kindes doch zu machen, denn selbstverständlich wären die Lehrer auch mit Haftungsverzicht nicht von jeglicher Sorgfaltspflicht im Umgang mit dem Kind befreit.
Trotzdem wollte die Mutter das “aus Prinzip” nicht akzeptieren. Das Kind musste daher auf eine 10 km entfernte Schule wechseln. Da dort die Lehrer zum Messen und Spritzen aber überhaupt nicht bereit waren, wurde letztlich eine Begleitperson bzw. der Einsatz des Pflegedienstes notwendig.
Aufseiten der Eltern ist dringend erforderlich, dass man den Lehrern Ängste nimmt und keine übertriebenen Forderungen stellt; man sollte sich bei engagierten Lehrern auch ruhig einmal bedanken. Umgekehrt haben Lehrer neben dem Bildungsauftrag auch eine Fürsorgepflicht für die ihnen anvertrauten Kinder; sie sind Angestellte oder Beamte des Staates und müssen auch für ihren jeweiligen Bereich dafür bestmöglich beitragen, dass die staatliche Verpflichtung zurInklusion behinderter Menschenerfüllt werden kann.
Berufspolitische Interessen sollten nicht über sozialem Engagement und Mitmenschlichkeit stehen. Und schließlich muss natürlich auch von staatlicher Seite dafür gesorgt werden, dass Lehrer hinreichend abgesichert sind und den Schulen das für eine erfolgreiche Inklusion erforderliche Personal bzw. die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen.
von Oliver Ebert
REK Rechtsanwälte
Nägelestraße 6A, 70597 Stuttgart oder
Friedrichstraße 49, 72336 Balingen
E-Mail: Sekretariat@rek.de
Internet: www.diabetes-und-recht.de
Erschienen in: Diabetes-Journal, 2017; 66 (10) Seite 58-59
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